[27] • Ein Strand aus Kieselsteinen
»Also, dat kriegen wa so schnell nicht wieder uf die Reih'.« Mit einem Ächzen richtete sich der stämmige Mittfünfziger in Latzhose, der sich uns als Günther vorgestellt hatte, wieder auf und klappte die Motorhaube des kleinen Autos zu, das ich eben noch so liebevoll mit Benzin gefüttert hatte. Das Geld hätte ich mir wohl sparen können. »Sieht us, als wär' die Kraftstoffpumpe hinüber. Ich werd' euch wohl mitnehmen müss'n.« Im Kopf überschlug ich, wie viele Bum-Bum-Eispackungen ich mir statt der Tankladung hätte kaufen können. Genug, um Bauchschmerzen zu bekommen.
Ich stieß einen genervten Seufzer aus und richtete meinen Blick gen Himmel. Die dicken Wolken hingen nun genauso träge, wie ich mich seit einer knappen Stunde fühlte. Allerdings waren sie in dem Zustand immer noch schneller unterwegs als wir. Da zogen sie langsam dahin mitsamt meinen Plänen fürs Wochenende. Jasper und mir blieb nichts anderes übrig, als im leuchtenden Neongelb hinter der Leitplanke zu stehen und den schlechten Nachrichten zuzuhören, die uns Günther da gerade auftischte. Ich hatte extra nach einem Anbieter gesucht, der im nächsten Ort seinen Sitz hatte. Der Trost über die dementsprechend schnelle Rettung war jedoch schnell verflogen, da die Tatsache, dass wir so oder so nicht vorankamen, um einiges mehr Gewicht hatte.
»Ich häng euch jetz uf und fahr euch dann zur nächsten Werkstatt. Der Mattin, mein Schwager, kriegt dat sicher ratzfatz wieder hin.« Ich klammerte mich regelrecht an dieses Fitzelchen Hoffnung, das mir da geboten wurde, allerdings reichte der Optimismus nicht aus, um meine abgesackten Schultern wieder anzuheben. Ich würde mich erst wieder an einer aufrechten Haltung probieren, wenn wir endlich weiterfahren konnten. Bis dahin blieb ich bei meinem Rundbogenrücken und dem missmutigen Gesichtsausdruck.
Wie Jasper über unser Unglück dachte, konnte ich nicht ganz an ihm ablesen. Zumindest wirkte er recht entspannt, wahrscheinlich war er von uns beiden der ruhige Part, der davon ausging, dass sich alles irgendwie geben wird. Ich war da von Grund auf eher skeptisch veranlagt.
»Dann gehe ich mal das Warndreieck einsammeln«, sagte Jasper, während Günther das Auto zum Abschleppen bereit machte.
»Sei bitte vorsichtig«, bat ich ihn und hielt ihn kurz am Ärmel seines Pullis fest, bevor er sich von mir entfernen konnte. Das Warndreieck stand in einiger Entfernung auf dem Standstreifen. Mir hatte es schon eben nicht gefallen, als er fürs Aufstellen den fahrenden Autos entgegengelaufen war, die pausenlos an uns vorbeirasten. Dass er den Weg jetzt noch einmal auf sich nehmen musste, brachte das unwohle Grummeln in meinem Bauch wieder zurück. »Geh wenn möglich hinter der Leitplanke.«
»Mach ich«, versicherte er mir, hob mit zwei Fingern mein Kinn an und platzierte einen federleichten Kuss auf meiner Schläfe. Dann tapste er davon. Ich schaute ihm eine Zeit lang hinterher und beobachtete zufrieden, wie er meiner Bitte folgte und auf der unebenen Wiese vorwärts taumelte. Das Kribbeln an der Stelle, wo eben noch seine Lippen verweilt hatten, streckte sich über mehrere Kaugummisekunden. Es konnte allerdings nicht den Ärger aufhalten, der angesichts unserer jetzigen Situation schnell zurückgekrochen kam. Insgeheim hatte ich mit kleinen vorgefertigten Erinnerungen gespielt. Mit dem Meersalz zwischen den Zehen, dem Sand in den Haaren. Ich befürchtete, dass ich mir das nicht zu eigen machen konnte, dass diese Gespinste erträumter Erlebnisse vorerst auch welche bleiben würden.
Es kam mir vor, als würde mich jedes vorbeifahrende Auto verspotten und die Menschen darin bemitleiden. Gleichzeitig war jeder von ihnen froh, dass sie nicht diejenigen waren, die an der Seite standen und dem Verkehr zugucken mussten. Dass sie sich noch auf der Zielgeraden befanden, während ich ausgebremst auf Hilfe anderer angewiesen war. Widerwillig schaute ich mit an, wie unser fahrunfähiger Untersatz mit Schlaufen und Haken befestigt auf die Ladefläche des Abschleppwagens gehoben wurde. Dieser Anblick klatschte mir die ernüchternden Fakten noch ein wenig härter ins Gesicht.
Das Einzige, was mich hier noch beruhigte, war Jasper, der langsam mit dem Warndreieck in der Hand zu mir zurückgeschwankt kam. Fast wäre er über eine herausragende Wurzel gestolpert und es tat mir ein bisschen leid, dass er nur wegen meiner Bitte dem Weg folgte, der gerade beinahe gefährlicher wirkte als der flachgewalzte Asphalt. Doch schon bald stand er wieder heil neben mir und nur das hatte ich bezwecken wollen.
Als ich mich zurück zu unserem Desaster wandte, saß das Auto bereits bombenfest auf dem Rücken des Transporters. Es waren vielleicht gerade einmal zehn Minuten vergangen. Wir hatten so lange auf dieses Wochenende gewartet und so ein kurzer Moment reichte aus, um alles wieder ins Wanken zu bringen.
»Dann steigt ma' ein, ihr zwei.« Günthers gute Laune wehte mir ungehindert entgegen und ich zwang meine Mundwinkel noch ein Stück weiter nach unten.
Jasper legte mir eine Hand in den Rücken. »Na komm.« Seine Stimme war wirklich ein Allheilmittel. Oder vielleicht wurde ich auch Opfer seiner homöopathischen Wirkung, die ich mir mit der Zeit immer stärker einbildete. So oder anders, dieses eine kleine Glückshormon in meinem Blut war sicher ihm zu verdanken.
Reichlich unelegant kletterte ich über die Leitplanke zurück auf den Standstreifen und steuerte die Beifahrerseite des Wagens an. Ich öffnete die Tür und ließ Jasper den Vortritt, da ich nicht in der Stimmung war, mit dem Typen, der gerade an uns Geld verdiente, auf einem Dreiersitz gequetscht mehr Körperkontakt als nötig zu teilen. Klar war ich ihm auch dankbar dafür, dass er uns von der Autobahn herunterholte, aber das schaffte ich nicht über meine schlechte Laune hinaus zum Ausdruck zu bringen. Jasper kletterte voraus und rutschte neben Günther, der bereits das Radio aufgedreht hatte und fröhlich eine falsche Melodie dazu pfiff. Ich kletterte hinterher und knallte die Tür zu. Günther startete das Auto und ich hatte den Eindruck, der Motor heulte extra laut auf, um mir zu zeigen, wie sich ein gesundes Fahrzeug anhörte.
Für die gesamte Fahrt war Jasper Günthers Smalltalk ausgesetzt. Ich war ihm dankbar, dass er das Reden übernahm, denn meine Lust dafür war gelinde gesagt nicht existent. Kein einziges Wort kam mir über die Lippen. Stattdessen beobachtete ich die Landschaft an uns vorbeiziehen und musste hilflos mit ansehen, wie wir die nächste Ausfahrt nahmen. Es versetzte mir einen kleinen Stich, dass wir nun tatsächlich diese nicht geplante Richtung einschlugen. Ich hätte am liebsten protestiert oder die Route neu berechnet wie ein hartnäckiges Navigationsgerät. Ob Günther wohl Lust auf einen Ausflug ans Meer hatte? Ich traute mich nicht zu fragen.
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Es stellte sich heraus, Martin, wie man ihn auf Hochdeutsch nannte, kriegte das nicht so schnell wieder hin, wie Günther es prophezeit hatte. Nicht ratzfatz, nicht in ein paar Stunden, nein, er musste ein Ersatzteil bestellen. »Wenn wa Glück haben, dann is' dat morje da und euer Auto is' geje Abend für d' Weiterfahrt bereit«, hatte er dann genuschelt. Für die Heimfahrt wohl eher, hatte ich direkt in Gedanken korrigiert.
Während in mir das letzte Stück Hoffnung in all seine Einzelteile zersprang und mit den bauschigen Wolken davongetragen wurde, hatte Günther die nächste glorreiche Idee. Er bot an, uns zu einem Campingplatz ganz in der Nähe zu fahren, der, wie sollte es auch anders sein, von Onkel und Tante betrieben wurde. Langsam war ich mir sicher, hinter all dem steckte ein ausgeklügeltes Konzept. Doch uns blieb nichts anderes übrig, als das Angebot dankend anzunehmen.
»Das ist doch ein abgekartetes Spiel. Hier wird man von einem Familienangehörigen zum nächsten gereicht und jeder verdient an uns Kohle«, machte ich meinem Ärger Luft, als Jasper und ich endlich wieder unter uns waren. Vollbepackt bis unter die Achseln standen wir vor dem Eingang des Campingplatzes – dem Falschen natürlich. Von hier aus waren es nicht fünf Minuten, sondern mehrere Tage Fußweg bis zum Strand.
»Wahrscheinlich hat auch irgendein entfernter Verwandter unser Auto an der Tankstelle manipuliert, um den Hexenzirkel in Gang zu setzen«, mutmaßte Jasper und brachte erstmals wieder das Lächeln zurück in mein Gesicht. Es fühlte sich fast schon ungewohnt an und gleichzeitig so befreiend wie ein tiefer Atemzug.
»Man müsste ihnen zugestehen, das wäre eine ziemlich gute Masche. Und kurz bevor wir fahren, möchte uns dann noch eine Cousine dritten Grades eine neue Autoversicherung andrehen«, leistete ich meinen Beitrag zu der Verschwörungstheorie. Jasper lachte.
Im nächsten Moment rutschte mir der Jutebeutel mit den Essensvorräten von der Schulter und zwei Mandarinen kullerten über den Boden davon. Der Spaß über das kuriose Geschäftsmodell, das Jasper und ich uns gerade zusammenspannten, rollte hinterher und in mir machte sich wieder der Unmut breit. Der nächste Seufzer stand schon in den Startlöchern. Jasper blieb das nicht verborgen.
»Leonie, wir haben noch uns. Wir haben immer noch die Möglichkeit, aus diesem Wochenende etwas Schönes zu machen.«
Auch wenn seine Worte in meinen Ohren so wohltuend klangen, ich konnte nicht anders, als daran zu denken, welche Aussicht uns eigentlich heute erwartet hätte. Dass ich vielleicht Jasper einen kleinen Wunsch hätte erfüllen können, hätte ich es geschafft, uns ans richtige Ziel zu bringen. Doch das hatte ich nicht und ich befürchtete auch, keine weitere Möglichkeit mehr dafür zu bekommen. Jasper hatte nicht umsonst das Basketballspielen an den Nagel gehangen. Es war nicht einfach für ihn, Zeit für so einen Ausflug freizuschaufeln. Und mir rannte einfach langsam die Zeit davon. Wiederum hatte Jasper auch recht. Hätte, hätte, Kraftstoffpumpe futsch. Wir hatten dieses Wochenende. Wir hatten uns. Und ich hoffte, das genügte.
»Hast du genug Optimismus für uns beide?«, fragte ich im Scherz, wobei ich mir gut vorstellen konnte, dass auf unser Unglück noch Weiteres folgen würde. Doch als ich in Jaspers Gesichts sah, war dieser Gedanke plötzlich nicht mehr allzu schlimm.
»Ja, ich denke, das müsste reichen«, versicherte er mir, sammelte die Mandarinen ein und ließ sie zurück in die Tasche plumpsen. Dann schaute er zu mir herunter. »Bereit?«
Ich nickte. Und so radierte ich all die Szenen aus, die ich viel zu voreilig auf meine Leinwand gezeichnet hatte, und ließ mich mit frischen Farben auf das ein, was uns von jetzt an erwartete.
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Der Campingplatz war weitläufiger als gedacht und nach einer weiteren herzlichen Begrüßung wurde uns ein Platz etwas abseits in der Nähe des großen Sees zugewiesen. Wir tauschten also endgültig Meersalz gegen Süßwasser und Sand gegen Kieselsteine. Doch als wir am Seeufer entlangliefen, das durchweg mit Schilfrohr bewachsen war, wurde mir klar, wie viel schlechter es uns hätte treffen können.
»Ich muss sagen, auf den ersten Blick gefällt es mir hier ziemlich gut«, sprach Jasper das aus, was mir gerade durch den Kopf ging.
»Es ist ein bisschen wie eine abgespeckte Version von unserem eigentlichen Ziel«, meinte ich. »Aber du hast recht, das ganze Drama wirkt bei der Umgebung gar nicht mehr so schrecklich.«
»Mit der Einstellung lässt sich arbeiten.« Ich schüttelte schmunzelnd den Kopf. Anscheinend hatte er wirklich noch genug Optimismus über.
Nach wenigen Minuten erreichten wir unser zugeteiltes Stück Wiese und ließen unsere Sachen fallen. Ich drehte mich einmal im Kreis herum und war überrascht, wie sehr sich das Ganze von meinen Vorstellungen zu einem Campingplatz unterschied. Statt zwischen zwei Zelten eingepfercht zu stehen, hatten wir genügend Platz für uns allein. Lediglich anhand der regen Geräuschkulisse im Hintergrund merkte man, dass man noch in Gesellschaft war. Ansonsten war die Anlage ausgelegt für ein bisschen mehr Privatsphäre. Unmengen an Bäume, Büsche und Sträucher trennten die Bewohner voneinander und ein schmaler Schotterweg schlängelte sich wirr übers Gelände. Um dahingehend wenigstens ein bisschen Organisation beizusteuern, gab es an jeder noch so kleinen Ecke einen Wegweiser, ohne die man hier wahrscheinlich hoffnungslos verloren gewesen wäre.
»An diesen Ausblick könnte ich mich gewöhnen«, bemerkte Jasper, der sich dem See zugewandt hatte. In nur ein paar Metern Entfernung schwappte das Wasser leise ans Ufer und ein Steg streckte sich weit hinein ins tiefe Blau.
Ich gesellte mich zu ihm und nahm mir ebenfalls einen Augenblick, um diesen Fleck Natur auf mich wirken zu lassen. Es war einfach, dabei das Meer zu vergessen, da der See seinen ganz eigenen Reiz hatte. Anstelle ungestümer Wellen lag das Wasser ruhig vor uns. Einmal mehr aufatmen.
»Vielleicht wurde uns zur Besänftigung eine extra schöne Stelle zugewiesen«, überlegte ich laut und ging heimlich dazu über, Jasper zu beobachten, dessen Augen immer noch in die Ferne gerichtet waren.
»Ich kann mich auf jeden Fall nicht beschweren.« Ich sah das sachte Lächeln um seinen rechten Mundwinkel. »Ich auch nicht.«
Nur langsam kehrten wir diesem schönen Anblick den Rücken zu und schauten wieder zu unserem Gepäck hinunter, das darauf wartete ausgepackt, aufgestellt oder ordentlich verstaut zu werden.
»Ich muss ein Geständnis machen«, eröffnete Jasper und suchte mit leicht gequälter Mine meinen Blick, während er die Einzelteile unseres Zeltes vor sich ausbreitete. »Ich habe nicht viel Ahnung vom Zelt aufbauen.«
Ich gluckste. »Mich brauchst du da gar nicht so zuversichtlich anzuschauen. Ich kann mich gar nicht mehr dran erinnern, wann ich das letzte Mal gezeltet habe. Und ich dachte, ich hätte es hier mit einem Profi zutun.«
»Warum das?«
»Keine Ahnung.« Ich setzte mich zu ihm auf den kühlen Rasen und inspizierte Stoff, Stangen und Heringe, denen leider keine Anleitung beilag. Ich fühlte mich in den Bastel- und Werkkurs zurückversetzt, in den mich meine Mutter mal vor einigen Jahren gesteckt hatte. Es war die gleiche Planlosigkeit von damals, die in mir aufkam. »Ich dachte du wärst einer dieser Draußen-Menschen.«
»Da muss ich dich enttäuschen«, antwortete Jasper, den die Utensilien wahrscheinlich genauso ratlos stimmten. »Das letzte Mal ist bei mir auch schon Ewigkeiten her«, sagte er dann, bevor er in einer etwas veränderten Tonlage hinzufügte: »Wenn gehörte das Zelt auch immer zu den Aufgaben meines Vaters.«
Die Stimmung war sogleich eine andere. Zumindest nach meinem Empfinden war die Luft um uns herum direkt um einige Grad kühler geworden, was aber vielleicht auch einfach in meiner Schocksekunde zu begründen war.
Es war das erste Mal, dass Jasper von sich aus seinen Vater auch nur erwähnte. Bisher war Lora die Einzige gewesen, die vor mir mal kurz von ihm gesprochen hatte, und ich glaubte immer noch, dass ihr Satz von damals nicht für meine Ohren bestimmt gewesen war, weshalb ich mich auch so verhielt, als hätte ich ihn nie gehört. Dennoch hatte er sich eingebrannt und leuchtete in roten Buchstaben vor meinen Augen wie ein Warnhinweis, dass ich mich diesem Thema entweder gar nicht oder nur mit immensem Fingerspitzengefühl annähern sollte. Wie ich jetzt auf Jaspers Worte reagieren sollte, wusste ich nicht genau. Sollte ich sie wieder überhören? Oder diesmal meine Sorgfalt zusammenkratzen und mich an dieses verschwiegene Thema wagen? Unsicher, was nun der richtige Weg war, versuchte ich irgendwie, ihm die Wahl darüber zu lassen, ob er nun daran anschließen wollte oder nicht.
»Und vom Zuschauen ist nichts hängengeblieben?« Unruhig fummelte ich an der Zeltplane und wollte die Frage so beiläufig wie möglich erscheinen lassen.
Es war etwas zwischen einem Seufzen und einem traurigen Lachen, was daraufhin über Jaspers Lippen rutschte. »Tatsächlich bemühe ich mich nicht sonderlich darum, diese Erinnerungen bei mir zu behalten.« Mit verzogenen Lippen, die wohl mit reichlich viel Einbildungskraft ein gleichgültiges Lächeln darstellen sollten, zuckte er einmal mit den Schultern, als wäre das alles nicht so schlimm, wie es sich anhörte.
Ich hatte eigentlich keine weitere Bestätigung gebraucht, dass es bei dem Geheimnis um seinen Vater nichts Schönes zu bereden gab. Doch dass er die Erinnerung an seinen Vater lieber vergessen wollte, während er alles dafür tat, die an seine Mutter zu erhalten, ließ mich heftig schlucken.
»Wenn du nicht, also du musst nicht-« Verzweiflung kroch mir den Rücken hinauf, weil ich einfach nicht die richtigen Worte fand. Mein Fingerspitzengefühl ließ mich ganz schön im Stich.
»Später«, erlöste Jasper mich, weil er sehr wahrscheinlich bemerkte, wie sehr ich mit mir am hadern war. Meine Finger verkrampften sich um den Saum meiner Jacke. Ich war wütend und enttäuscht von mir selbst, weil es mir anscheinend nie richtig gelingen wollte, einer Person das zu geben, was diese in jenem Moment gerade brauchte. Immer musste auf meine Unfähigkeit, mit der Situation umzugehen, Rücksicht genommen werden. Und es nervte mich. So sehr.
So saßen wir da und hingen für wenige Sekunden der Schwere der bisher unausgesprochenen Worte hinterher. Dann griff Jasper wieder zu den Stangenteilen, steckte zwei davon ineinander und bedachte mit zusammengekniffenen Augenbrauen die Schlaufen am eigentlichen Zelt.
»So also das muss jetzt hier durch?« Der ernste Unterton war aus seiner Stimme verschwunden. Ich versuchte, ihm nachzueifern, meine versteiften Finger zu lockern und zu unserer vorherigen Stimmung zurückzufinden. Äußerlich meinte ich es zu schaffen, wie Jasper auch, während ich mich innerlich auf später einstellte. Allerdings bezweifelte ich, dass man sich auf solche Gespräche vorbereiten konnte. Vor allem, wenn man so war wie ich.
»Vielleicht sollte ich mir eher Sorgen machen, dass wir des Nachts unter unserem eigenen Zelt begraben werden.«
Mein klägliches Bemühen um ein bisschen Humor wurde von Jasper mit einem echten Lächeln belohnt, was meinem Herzen sogleich ein Ventil gab, das unter dem Druck meiner vergebens gesuchten Worte litt.
»Ein bisschen Nervenkitzel schadet nie.« Ich musste grinsen. »Dann tob dich mal aus, du Abenteurer.«
Es kostete uns einige Anläufe, bis wir der Überzeugung waren, dass das Zelt nicht mit der nächsten Windböe in sich zusammensacken würde. Vielleicht aber mit der Zweiten. Erst als sich bereits rosafarbene Strähnen durch die Wolkenberge zogen, standen wir mit den Händen in den Hüften vor dem vollendeten Werk und betrachteten mit einem zufriedenen und einem zweifelnden Auge unseren Schlafplatz. Das zweifelnde Auge war allerdings zu müde, um noch Verbesserungsvorschläge zu geben, weshalb wir es dabei beließen und unsere Taschen innerhalb der schmalen vier Wände verstauten.
»Sollen wir uns noch ein bisschen umschauen gehen?«, schlug Jasper vor, als ich nach ihm wieder aus dem Zelt gekrochen kam.
»Gerne!«
Wir folgten dem schmalen Pfad an Bäumen, Büschen und anderen Zelten vorbei, an denen wir freundlich von weiteren Besuchern begrüßt wurden, und schlugen dann den Weg entlang des Sees ein. Unsere Gespräche hatten wieder die altgewohnte lockere Art, wobei der Gedanke an vorhin als stetiger Begleiter in meinem Kopf verharrte. Wir scherzten und lachten, doch trotzdem war da diese unterschwellige Furcht, dass diese freudige Stimmung so schnell kippen könnte, wie sie aufgekommen war. Erst pochte sie nur ganz leicht in mir, verschwand immer wieder, wenn ich Jaspers strahlende Augen sah, kam jedoch umso stärker zurück, als wir eine einsame Bank nah am Ufer ansteuerten. Jasper hatte vor eine Pause zu machen, die Aussicht zu genießen, die uns der See nun von der anderen Uferseite bot. Ein altes, abgewetztes Holzboot ragte aus dem Wasser heraus, von Schilf und Moos durchwachsen. Die untergehende Sonne tanzte glitzernd über die dunklen, schwachen Wellen, die flach die Kieselsteine zu unseren Füßen erreichten.
Die Anspannung zog sich durch meine Muskelfasern. Doch ich wollte mich nicht davon beherrschen lassen. Ich wollte Jasper diesmal deutlich machen, dass er mit mir reden konnte. Dass ich zuhörte, wenn er das wollte. Allerdings musste ich dafür selbst erst einmal den Mund aufmachen.
Das Wasser plätscherte vor sich hin, der Wind zog sich hinter uns durchs Grün. Geborgen zwischen all diesen Geräuschen, fand ich schließlich meine eigene Stimme wieder. »Tut mir leid, dass das mit dem Ausflug ans Meer nicht geklappt hat.«
Mein Satz stand nicht lang allein. »Da gibt's nichts zu entschuldigen«, widersprach Jasper sofort. »Mir gefällt es hier. Zumal ist das mit dem Auto auch nicht deine Schuld.«
Ein bisschen Stille füllte den schmalen Abstand zwischen uns, bevor ich mich überwand weiterzureden.
»Jasper.« Ich spürte seinen Blick auf mir, starrte aber weiter geradeaus zur Mitte des Sees. »Ich bin nicht so gut darin, das Richtige zu sagen. Aber ich will, dass du weißt, dass ich dir zuhöre, egal was du mir erzählen möchtest. Und ich kann deine Hand halten, wenn du das willst, dich umarmen.« Ich stockte. »Ich- sei nur, sei nur bitte nicht verletzt, wenn ich nicht weiß, was ich dir antworten soll.«
Er griff nach meiner Hand, zog sie auf seinen Schoß und kreuzte seine Finger mit den meinen. Ich zuckte zusammen, hatte schlichtweg seine Berührung nicht kommen sehen. Mein Blick wanderte zu unseren Händen, dann zu seinem Gesicht, auf dem das letzte Tageslicht kantige Schatten warf.
»Der Tod meiner Mutter war nicht einfach«, begann er dann mit klarer, fester Stimme und ich drückte noch ein bisschen doller seine Hand. »Nicht für Marie, nicht für mich und auch nicht für meinen Vater. Ich glaube, meine Mutter hat gewusst, wie es enden wird, dass der Tumor in ihrem Gehirn ihr keine Chance mehr gibt. Und genauso war es auch. Nach der Diagnose blieb ihr nicht viel Zeit, die Behandlung sicherte ihr gerade mal ein paar Monate. Doch mein Vater klammerte sich an eine Hoffnung auf Heilung, die es schlichtweg nicht mehr gab.«
Jasper hielt kurz inne. Hauchzart zeichnete er die Knochen auf meinem Handrücken nach. Unbewusst rückte ich noch näher an ihn heran, bis unsere Schultern aneinander lehnten. Für einen winzigen Moment erinnerte ich mich zurück an den Abend, als er mir von seiner Mutter erzählt hatte. Der Schmerz, die Liebe hatte ihn damals gänzlich eingenommen. Diesmal wirkte er irgendwie so ruhig in seinen Worten, so auf Abstand mit dem, was er mir gerade erzählte. Auf Abstand mit seinem Vater.
»Er konnte den Gedanken nicht ertragen, allein zu sein. Mit Marie und mir allein zu sein. Nach ihrem Tod war er kaum zu Hause, floh von dem Alleinsein in die Einsamkeit, weil er das anscheinend besser vertragen konnte. Mit unserer Mutter haben wir also eigentlich auch gleichzeitig unseren Vater verloren. Nur wurde er uns nicht genommen, er hat sich einfach selbst Stück für Stück aus unseren Leben gestrichen. Marie war noch zu jung, als dass sie sich dran erinnern könnte, wie er davor oder danach gewesen war. Und vielleicht ist es mir deswegen auch ein bisschen leichter gefallen, damit umzugehen, weil ich nur meinen Kopf von ihm befreien und nicht mit ansehen musste, wie schwer Marie das vielleicht gefallen wäre.«
Mein Herz schmerzte. Ein tiefer, scharfer Stich zog sich durch meinen Brustkorb. Doch Jasper zuckte wieder mit den Schultern, als gäbe es da nichts, was auf ihm lastete. Als hätte er sich schon lange von dieser Vergangenheit befreit. Er schaute mich an, gefasst und direkt. Tränen sammelten sich hingegen in meinen Augen, doch ich brachte mich nicht dazu sie wegzublinzeln, weil ich mich für keinen Wimpernschlag von Jasper abwenden wollte. Ich wollte ihn sehen. Jede Regung in seinem Gesicht.
»Ich kann nicht genau sagen warum, aber ich wollte einfach nur, dass du das von mir weißt. Dass du weißt, warum ich nicht oft über ihn rede, weil er einfach nicht mehr zu meinem Leben gehört.« Er löste eine Hand aus unserer Berührung und wanderte mit seinem Daumen meine Wange hinauf. Vorsichtig wischte er mir die Ergriffenheit aus den Augenwinkeln und lächelte. »Ich bin glücklich. Wirklich. Lora war das Beste, was uns in der Zeit hätte passieren können. Sie hat nicht einen Moment gezögert. Sie war da, als wir es am nötigsten hatten.« Und dann sagte er etwas, was mich ahnen ließ, warum er trotz allem diese Akzeptanz in sich trug. »Ich habe alles, was ich brauche. Marie, Lora und die Erinnerungen an Mama. Das alles. Und das alles reicht mir.«
Ich wusste es nicht zu beschreiben, wie sehr ich ihn in diesem Moment dafür bewunderte, dass er diese Erkenntnis für sich gefunden hatte. Wie bestimmt er für sich selbst entschied, was er in seinem Leben brauchte und was nicht. Dennoch wollte ich ihn im Arm halten, ihm alles nehmen, was ihn vielleicht doch manchmal noch beschäftigte und sein Herz schwer werden ließ.
Er senkte seine Stirn zu meiner hinunter, schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Ich konnte ihn einfach nur beobachten, verzweifelt davon, wie sehr ich ihn berühren wollte. »Leonie, kannst du mich trotzdem-« Er musste den Satz nicht beenden. Ich zögerte nicht, streckte meine Arme nach ihm aus und zog ihn an mich heran. Ich hielt ihn und gleichzeitig hielt ich mich an ihm fest. Das war das, was wir beide gerade brauchten. Nicht mehr. Und nicht weniger.
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