[24] • Erinnerungen

Die schönsten Erinnerungen an das Weihnachtsfest waren im Haus meiner Oma entstanden. Sie war ein Mensch gewesen, der immerzu an Traditionen festgehalten hatte. Erst wurde der Gottesdienst besucht, dann gab es Schmorbraten mit Knödel und Rotkohl, die Geschenke wanderten umher und zuletzt wurden solange Gesellschaftsspiele gespielt, bis die Kinder, später die Erwachsenen, müde ihren Kopf auf den Tisch legten. An jedem zweiten Weihnachtstag kam die ganze Familie zusammen, egal wo alle das restliche Jahr über gewesen waren. Alle waren da, wenn meine Oma zu sich einlud. Sie glühte immer regelrecht vor Energie, wann immer ich sie sah, und in meinen jungen Jahren hatte ich gedacht, diese Kraft würde ihr niemals abhanden gehen. Doch ich lag falsch. An einem Sommermorgen wachte sie einfach nicht mehr auf, sie hatte sich friedlich und ganz heimlich im Schlaf verabschiedet. Vielleicht hatte sie den Zeitpunkt extra so gewählt. So, dass keiner die Möglichkeit hatte, sie aufzuhalten. Sie hatte die ganze Familie nach ihrem Belieben über Länder hinwegbewegt, ich glaubte fest daran, dass sie auch den Tod nach ihrer Pfeife tanzen gelassen hatte.

Mit meiner Oma war die Person gegangen, die es geschafft hatte, unsere Familie zusammenzubringen. Nach ihr hatte das keiner mehr getan, vielleicht hatte es auch niemand so richtig versucht. Meine Mutter und ihre Geschwister hatten sich zunehmend auseinandergelebt und nur über Telefon wurde noch sporadisch Kontakt gehalten. Keiner von ihnen machte sich die Mühe, den anderen zu besuchen, und ich fragte nicht danach, weil ich mich nicht aufdrängen wollte.

Dennoch, ich mochte Weihnachten, wirklich sehr, da mich diese Tage an die starke Frau erinnerten, die meine Oma gewesen war. Gleichzeitig wurde mir immer wieder von neuem bewusst, dass das Weihnachtsfest aus meinen Erinnerungen endgültig der Vergangenheit angehörte. Dieses Wissen schlummerte zwar stets in mir, brach jedoch immer erst an Heiligabend hervor, wenn wir zum Ende hin nicht die Koffer aus dem Keller holten, um uns aufbruchbereit zu machen, sondern stattdessen auf dem Sofa zusammenkamen und einen Film einlegten.

Als der Abspann lief, war mein Vater bereits eingeschlafen. Seine tiefen Atemzüge wandelten sich kurz zu einem sachten Schnarchen, bevor er wieder ganz leise wurde. Ruhig lag er zwischen mir und meiner Mutter, die Füße auf dem Wohnzimmertisch abgelegt und die Hände vor seinem Bauch verschränkt. Seine Eltern hatte ich nie richtig kennenlernen können. Sie waren beide verstorben, als ich noch sehr klein war. Ich konnte mich nicht einmal an sie erinnern, auch wenn es Bilder gab, auf denen ich mit den beiden zu sehen war. Doch das, was mir an Erinnerungen mit ihnen verwehrt geblieben war, versuchte mein Vater auszugleichen, indem er oft von ihnen erzählte. Ich musste an Jasper denken. Er wünschte sich, Marie hätte selbst gemeinsame Zeit mit ihrer Mutter erleben können, und ich verstand ihn. Und es schmerzte immer noch, wenn ich daran zurückdachte, welche Verzweiflung in seinen Augen getobt hatte, als er diesen Wunsch ausgesprochen hatte. Aber niemand war dazu fähig, das in Erfüllung gehen zu lassen. So schwer das auch zu akzeptieren war, fremde Erinnerungen waren alles, worauf man noch hoffen konnte. Und manchmal wünschte ich mir, meine Mutter würde es meinem Vater gleichtun, einfach so drauf los plaudern, nicht unbedingt, um mir neue Eindrücke zu schenken, sondern einfach, um die Gedanken an Oma aufrecht zu erhalten. Um sie mit Worten, zurück in unser aller Leben zu bringen.

»Mein Schatz, hilfst du mir beim Aufräumen?«, flüsterte meine Mutter, bedacht darauf, Papa nicht zu wecken. Sie hatte den Fernseher ausgeschaltet und bereits die leeren Snackschüsseln in der Hand.

»Ja, klar.« Ich kroch unter der Decke hervor, legte sie vorsichtig über die Beine meines Vaters und stand dann langsam auf. Meine Mutter ging voraus in die Küche und ich folgte ihr mit den Gläsern in der Hand. Balu schloss sich uns an. Auch nur für die geringe Chance, noch etwas zu essen zu bekommen, verließ er seinen zuletzt neu auserkorenen Lieblingsplatz unter dem Weihnachtsbaum in direkter Nähe zur warmen Heizung. Schmeichelnd strich er mir um die Beine, als ich das Geschirr in die Spülmaschine stellte. Ich schmunzelte, kraulte ihm aber lediglich den Kopf, statt ihm einen Mitternachtssnack zu gewähren. Er bemerkte schnell, dass es bei mir nichts zu holen gab, und verkrümelte sich rasch wieder unter den Baum. Die Kugeln wackelten jedes Mal bedrohlich, wenn er sich mit seinem runden Körper unter den Ästen hindurchquetschte.

»Puh, du meine Güte, das wird wahrscheinlich wieder eine Woche dauern, bis der Essensgeruch verschwunden ist«, klagte meine Mutter und riss sogleich das Fenster auf. Darüber beschwerte sie sich jedes Jahr. Genauso wie sie jedes Jahr erklärte, dass wir mal ein anderes Gericht zu den Feiertagen ausprobieren sollten. Sie hatte diesen Vorsatz jedoch nie in die Tat umgesetzt. Letzten Endes saßen wir dann doch wieder am Tisch mit unseren Raclettepfännchen in der Hand und ließen nur fürs Auge noch Ananasstückchen auf der heißen Steinplatte karamellisieren, obwohl wir schon längst gesättigt waren. Und ich fand es gut. Wenigstens eine Sache, die sich nicht änderte.

»Ich glaube, mehr als Minusgrade bringst du damit aber nicht ins Haus«, warf ich ein und schüttelte mich, als der kalte Luftzug mich erreichte. Meine Mutter bedachte mich mit einem Lächeln auf den Lippen. »Die paar Minuten wirst du schon überstehen.« Ich kräuselte die Nase und zog den Reißverschluss meines Pullovers bis hinauf zum Kinn. Um meinen Qualen noch ein wenig Ausdruck zu verleihen, rieb ich mir mehrmals über die Oberarme, bevor ich anfing, den Tisch abzuräumen. Meine Mutter sortierte derweil das ganze Geschirr, das wir zur Vorbereitung genutzt hatten und sich über die gesamte Küchenzeile verteilte.

Noch immer waren meine Gedanken irgendwo in der Vergangenheit verstrickt, weswegen ich es nicht wagte, den Mund zu öffnen, da ich Angst hatte, etwas davon könnte mir in Wortform über die Lippen rutschen. Es war abstrus. Noch nicht einmal ich selbst wusste genau, wovor ich mich fürchtete. Vielleicht davor, von meiner Mutter eine Antwort zu hören, die ich nicht hören wollte. Oder eher, dass sie nichts dazu sagen würde. Dass es ihr nicht so ein Anliegen war, über Oma und die Zeit bei ihr zu reden, wie es für mich war. Ich wollte nicht noch etwas zu den Sachen hinzufügen müssen, bei denen ich meine Mutter nicht so wirklich verstand. Wir unterschieden uns schon in so vielen Dingen.

Ich verlor etwas den Halt im Jetzt, die Welle der Unsicherheit spülte mir plötzlich so stark um die Füße, dass ich vor lauter trübem Wasser den sicheren Grund nicht mehr sah. Irgendwie war es heute anders. Schlimmer. Sonst hatte sich meine Freude über die Weihnachtszeit länger halten können, zumindest bis ich allein im Bett gelegen hatte. Die Nostalgie hatte mich nie so stark festgehalten wie heute. Meine Oma und ihr Weihnachtsfest waren mit die letzte Konstante gewesen, die ich jetzt gerade schmerzlich vermisste.

Die Schatten von früher wollten nicht von mir ablassen und nahmen sogar Gestalt in der Gegenwart an, als ich mein Handy in der Hosentasche vibrieren spürte. Zunächst dachte ich an Cleo, die mir bislang schon unzählige Nachrichten geschickt hatte mit Fotos von Essen und Geschenken. Dann hoffte ein winziger Teil von mir auf Jasper, mit dem ich heute Morgen nur standardmäßige Weihnachtsgrüße ausgetauscht hatte. Nie hätte ich damit gerechnet, den Namen meines Cousins auf meinem Bildschirm zu sehen. Christian. Ein Name, der mir zwar zwischendurch durch den Kopf hüpfte, aber ewig nicht den Weg nach draußen gefunden hatte. 

Zwei Wörter, nichts weiter. Etwas, das ich heute schon zuhauf gelesen hatte. Doch dieses Mal löste es in mir etwas gänzlich anderes aus als Gleichgültigkeit oder ein kleines, heimliches Lächeln. Es stimmte mich nachdenklich, furchtbar nachdenklich. Ich starrte gebannt auf die Nachricht, wartete ab, ob vielleicht noch eine folgte, doch es kam nichts. Vermutlich hatte er die Nachricht ohne irgendwelche großen Hintergedanken verfasst. Meine Interpretationen nahmen allerdings viel zu große Ausmaße an. Jemand, den ich so lange nicht mehr gesehen, geschweige denn mit geredet hatte, streckte plötzlich seine Hand nach mir aus. Und es war an mir zu entscheiden, ob ich danach greifen sollte.

»Christian hat uns frohe Weihnachten gewünscht.« Ich überging die Tatsache, dass er nichts von meinen Eltern geschrieben hatte. Wenn man es genau nahm, war noch nicht einmal explizit von mir die Rede. Die Nachricht hätte er genau so formuliert an jeden x-beliebigen Kontakt schicken können. Vielleicht hatte er das auch getan. Aber dennoch, ich konnte nicht verhindern, dass ich darin so viel mehr sah. Es war ein Versuch wert, zumindest eine Verbindung zu schaffen und auszutesten, ob meine Mutter sich darauf einließ.

»Christian?« Mama stoppte mit einer halbvollen Schüssel Kartoffeln vor dem Kühlschrank. Sie brauchte zwei Sekunden. »Ah, unser Christian?« Unser. Es klang komisch. Wenn wir mal ehrlich waren, kannten wir uns nur noch von Bildern.

»Ja.«

»Wie schön. Wünsch ihm von uns auch frohe Weihnachten.« Sie lächelte so wie immer und war dann wieder vorrangig mit den Kartoffeln beschäftigt.

»Mach ich«, sagte ich, schaltete jedoch mein Handy zunächst in den Standbymodus. Ich zögerte kurz, entschied mich dann aber doch dafür, einen weiteren Vorstoß zu wagen. Während ich das benutzte Besteck einsammelte, um es ebenfalls in der Spülmaschine zu verstauen, fügte ich so beiläufig wie möglich an: »Ich habe lange nichts mehr von ihm gehört.« Mir war bewusst, dass diese Funkstille auch gleichermaßen mir zuzuschreiben war. Ich war nicht auf den Kopf gefallen. Natürlich hätte auch ich mich aus eigener Initiative heraus bei ihm melden können. Auf Instagram folgten wir einander seit Jahren, doch in mir hatte sich ein regelrechtes Hemmnis entwickelt, Leute anzuschreiben, bei denen ich nicht einschätzen konnte, ob sie überhaupt Lust auf mich hatten. Viel zu oft war dem nämlich nicht der Fall gewesen.

»Ich habe irgendwann letztens noch mit deinem Onkel gesprochen.« War es ein Zeichen, dass sie von meinem Onkel sprach und nicht von ihrem Bruder? »In der Schule sind er und Daniel zwar keine Überflieger, aber sie machen sich doch ganz gut.« Wenn sie damit das zehnminütige Gespräch meinte, an das ich mich vage erinnerte, dann war das schon einige Wochen her. Sie hatten sich gerade mal darüber ausgetauscht, wie die Kinder in der Schule zurechtkamen. So konnte sie auch nur diese Information mit mir teilen.

Ich dachte an die Zwillinge zurück, die sich zwar vom Aussehen her unterschieden, aber immer die gleichen dummen Ideen gehabt hatten. Sie waren mir damals furchtbar auf die Nerven gegangen. Jedes Jahr hatten sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihre ältere Cousine zur Weißglut zu treiben. Zwar hatte ich mich damals schon darin geübt, möglichst gleichgültig zu reagieren, insgeheim hatten sie ihr Ziel jedoch stets erreicht. Nur wurde ich zunehmend besser darin, sie das nicht wissen zu lassen. »Sofern sie sich nicht groß verändert haben, kann man sich vorstellen, wie sie sich in der Schule durchschlagen. Weißt du noch, wie Christian wegen einem Loch im Kopf genäht werden musste?« Ich kam nicht umhin, dass sich meine Mundwinkel in die Höhe bewegten. Es war ein heilloses Chaos gewesen. Die unentwegte Rangelei zwischen Daniel und Christian hatte eigentlich der Normalität angehört, doch an diesem unvergesslichen Tag hatten sie es eindeutig übertrieben. Sie hatten sich gegenseitig so in Rage gebracht, dass Daniel seinen Bruder etwas zu fest vor sich her schubste. Dieser hatte sogleich das Gleichgewicht verloren und war gegen Omas alten Kerzenständer geknallt, einen immensen Klotz aus purem Messing, der nach diesem Vorfall auf ewig aus dem Wohnzimmer verbannt wurde. Dennoch war alles glimpflich ausgegangen. Das Einzige, das diesen Tag nicht überstanden hatte, war die weiße Bluse meiner Tante, die Christian mit seinem Blut komplett ruiniert hatte.

Ich war erstaunt, wie genau ich auf dieses Weihnachten zurückgreifen konnte, als hätte ich es erst gestern erlebt. Doch damit war ich wohl allein. »Die beiden hatten wirklich zu viel Energie.« Stille. Mein Lächeln verschwand wieder. Das war alles, was meine Mutter dazu zu sagen hatte, und ich spürte wider Willen die Enttäuschung, die in mir keimte. Es schien wirklich so, als hätte sie nicht das Bedürfnis, die alten Zeiten aufleben zu lassen. Ich machte ihr keinen Vorwurf daraus, vielleicht war es auch an mir, die einen falschen Zeitpunkt dafür gewählt hatte. Aber die Ernüchterung hatte mich schon getroffen und ihren Schaden getan.

»Kann ich noch etwas helfen?« Gähnend kam mein Vater in die Küche gestapft. Er rieb sich müde die Augen und schlang darauf die Arme um den Oberkörper, als er das offene Fenster bemerkte.

Ich zwang das Lächeln zurück auf mein Gesicht. »Also der Tisch ist soweit fertig. Vielleicht kannst du ja den Rest übernehmen, wenn das in Ordnung ist.«

Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Es war schließlich Heiligabend. Das war nicht die Zeit. Das war es nie, rumorte es irgendwo in mir.

»Alles klar, Spätzchen.« Ich zog meine Lippen noch ein wenig mehr in die Breite und verließ die Küche, bevor meine Muskeln in sich zusammensackten. Balu kam mir im Flur entgegen. Sein Blick hatte beinahe etwas Anklagendes, als würde er genau wissen, wovor ich mich drückte.

»Dafür bist du jetzt extra unterm Baum hervorgekrochen?«, murmelte ich genervt und nahm den Tiger auf den Arm. Sogleich kuschelte er sich an meine Brust und schnurrte beruhigend. Ich gab ihm einen kleinen Kuss auf seine Stirn und schritt dann mit ihm zusammen die Treppe zu meinem Zimmer hinauf.

»Gute Nacht, Liebling«, hörte ich meine Mutter noch hinter mir herrufen.

»Gute Nacht«, antwortete ich fast tonlos.

Mein Zimmer lag im Dunkeln und ich verspürte nicht die geringste Lust, es mit Licht zu fluten und alles aufzudecken, was ich gerade verbergen wollte. Mechanisch steuerte ich mein Bett an, ließ Balu darauf nieder und kroch neben ihn auf die weiche Matratze. Es fühlte sich so an, als würde ich heute tiefer darin einsinken, als hätten meine Gedanken ein eigenes Gewicht, das sich meinem anrechnete. Ich zog mein Handy wieder hervor und betrachtete von neuem Christians Nachricht. Vor meinem inneren Auge sah ich immer noch den kleinen Rabauken, der nicht viel Wert auf das legte, was man ihm sagte. Ob er immer noch so drauf war? Ich tippte auf das kleine Bild am oberen Bildschirmrand, das mich auf sein Profil brachte. Interessiert scrollte ich durch seine Posts. Äußerlich hatte er sich jedenfalls verändert. Das Jungenhafte hatte sich mehr und mehr verwachsen, man sah ihm die Ähnlichkeit zu seinem Vater nun umso deutlicher an. Zumindest zu dem Bild, das ich von meinem Onkel noch im Kopf hatte.

Ich kehrte zurück zu unserem Chat. Meine beiden Daumen fuhren unruhig über die Seiten meiner Handyhülle. Unschlüssig betrachtete ich die kleine Tastatur, auf der sich die Buchstaben zu einem wirren Strichhaufen verschoben. Ich suchte nach dem Mut, ihm mehr zu schreiben als eine läppische Antwort mit Weihnachtsgrüßen, aber ich fand ihn nicht. 

Ein Augenblick verging, bis er die Nachricht gesehen hatte. Er likte sie. Dann war unsere Konversation beendet.

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