[26] • Auf halbem Weg
Es war Anfang März und auch wenn die Sonne für milde Temperaturen sorgte, was mir persönlich sehr zusagte, hatte Cleo recht. Es war nicht die Zeit für einen gewöhnlichen Ausflug ans Meer, das doch immer erst im Sommer die Menschen massenweise zu sich lockte. Wiederum war der Grund für unseren Trip auch nicht gewöhnlicher Natur. Uns war nicht nach Schwimmen, Sonnenbaden und Sandburgen bauen. Und dass an unserem Ziel auch nicht mit unzähligen Touristen zu rechnen war, empfand ich ganz nebenbei als einen weiteren Pluspunkt. Genau das versuchte ich Cleo zu erklären. Sie war überrascht gewesen, als ich ihr von meiner Idee erzählt hatte, mit Jasper ans Meer zu fahren. Überrascht und wahnsinnig neugierig. Aber ich hatte ihr nicht viel erzählt, außer dass es als kleines Geburtstagsgeschenk gedacht war. Einfach mal raus aus der Stadt für ein Wochenende. Als wäre ich jemand, der das Reisen mochte.
Ich seufzte leise und kniff mir in den Nasenrücken. Jasper trat aus der Haustür, in seinen Händen ein Zelt und ein Schlafsack. Lora folgte ihm, bewaffnet mit einem Jutebeutel, der beinahe vor Essensvorräten überquoll. Eine kleine Sporttasche mit seinem restlichen Zeug stand bereits im Kofferraum. Jasper hatte sich einen dicken Kapuzenpulli übergezogen. Seine Haare waren verstrubbelter denn je, als hätte er nach dem Aufstehen noch nicht einmal einen Finger gerührt, um sie provisorisch zu ordnen. Es gefiel mir gut, ziemlich gut. Worum geht's euch? Ich schob Cleos Frage mit einem Kopfschütteln beiseite.
Insgeheim fragte ich mich selbst, was passieren würde. Ein Wochenende ganz allein mit Jasper. Sonst hatten wir zwischendurch immer nur ein paar Stunden miteinander verbracht. Doch ich konnte die anzüglichen Gedanken nicht leugnen, die mich in der kurzen Zeit, die wir zusammen waren, und der langen Zeit, die ich allein an ihn dachte, immer wieder aus dem Hinterhalt überfielen. Was würde uns also in den Sinn kommen, wenn wir in der tiefsten Nacht eingepfercht in einem winzigen Zelt beieinanderlagen? Es war nicht die Sorge, die mich einholte, sondern irgendetwas zwischen unentschlossener Erwartung und kribbelnder Aufregung, wobei Letzteres eindeutig überwog. Und auch wenn es nur reine Spekulation war, so glaubte ich, dass Jasper Ähnliches fühlte. Eine Vermutung, die ich nur auf seinem verschwörerischen Lächeln aufbaute, das um seine Mundwinkel zuckte, wann immer er mich direkt ansah. Gleichzeitig zerbrach ich mir darüber den Kopf, was Jasper wohl überkommen würde, wenn wir unser Ziel erreichten. Was würde der Anblick des Meeres, das einem immer so grenzenlos erschien, in seinen Tiefen auslösen?
Cleo riss mich aus diesem Gedankenchaos, in dem anscheinend jede Gehirnzelle einen eigenen Punkt anzuführen wusste. Unser Gespräch war wohl noch nicht beendet. Es hätte mich auch gewundert.
Ich lachte in mich hinein. Was sich zu Beginn noch in einigen Zweifeln geäußert hatte, sprudelte nun in einem Übermaß an Selbstbewusstsein aus ihr heraus. Cleo war überzeugt von unserem Sieg. Woran sie das genau festmachte, sah ich zwar nicht so klar wie sie, aber ihre Zuversicht gab mir schon jetzt das Gefühl, gewonnen zu haben.
Nach einem letzten Blick auf unseren Chatverlauf und mit der Gewissheit, dass von Cleos Seite vorerst keine weitere Nachricht kommen würde, steckte ich mein Handy in die Hosentasche und schlenderte zu Lora und Jasper nach hinten an den Kofferraum.
»Und du hast auch nichts vergessen?«
»Alles dabei«, versicherte Jasper und nahm Lora die Tasche mit den Snacks ab.
Mit einem undefinierbaren Seufzen stemmte sie die Hände in die Hüften und bedachte ihren Neffen kurz und intensiv. »Na gut.« Sie klang, als würde Jasper für zwei Monate aus der Stadt verschwinden. Mir tat es sofort ein bisschen leid, dass ich ihm diesen Plan in den Kopf gesetzt hatte. »Schick mir ein paar Bilder, ja?« Dann nahm sie ihn kurz in den Arm und wuschelte ihm durch die Haare. Etwas, das ich auch nur zu gern getan hätte.
»Passt auf euch auf.«
Jasper lächelte aufrichtig. »Immer doch.«
Lora ließ von ihm ab und drehte sich mir zu. Ehe ich mich versah, zog sie mich ebenso in eine Umarmung. Dass ich es auch immer mit so kontaktfreudigen Menschen zutun hatte. Doch natürlich erwiderte ich die Geste. »Ich wünsch euch ganz viel Spaß!«, sagte sie, sodass es auch Jasper hören konnte, bevor sie ein leises »Danke dir« an meiner Schulter nuschelte. Vielleicht gefiel es ihr insgeheim doch ganz gut, dass Jasper mal ein großes Stück weiter über die Türschwelle hinauskam.
Ich wusste nicht so recht, wie ich reagieren sollte, versuchte aber, mein ehrlichstes Lächeln aufzulegen.
»Wollen wir los?«, rettete mich Jasper aus der Situation, die mich wieder ein wenig zu sehr überforderte. Für ihren Dank gab es schließlich überhaupt keinen Grund. Ihr Neffe selbst hatte mich doch erst dazu gebracht, diesen Vorschlag auszusprechen und in die Tat umzusetzen. Ich war eigentlich nur die mit dem Auto, das ich meinen Eltern bis Sonntag abgeschwatzt hatte. Um den Rest hatte Jasper sich gekümmert. Er hatte den Campingplatz und die schnellste Route rausgesucht. Und er war der mit dem Zelt.
Lora winkte uns nach, als wir beide in besagtes Fahrzeug stiegen, ich hinters Steuer und Jasper direkt daneben. Ich war mir seiner Nähe mehr als bewusst, als ich den Motor startete. Jetzt musste ich sie nur noch so gut wie möglich ausblenden, bis ich meine Füße wieder von den Pedalen heben konnte. Vorerst konnte mich das Gequassel des Navis ablenken, das ich zuvor schon passend eingestellt hatte und uns nun noch einmal die wichtigsten Informationen präsentierte. Bisher kein Stau trotz mehrstündiger Fahrt, das klang doch bis jetzt gar nicht so schlecht.
»Dann wollen wir mal«, sagte ich, manövrierte uns aus der Parktasche und folgte dann den Straßen auf dem schnellsten Weg hinaus aus der Stadt.
»Lust auf ein bisschen Musik?«, fragte Jasper kurz darauf, bevor ich dazu geneigt war, das Radio für begleitendes Hintergrundgedudel einzuschalten.
»Ja klar, bedien dich.« Ich überließ ihm die Entscheidungsmacht über die Anlage und beobachtete zufrieden, wie er daran sein Handy anschloss. Ich bereitete mich bereits auf eine musikalische Zeitreise vor und schon im nächsten Moment schallten die Songs der letzten Jahrzehnte aus den Lautsprechern. Ich musste lachen, als die ersten Töne vom Piña colada Song ertönten. Mit dem Refrain auf den Lippen bogen wir auf die Autobahn ab.
»Wann ist Marie heute aufgebrochen?«, versuchte ich mich an ein wenig Kommunikation, als das erste Lied verklang und ein Ruhigeres startete.
Wir hatten mit unserem Trip extra auf ein Wochenende gewartet, an dem Lora nicht arbeiten musste, damit jemand da war, der auf Jaspers kleine Schwester aufpassen konnte. Letzte Woche hatte Marie dann eröffnet, dass sie zu der Geburtstagsfeier einer Freundin eingeladen war, wodurch Lora nun einen ganzen Freitagabend für sich hatte. Etwas, das aus meiner Sicht nicht zu unterschätzen war. Zumindest liebte ich die Zeit, in der ich mit mir allein sein konnte. Trotz dieser Vorliebe glaubte ich, dass mir die bevorstehenden Tage auf eine andere Art auch sehr gefallen werden, obwohl ein Campingplatz nichts mit meiner geschätzten Privatsphäre gemein hatte.
»Direkt nach der Schule. Ich hatte eigentlich gedacht, sie würde mich noch überreden wollen, sie mitzunehmen. Aber anscheinend hat ein Ausflug mit dem großen Bruder schlechte Chancen gegen eine Party voller zehnjähriger Mädchen.«
»Du bist aber auch ganz schön uncool.«
Ich grinste. Wahrscheinlich unterschätzte er, was zehnjährige Mädchen für Partys auf die Beine stellen konnten. Ich war mir sicher, dass Marie gerade um einiges mehr Spaß hatte, als wenn sie hier bei uns auf der Rückbank sitzen würde. Aber es war einfach zu verlockend, Jasper damit ein wenig aufzuziehen. Solche Gelegenheiten bekam ich schließlich nicht oft.
»Dabei lasse ich sie länger fernsehschauen, als Lora es ihr je erlauben würde«, hielt er dagegen. Doch sein Argument ließ ich nicht lange so stehen. »Das hat weniger mit deiner Coolheit zu tun, sondern eher mit Maries ausgereifter Fähigkeit, dich um den kleinen Finger zu wickeln.«
»Vielleicht schaffe ich es, über das Wochenende dagegen eine Resistenz zu entwickeln.«
Ich dachte an Maries große Kulleraugen. »Unmöglich.«
Für einen langen Augenblick genoss ich Jaspers Belustigung. Mir gefiel es, wenn unsere Gespräche dafür verantwortlich waren, dass er sich amüsierte. Genauso sehr gefielen mir die stillen Momente zwischen uns. Die Worte, die wir nicht sagten, aber den anderen leise spüren ließen. Ich ließ mich dazu hinreißen, kurz meine Finger nach ihm auszustrecken. Meine rechte Hand fand sofort die seine, als hätte sie nur auf mich gewartet. Er antwortete mir mit seinem Daumen, der sachte über meinen Handrücken strich, ehe ich wieder zum Lenkrad zurückkehrte.
»Wie war eigentlich die Jobberatung gewesen?«, griff ich dann mit einem Kribbeln in den Fingerkuppen unsere Unterhaltung wieder auf. »Kam die große Erleuchtung?«
Ein Mitarbeiter vom Arbeitsamt war die ganze Woche über an der Schule zu Besuch gewesen und für jeden Schüler aus den Abschlussklassen war ein verpflichtender Termin ausgemacht worden. So auch für Jasper, den schon in wenigen Wochen die Abiklausuren erwarteten. Wie schnell das plötzlich alles ging. Auch unserer Stufe wurden Termine angeboten. Ich hatte mich höflich weggeduckt, während Cleo sich gleich für den Ersten gemeldet hatte, der frei war. Im Gegensatz zu ihr besaß ich schlichtweg noch nicht einmal einen Ansatz einer Zukunftsperspektive, weswegen ich nicht gewusst hätte, was ich dem Typen hätte erzählen sollen. Und er wäre wahrscheinlich genauso ratlos gewesen.
»Nicht so wirklich, vielleicht eher ein Funken im tiefsten Dunkeln. Ich hatte mich mal ein bisschen über Sportwissenschaft informiert. Das klang nicht schlecht und vor allem könnte ich das hier in der Nähe studieren. Eventuell sogar, während ich noch daheim wohne.«
Sportwissenschaft. Das konnte ich mir bei ihm gut vorstellen, dachte ich, bevor mein Gehör den letzten Satz registrierte. Ich wollte es mir nicht recht eingestehen, aber ich verdrängte manchmal viel zu sehr die Tatsache, dass sich schon bald unsere Wege trennen würden. So sehr, dass ich mich gar selbst daran erinnern musste, dass er diese neuen Erfahrungen wahrscheinlich ohne mich machen würde.
»Du würdest nicht gerne ausziehen wollen?«, fragte ich schnell weiter, bevor ich zu sehr an dem wackeligen Gerüst rüttelte, mühevoll gebaut aus dem letzten Rest meiner Vernunft.
»Nein, am liebsten nicht. Lora gibt es zwar nicht gerne laut zu, aber sie braucht meine Hilfe. Ich glaube auch, dass es für Marie einfach schöner wäre, wenn ich noch da bleibe, zumindest für noch eine Weile.«
»Ja. Das würde ihr sicher gefallen.«
»Wahrscheinlich werde ich mir nach der Schule aber erstmal eine kleine Auszeit gönnen. Naja, was heißt Auszeit, ich wollte jedenfalls ein bisschen jobben gehen. Mal eine Abwechslung zum Lernen. Und Geld verdienen schadet letztlich nie.«
»Wie läuft's denn mit den Abivorbereitungen?«, wechselte ich zu einem Thema, das nicht in einer fernen, ungewissen Zukunft lag und mir deshalb etwas mehr behagte. Die Anspannung zog sich von meiner Herzgegend wieder zurück in meine Füße, wo sie zumindest nützlich war, um das Fahrtempo zu halten.
»Ah, okay würde ich sagen«, antwortete er und wog seinen Kopf hin und her. Ich sah aus den Augenwinkeln, dass er mich beim Reden unentwegt von der Seite betrachtete. Mich machte das auf eine merkwürdige Weise nervös, auch wenn ich mich eigentlich schon an seine Blicke hätte gewöhnen müssen. Vielleicht lag es daran, dass ich ihm in dieser Situation so schutzlos ausgeliefert war, da ich mich selbst auf die Straße konzentrieren musste. Jasper fuhr unbeirrt fort: »Über die Schriftlichen mache ich mir nicht so viele Sorgen. Vor allem Bio sollte zu schaffen sein, aber die Mündliche-« Er seufzte laut. »-das könnten die ruhig unter den Tisch fallen lassen.«
War das möglich, hatte er etwa ein bisschen Bammel vor der Prüfung? Ich hatte geglaubt, so etwas könnte Jasper nicht aus dem Konzept bringen. Vielleicht, weil ich immer so damit beschäftigt war, das Chaos zu ordnen, was er in mir veranstaltete.
»In welchem Fach musst du denn?«
»Deutsch«, sagte er und legte in dieses eine Wort so viel Unmut, dass ich mich sofort in meiner Annahme bestätigt fühlte. Und auch wenn ich seine Befürchtungen ernst nehmen wollte, ich konnte das Schmunzeln nicht aufhalten, das sich auf meine Lippen stahl. Gut, mündliche Prüfungen konnte ich auch absolut nicht ausstehen, aber das Fach an sich?
»Wovor hast du denn da Angst? Da kriegt ihr doch sicher irgendeinen Text vor die Nase gelegt und genau daraus-« Ich tippte mir selbst auf die Nasenspitze. »-ziehst du dir dann irgendwas, was sich gut anhört und bestmöglich zum Thema passt.«
»Sagt die mit dem Deutsch LK«, warf Jasper lachend ein.
»Ja okay, hast recht. Wo hakt es denn? Vielleicht kann die mit dem Deutsch LK ja helfen.« Ihm schien das Angebot zu gefallen, denn prompt legte er mir seine Probleme dar.
»Ich glaube, das Theorethische ist nicht das Problem. Nur gehören die meisten Texte, die wir im Kurs behandeln, zu dem verschrobenen Zeug, mit dem ich einfach nichts anfangen kann. Würden wir Sachen lesen, die mir gefallen, wäre das sicher anders.« Er machte eine winzige Pause. Extra, das spürte ich. »Zu Sachen, die ich mag, sage ich nur zu gern was.«
Sofort prickelte die Hitze auf meinen Wangen. Trotz dessen ging ich nicht darauf ein, dass er hier vermutlich gerade auf mich und meine Texte anspielte. Nach dem Fauxpas mit Verwelkt hatte ich mich tatsächlich noch einmal dazu überredet, dem Dagobert das ein oder andere Werk von mir zur Verfügung zu stellen. Diesmal wirklich anonym versteht sich. Aber Jasper hatte immer erraten können, was meiner Feder entsprungen war.
»Okay, wenn wir wieder zurück sind, haben wir eindeutig noch was zu tun«, überging ich letztendlich Jaspers verstecktes Kompliment. »Wir können doch nicht zulassen, dass du da am Ende noch schlecht abschneidest.«
»Danke dir, Leonie. Ich freue mich schon sehr auf meine erste Nachhilfestunde mit dir«, schaltete er in den Flirtmodus, worauf ich nur die Augen verdrehen konnte.
»Oh, glaub mir, allzu lange wirst du daran keinen Spaß haben«, nahm ich ihm sogleich den Wind aus den Segeln und warf ihm einen unheilvollen Blick zu. Es würde mir ein Vergnügen sein, ihm jegliche Autoren um die Ohren zu hauen.
»Wir werden sehen.« Es klang fast so, als würden wir uns auf eine Wette einlassen. Fehlte nur noch der Wetteinsatz. Es war nicht so, als fielen mir da nicht genügend Dinge ein, nur traute ich mich nicht, auch nur eins davon laut auszusprechen. Ich schüttelte nur den Kopf, hauptsächlich um diese gefährlichen Bilder loszuwerden.
Ich konzentrierte mich wieder gänzlich auf die Straße. Zwar waren bisher immer noch keine Staus auf unserer Strecke angekündigt, aber dennoch waren die Straßen recht voll, was wohl dem Wochenendverkehr zuzuschreiben war. Ich drosselte ein wenig unser Tempo. Wir hatten es letztlich nicht eilig. Vor allem förderte Jaspers Playlist in mir die Ruhe. Gerade lief ein langsamer Song, der vom Sound her irgendwo in die fünfziger Jahre passte. Ich drehte die Lautstärke höher. »Der Song ist echt schön.«
»Hmhm«, kam von Jasper nur. Ich spähte kurz zu ihm hinüber. Er hatte sich im Sitz zurückgelehnt und hielt die Augen geschlossen. Seine Lippen bewegten sich nicht, aber ich war davon überzeugt, dass er innerlich den Text mitsang. Ich bereute fast, diesen Anblick nicht voll auskosten zu können. Stattdessen heftete ich mich wieder an die Stoßstange des vorausfahrenden Autos.
So fuhren wir eine ganze Weile, hörten Song für Song und legten Kilometer für Kilometer zurück. Ich hatte schon geglaubt, wir würden unser Ziel ohne jegliche Pause erreichen. Doch die Tankanzeige sagte etwas anderes. Und mein Bauch plötzlich auch.
»Hast du Hunger?«, fragte Jasper amüsiert, als mein Magen wiederholt laut auf sich aufmerksam machte.
»Hört sich ganz danach an«, räumte ich ein. »Das Letzte, was ich gegessen habe, war mein Frühstück.«
Jasper griff an seinen Beinen vorbei in den Fußraum und zog die Tasche hervor, die Lora uns mitgegeben hatte. »Ich kann dir hier so einiges anbieten. Bananen, Mandarinen, Butterbrote, Müsliriegel.«
Wir fuhren an einem Schild mit dem Hinweis auf eine Raststätte in fünfhundert Metern vorbei. Immer wenn ich mit meinen Eltern unterwegs war, gab es ein ungeschriebenes Gesetz, dass wir wenigstens einmal an einer Raststätte hielten. Meistens holte sich dann jeder von uns ein Eis und genau das war es, wonach es mich dürstete. »Ich hätte schon Lust auf ein Eis«, sagte ich also zu Jasper, der daraufhin das Obst wieder zurück in den Beutel steckte. »Bin dabei. Dann hätten wir noch reichlich für heute Abend.«
»Perfekt.« Ich setzte den Blinker und fuhr die nächste Ausfahrt ab. Nachdem ich den Tank mit neuem Benzin befüllt hatte, betraten wir zusammen das Tankstellengeschäft und steuerten direkt die Kühltruhe an. Genauso wie es üblich war, dass ich auf Reisen immer ein Eis aß, griff ich auch jedes Mal zu derselben Sorte. Ein Mix aus Erdbeere und Vanille, überzogen mit einer grellroten Zuckerglasur.
»Das mochte ich nie«, gestand mir Jasper, als ich mein geliebtes Bum-Bum-Eis aus der Truhe zog. Er hingegen reckte sich nach einem langweiligen Mandelschokoeis. »Wie kann man das nicht mögen?«, stieß ich entsetzt aus und schaute ihm verständnislos entgegen. »Da bekommt man sogar noch ein Kaugummi mit dazu.« Jasper lachte. »Ein Kaugummi«, betonte ich noch einmal.
»Der Geschmack war mir immer irgendwie zu künstlich«, versuchte er sich zu erklären, aber aus der Schlucht, in die er in meinen Augen gerade gefallen war, konnte er sich damit nicht retten. »Wen habe ich mir da nur mit ins Auto geholt.« Es war, als hätte ich mit diesen Worten einen Schalter in ihm umgelegt. Umgehend trat er näher an mich heran und legte mir eine Hand auf die Taille. Sein Gesicht senkte er ein Stück zu mir herunter. »Das kann ich dir gerne zeigen.« Wie schamlos er doch sein konnte. Ich war wahrhaft stolz auf mich, dass ich seinem eindringlichen Blick für einige Sekunden standhielt. »Später vielleicht.« Damit drehte ich mich um und ging voraus an die Kasse.
Zurück im Auto befreiten wir unser Eis aus der Plastikverpackung, derweil mir Jasper noch ein paar mehr neue, alte Lieder vorspielte. Sein Songrepertoire war endlos und die Begeisterung in seinem Gesicht, wann immer ihm ein Lied einfiel, das er mir noch zeigen konnte, regelrecht ansteckend. Irgendwann inmitten einer seiner Anekdoten über eine Band stoppte er sich selbst.
Er streckte seine Hand nach mir aus und raunte leise: »Du hast da was.« Daraufhin wollte er mir wohl mit seinem Daumen das Eis aus dem Mundwinkel wischen. Doch ich sah in seinen Augen, dass er sich in dem Moment umentschied, in dem seine Finger meine Haut berührten. Es dauerte gerade mal eine Millisekunde, bis ich seine weichen Lippen an meinem Mund spürte. Und genauso kurz verweilten sie dort.
Ich wollte mich bereits beschweren, aber als ich sein Gesicht sah, konnte ich nur noch in Gelächter ausbrechen. Jasper schüttelte sich und rümpfte die Nase, was unzählige Falten auf seiner Stirn hervorbrachte. »Ugh, das ist echt nicht mein Geschmack.«
»So ein Pech aber auch«, gluckste ich.
Als Strafe für seine unausgereiften Geschmacksnerven griff ich nach dem Kragen seines Pullovers und zog ihn nochmal zu mir heran. Er ließ es über sich ergehen, ganz ohne Gegenwehr, eher mit hingebungsvoller Selbstopferung. Ich musste zugeben, ich hatte mich getäuscht, Mandelschokoladeneis war doch gar nicht so langweilig.
Tatsächlich schafften wir es noch, unser Eis zu Ende zu essen, bevor es uns in den Händen zerlief. Gestärkt von einer Menge Kalorien und einer ordentlichen Portion guter Gefühle machten wir uns für die Weiterfahrt bereit. Abermals startete ich das Auto. Oder ich versuchte es zumindest. Ratternd kam der Motor in Gang, doch als ich anfahren wollte, streikte er und verstummte sogleich wieder.
»Abgewürgt?«
»Anscheinend«, meinte ich, obwohl ich da so meine Zweifel hatte. Ich kannte mich aus, wenn es darum ging, das Zusammenspiel von Kupplung und Gas zu vergeigen. Aber das hier hatte sich irgendwie anders angefühlt. Außerdem hatte ich, ohne jetzt mit meinen Fahrkünsten angeben zu wollen, das Problem durch einen Nachmittag Berganfahren recht gut in den Griff bekommen. Sowas war mir also seit längerer Zeit nicht mehr passiert. Ich drehte den Zündschlüssel und probierte es noch einmal. Diesmal klappte es problemlos. Der Motor schnurrte wie Balu, wenn er nach seinen unerlaubten Ausgängen wieder zurück ins Haus wollte. Die Skepsis verpuffte, mein Selbstbewusstsein bröckelte - es schien wohl doch an mir gelegen zu haben.
Doch mit dieser Schlussfolgerung sollte ich nicht recht behalten. Nach zehn weiteren Minuten auf der Autobahn merkte ich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Das Auto klang plötzlich nicht mehr wie ein schnurrender Kater, sondern eher so, als würde es gerade einen kläglichen Tod erleiden. Und damit nicht genug. Das Gaspedal reagierte nicht mehr verhältnismäßig zu dem Druck, den ich darauf ausübte. Quälend langsam rutschte mir das Herz in die Hose. Es war an mir zu handeln. Ich fackelte nicht lang, betätigte das Warnblinklicht und scherte auf den Standstreifen aus.
»Was ist los?«, fragte Jasper alarmiert und richtete sich in seinem Sitz auf.
»Hier stimmt was nicht«, murmelte ich kurz angebunden. Ich war zu sehr damit beschäftigt, das Auto und meinen Puls unter Kontrolle zu halten.
Ich drückte vorsichtig die Bremse durch. Allmählich kam das Auto zum Stehen und nur eine Sekunde später verabschiedete sich der Motor ins Nirwana, während wir mitten im Nirgendwo zurückblieben.
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