[2] • Unter Menschen gehen

»Leonie, Liebes, du kannst dich dort in die dritte Reihe setzen.«

Frau Werth, die Deutschlehrerin, war klein, versuchte es aber mit durchgehenden Plateauabsätzen zu kompensieren. Ihr restliches Outfit war von Kopf bis Fuß makellos. Sie kleidete sich jung und modern, wirkte aber trotz ihres voranschreitenden Alters, ich schätzte sie auf Ende fünfzig, nicht albern - einfach schick. Ich hätte sie mir eher in der Redaktion eines Modemagazins vorstellen können, als in einem Raum mit angehenden Erwachsenen, die gerade versuchten, den letzten Zügen der Pubertät zu entfliehen. Neben ihr sah ich in meinem grauen Hoodie, den verwaschenen Jeans und den dreckigen Sneakers aus, als würde ich nur aus dem Haus gehen, um den Müll zu entsorgen.

Ich nickte und glaubte sogar, ein Lächeln zu Stande gebracht zu haben. Zumindest schenkte sie mir eins, und zwar das breiteste, was ich wohl je an einer Lehrerin gesehen hatte. Sie schien ihren Beruf ehrlich zu mögen. Ich setzte mich auf den zugewiesenen freien Platz und endete zwischen einem schlafenden Kerl und einem Mädchen, das unentwegt auf ihrem Handy herumtippte. Doch alles war besser, als neben Cleo zu sitzen, deren Blick ich immer wieder auf mir spürte, während ich mir alle Mühe gab, sie zu ignorieren. Heute Morgen hatte ich extra einen Bus früher genommen und mir einen großen Kakao in der Bäckerei schräg gegenüber der Schule gegönnt, um ihr aus dem Weg zu gehen. Jetzt musste ich nur noch versuchen, nach dem Ende der Stunde unbemerkt zu verschwinden, bevor sie mich einfangen und mit einem erneuten Redeschwall überrollen konnte.

»So ihr Lieben, dann wollen wir mal«, ergriff Frau Werth das Wort und die lauten Gespräche der Schüler wechselten zu vereinzeltem leisen Geflüster. »Schön euch im neuen Schuljahr und damit auch im Deutsch Leistungskurs begrüßen zu dürfen.« Sie schaute im Raum umher und blieb letztendlich bei meinem Nachbarn hängen, der sich auch nach ihrer Anrede nicht aufgerichtet hatte. Ich glaubte fast, ihn schnarchen zu hören. Frau Werths Gesichtszüge nahmen einen diabolischen Ausdruck an, während sie nach dem Tafelschwamm griff. Im nächsten Moment schmiss sie ihn auch schon gekonnt durch die Luft und traf genau den Kopf des Jungen, über den sich daraufhin ein Staubregen alter Kreidereste ergoss. Seine kurzen schwarzen Haare durchzogen nun graue Strähnen. Erschrocken richtete er sich auf und ich war froh, rechtzeitig einen größeren Abstand zwischen uns gebracht zu haben, da er mit seiner hektischen Bewegung auch den Dreck wieder in die Luft beförderte. »Lars, guten Morgen!«, begrüßte Frau Werth ihn unter leisem Gelächter des Kurses, während dieser noch verschreckt um sich schaute, wahrscheinlich um einzuordnen, wo er sich überhaupt befand. »Es freut mich, dass wir uns dieses Jahr wiedersehen. Nur denke ich, dass wir es diesmal etwas produktiver angehen sollten, meinst du nicht auch?«

»Da stimme ich Ihnen vollkommen zu«, antwortete er, nachdem er sich wieder gefangen hatte. Er rubbelte sich die restliche Kreide aus seinen Haaren und fügte dann mit einem schelmischen Grinsen hinzu: »Sie sehen heute übrigens wieder klasse aus!«

Frau Werth verdrehte die Augen. »Nun gut, bevor wir anfangen, möchte ich gerne wie jedes Jahr auf unsere Schülerzeitung hinweisen, die tatkräftige Unterstützung sucht. Cleo, magst du dazu ein paar Worte sagen?«

»Sehr gerne!«, antwortete diese enthusiastisch und sprang auf.

Gleichzeitig senkte ich meinen Kopf und betrachtete die unbeschriebene Blockseite vor mir. Für solche Art von Energie, wie Cleo sie ausstrahlte, war es noch viel zu früh am Morgen. Ich nahm einen Stift zur Hand und füllte die leeren Kästchen auf dem Blatt mit Buchstaben. Cleos Vortrag ausblendend versuchte ich Wörter zu finden, die in Kombination meines Erachtens gut klangen. Ich war nicht die Einzige, die Cleo komplett überhörte. Die meisten beschäftigten sich anderweitig. Lars kritzelte ebenfalls auf seinem Block herum und die Blondine neben mir hatte noch kein einziges Mal von ihrem Handy aufgesehen. Es war klar, dass das wohl kaum der richtige Weg für die Schülerzeitung war, neue Mitglieder zu rekrutieren. Zwar klang Cleo total begeistert, aber sie übertrieb an manchen Stellen doch gehörig. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass das Mitarbeiten an der Schülerzeitung sinneserweiternd war, wie sie es beschrieb. Also feilte ich weiter an meinem Text. Schon früh hatte ich durch den Einfluss meines Vaters angefangen, zu schreiben, auch wenn ich keinesfalls so produktiv war wie er. Seine Bücher zierten die Kinderbuchregale der Buchhandlungen, während ich nur kurze, dürftig zusammengebastelte Geschichten zustande brachte. Aber das Schreiben war auch schließlich sein Job und er war schon lange im Geschäft. Bei mir beschränkte sich die Leserschaft auf meine Wenigkeit. Eventuell könnte man noch Balu dazuzählen. Allerdings bezweifelte ich, dass es ihn überhaupt interessierte, wenn ich ihm etwas vorlas. Vor allem da meine Texte selten etwas mit Essen zu tun hatten.

»Vielen Dank, Cleo!«, Frau Werth nickte ihr zu, woraufhin sich Cleo wieder auf ihren Platz setzte. »Also wer Interesse hat oder auch nur mal reinschnuppern möchte, die Schülerzeitung trifft sich donnerstagnachmittags um drei, richtig?«

»Ja, genau. Man kann aber auch gerne einfach so vorbeischauen. Es kann gut sein, dass einer von uns zwischendurch im Raum ist, um an der nächsten Ausgabe zu feilen.« Wie spannend!

Ich war froh, dass Frau Werth danach das Thema Schülerzeitung, das die Existenz von Cleo implizierte, endlich fallen ließ und sich dem eigentlichen Deutschunterricht widmete. Nach der ersten Dreiviertelstunde konnte ich mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass mir wohl die Deutschstunden an dieser Schule am besten gefallen werden. Frau Werth gestaltete den Unterricht anschaulich und blockte keine Aussagen von Schülern ab, sondern ließ alle Interpretationsansätze zu, egal wie kurios sie auch waren, und ließ uns darüber diskutieren. Dass wir zuerst kleine literarische Texte behandelten, kam mir doch sehr gelegen. Auch der restliche Kurs brachte sich ein, außer vielleicht Lars, der immer noch gebeugt über dem Tisch hing und seine Augen starr auf dem Blatt Papier vor sich gerichtet hatte, während seine Hand mit schnellen Bewegungen darüber glitt. Neugier kam in mir auf, da er ganz gebannt schien, von dem, was er da gerade tat. Leider konnte ich keinen Blick darauf werfen, ohne dass ich ihm hätte auf die Pelle rücken müssen. Auch als er gegen Ende der Stunde seine Sachen zusammenpackte, bekam ich nichts zu Gesicht.

»So, ihr Lieben, um eure Kreativität noch ein bisschen auf Trab zu halten, schreibt ihr bis zur nächsten Woche etwas. Ich meine damit wirklich etwas. Ein Gedicht, ein Brief, Fabel, Kurzgeschichte, Stellungnahme; das ist mir vollkommen egal. Ich möchte etwas lesen, das von euch kommt, um eine Einschätzung über eure Stärken zu bekommen. Aber auch um zu sehen, woran man noch arbeiten könnte.« Ich war überrascht, dass uns so eine freie Aufgabe gestellt wurde. Bisher hatte ich es bei Hausaufgaben nur mit klaren Anweisungen zu tun gehabt, aber mir war schon am Anfang der Stunde der Gedanke gekommen, dass Frau Werth sich nicht so sehr um konventionelle Unterrichtsmethoden scherte. Die meisten waren von der Idee nicht sonderlich angetan, packten dennoch ohne Gegenwehr, nur unter leisem Murren, ihre Taschen und verließen den Raum. Frau Werth rief vereinzelt eine Verabschiedung hinterher und mir viel siedend heiß ein, dass ich hier eigentlich schnell verschwinden wollte. Doch ich hatte den Moment verpasst, um unbemerkt zu entkommen, denn Cleo wartete an der Tür auf mich. Mist!

»Hi!«, begrüßte sie mich mit einem breiten Lächeln und ließ keinen Zweifel daran, dass sie mich meinte, als sie ihre Arme um mich legte. Völlig perplex ließ ich diese kurze Umarmung über mich ergehen. Zu welchem Zeitpunkt, zwischen meiner ablehnenden Haltung gestern und diesem Augenblick, hatten wir denn den Umstand erreicht, dass wir uns zur Begrüßung umarmten?

»Hallo«, meinte ich und blieb meiner abweisenden Einstellung treu. Doch wie zu erwarten, überhörte Cleo meine Tonlage. Sie schien die Wörter aufzunehmen, jedoch musste über ihrem Ohr irgendein Filter liegen, der meine Aussagen freundlicher darstellte, als sie eigentlich gemeint waren.

»Was hast du jetzt?« Ich hoffte auf ein Fach, in dem ich ihre Anwesenheit nicht ertragen musste. Zudem hatte ich gedacht, dass sie meinen Stundenplan schon auswendig konnte, so fixiert wie sie auf mich war.

»Mathe, glaube ich«, antwortete ich und schaute kurz auf meinen Stundenplan, den ich mir auf meinem Handy abgespeichert hatte, um meine Vermutung zu bestätigen.

»Schade. Ich befürchte, dann sehen wir uns wohl erst beim Mittagessen wieder.«

»Ja, wirklich schade.« Ob es hier in der Nähe wohl auch einen Dönerladen gab?

»Aber auf die Party am Freitag kommst du, oder?« Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Cleo das Thema ansprechen würde. Ich hatte mich nämlich gestern nicht dazu genötigt gefühlt, ihr zu antworten. Vermutlich aus reinem Selbstschutz. Ihr erklären zu müssen, dass ich viel lieber eingekuschelt und den dicken Kater kraulend den neuen Krimi gucken würde, als irgendwelche neuen Leute kennenzulernen, hätte sich womöglich ewig in die Länge gezogen. Doch nun kam ich nicht drumherum.

»Ich denke, die lasse ich ausfallen«, fasste ich meine Gegenwehr kurz zusammen.

»Ach, komm. Die Party ist Tradition und immer total lustig. Ich kann dich auch gerne abholen, wenn du magst. Dann können wir gemeinsam dorthin fahren.« Ihre Argumente, um mich zu überzeugen, waren reichlich unausgereift.

»Ne, da fahre ich lieber selbst.« Schon in dem Moment, indem ich den Satz aussprach, bereute ich ihn, da ich mit jedem weiteren Wort bemerkte, dass Cleo meine Aussage als eine Zusage auffasste. Doch bevor ich nochmal klar machen konnte, dass ich nicht gehen würde, kam sie mir schon zuvor.

»Klar, wenn dir das besser passt. Dann sehen wir uns später in der Mensa«, ratterte sie herunter, sodass ich ihr nicht mehr ins Wort fallen konnte. Sie wollte wohl ihre Taktik perfektionieren, indem sie sich schnell vom Acker machte, aber das würde nicht funktionieren. Ich werde in keinem Fall auf diese Party gehen!

■■■

Der restliche Vormittag verlief aufgrund der Abwesenheit von Cleo wesentlich angenehmer. Zwar zogen sich die Unterrichtsstunden wie ein fades Kaugummi, was im Wesentlichen daran lag, dass ich einfach kein Verständnis für naturwissenschaftliche Fächer besaß, aber zumindest hatte ich meine Ruhe. Natürlich unterhielt ich mich mit den Mitschülern, zumindest mit denen, die unmittelbar neben mir saßen, jedoch beließ ich es bei meist einsilbigen Aussagen. Niemand drängte sich mir auf und ich konnte endlich einmal durchatmen. Wie lange Cleo wohl noch an mir hing, bevor sie verstand, dass die ganze Sache absolut sinnlos war? Vor allem bezweifelte ich stark, dass wir überhaupt miteinander harmonierten. Sie war so komplett aufgedreht, dass ich schon Kopfschmerzen bekam, wenn ich nur an ihre hyperaktive Art dachte. Demnach schlurfte ich auch regelrecht unmotiviert in der Mittagspause in Richtung Mensa. Heute: Kartoffelgratin, dazu Schnitzel und Gemüsepfanne. Ich bezweifelte, dass es so gut schmeckte, wie es sich auf dem Aushang anhörte. Mein Bauch grummelte und ich war zumindest gewillt, dem Ganzen nochmal eine Chance zu geben. Nachdem ich mir mein Tablett gefüllt hatte, nicht zu voll, sodass ich ein schlechtes Gewissen bekam, falls ich es bei einem erneuten Reinfall beiseiteschob, schaute ich mich im Saal um und suchte nach einem freien Platz. Glücklicherweise konnte ich unter den ganzen Schülern keinen schwarzen Lockenkopf ausmachen und innerlich hoffte ich, dass Cleo ihre Mittagszeit doch im Raum der Schülerzeitung verbrachte. Dabei lag ich natürlich falsch. Kaum hatte ich mich wieder in Bewegung gesetzt, rief sie meinen Namen und ich hätte fast vor Schreck mein Essen fallen gelassen. Ich drehte mich um und sah Cleo mit einem ebenfalls sparsam beladenden Tablett auf mich zukommen.

»Hab' ich dich gefunden.« Was für ein Glück! »Sollen wir uns dort drüben ans Fenster setzen? Da ist noch etwas frei.«

»Okay.« Gott, war ich schlecht darin, Leuten meine Meinung zu sagen. Ich unterdrückte meine Unlust und folgte ihr zu dem Tisch, den sie anvisiert hatte.

»Lohnt es sich, überhaupt das Essen zu probieren, oder hatte mir die Lasagne gestern schon den richtigen Eindruck vermittelt?«, fragte ich, während ich mein Mittagsmenü genauer inspizierte, nachdem wir uns dem anderen gegenüber an den Tisch gesetzt hatten. Diesmal sah es zumindest nicht wie ein fehlgeschlagenes Experiment aus, sondern tatsächlich essbar. Aber das musste ja nichts heißen.

»Es gibt gute Tage«, bemerkte Cleo und so wie sie den Satz in die Länge zog, war sie von ihrer eigenen Behauptung nicht überzeugt. Äußerst kritisch begutachtete sie ihr Essen und pikste vorsichtig ein Stück Brokkoli mit ihrer Gabel auf. Sie starrte das Gemüse noch einige Sekunden an, bevor sie es sich in den Mund schob. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, als wäre sie auf alles gefasst. Die Gabel in meiner Hand schwebte zögernd über dem Tablett und ich wartete auf eine Reaktion von ihr. Zunächst passierte gar nichts, sie saß einfach nur reglos da und man hätte meinen können, der Brokkoli hätte sie in eine Art Schockstarre versetzt. Ob Letzteres nun auf einen guten oder schlechten Geschmack zurückzuführen war, konnte ich noch nicht ausmachen, traute mich aber auch nicht selbst zu probieren. Dann schluckte Cleo kaum merklich.

»Ich frage mich wirklich, wie man eine Gemüsepfanne vergeigen kann«, stieß sie dann plötzlich aus. Ich seufzte und schnitt ein kleines Stück des Schnitzels ab. Meine Gesichtszüge entglitten mir, als sich der Geschmack auf meiner Zunge ausbreitete. Trocken, pappig und im Übrigen komplett versalzen. »Gott, schmeckt das widerlich!«

»Heute ist dann doch wohl ein schlechter Tag«, meinte Cleo und ließ ihr Besteck fallen. An den Kartoffelgratin wagte sie sich schon gar nicht mehr. »Willst du mit ins Dagobert? Ich glaube, da haben wir noch ein paar Snacks gehortet.«

»Ins was?«, fragte ich verwirrt.

»Unsere Schülerzeitung heißt Dagobert und so nennen wir auch unseren Arbeitsraum«, erklärte sie daraufhin, während sie mit ihrem Tablett in der Hand aufstand.

»Momentan wäre mir wohl alles lieber als das hier.« Wir brachten unsere Tabletts zurück und verließen die Mensa.

Der Raum der Schülerzeitung lag abgelegen im obersten Stockwerk des Gebäudes. Er war klein, aber äußerst gemütlich, wie ich überraschend feststellte. Ein großes dunkles Sofa stand in der Ecke an der Fensterfront neben einem vollbepacktem Regal. Vier Computer reihten sich auf der gegenüberliegenden Wand und in der Mitte stand ein Tisch. Außerdem gab es noch einen kleinen Kühlschrank, eine Mikrowelle und ein Whiteboard, das so eng beschrieben war, dass man kaum mehr eine weiße Stelle fand.

»Warum eigentlich Dagobert?«, fragte ich Cleo ehrlich interessiert, nachdem ich es mir auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte, während sie den Kühlschrank nach etwas Essbarem durchforstete.

»Herr Lempert, der Direktor, hält einen Papagei namens Dagobert in seinem Büro. Er ist so eine Art Maskottchen geworden.« Sie zog ihren Kopf aus dem Kühlschrank und hielt eine Fruchtbuttermilch und ein Kinder Pingui in die Höhe.

»Oh, Herr im Himmel, Danke!«, rief ich und streckte die Hand danach aus. Endlich konnte ich den ekelerregenden Geschmack von meiner Zunge spülen. Dafür hatte sich Cleo auch wahrlich den Ansatz eines Lächelns verdient, vermutlich das Erste, das sie an mir sah. Sie reichte mir die Milch und den Schokoriegel und holte das Gleiche für sich selbst. Zusammen saßen wir auf der Couch und verschlangen die Köstlichkeiten, die im Vergleich zu dem Fraß von vorhin wie ein Gourmet-Essen schmeckten. »Viel besser!«, seufzte ich genüsslich und nahm mir für jeden Bissen extra Zeit. Als wir so nebeneinander auf dem Sofa saßen und ich meinen Blick abermals durch den Raum schweifen ließ, fielen mir die vielen Pakete auf, wovon jedes mit der Aufschrift Zeitung versehen war und einem Datum, das sich von Päckchen zu Päckchen unterschied.

»Also nach meinem bisherigen Eindruck«, äußerte ich vorsichtig zwischen zwei Bissen, »scheint es, als würde es um die Zeitung nicht so gut stehen.« Cleo reagierte etwas irritiert. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich von mir aus auch ein Gesprächsthema eröffnen konnte. Allerdings hatte ich das genauso wenig. Ich wusste nicht, aus welcher Laune heraus ich diesen Satz formuliert hatte und schob es einfach auf die Zuckerdosis, die sich in meinem Magen ausbreitete. Cleo fing sich jedoch schnell und machte ein zerknirschtes Gesicht. »Ja, leider. In der letzten Zeit können wir nicht viele von unseren Zeitungen verkaufen und neue Leute wollen uns auch nicht beitreten. Wir sind gerade mal drei und dabei kommt nicht viel bei rum, also zusammengefasst ein zum Scheitern verurteilter Kreislauf.«

Ich murmelte etwas Zustimmendes. Für mich war die Sache damit abgeschlossen. »Hättest du nicht Lust bei uns mitzumachen?« Ich stockte. Für sie ging das Gespräch wohl gerade erst los.

»Ach, ich schreibe nicht so gern.« Gelogen! Aber irgendwie musste ich ihr ausweichen, auch wenn ich das Thema selbst angeschnitten hatte. Ein Fehler, den ich nicht noch einmal begehen wollte.

»Schade«, gab sie klein bei und schien wirklich getroffen. Hatte sie ernsthaft geglaubt, dass ich daran Interesse hätte, diesem Papageien-Club beizutreten?

Ich erwiderte daraufhin nichts, wandte mich dem Fenster zu und trank schweigend meine Buttermilch. Zum Glück blieb auch ihr Mund vorerst geschlossen. Vom Fenster aus hatte man den ganzen Schulhof im Blick. Darauf hatten sich vereinzelt kleine Menschenmengen gebildet, die sich angeregt unterhielten, und auf dem Basketballplatz spielte eine Gruppe Jungs.

»Ist das nicht dieser Lars, der neben mir im Deutschkurs sitzt?«, fragte ich und deutete auf die sportlich aktive Mannschaft dort unten.

»Ja, der spielt immer mit einer Gruppe aus unserem Jahrgang gegen die über uns. Die machen daraus immer einen richtigen Wettstreit, aber wir haben meist nie eine Chance, wenn Jasper mitspielt.«

»Wer ist Jasper?«, fragte ich und suchte das Spielfeld nach einem Typen ab, der wie ein Jasper aussehen könnte oder zumindest nach jemanden, der sich so bewegte, als könnte er gut spielen. Aber es stach keiner heraus, den ich als Profi einschätzen konnte. Gut, viel Wissen über den Sport besaß ich jetzt auch nicht.

»Der steht da am Spielfeldrand neben dem Korb. Der Kerl mit dem grauen Shirt. Der Große«, versuchte Cleo ihn mir zu beschreiben und streckte ihren Finger nach ihm aus. Letzteres war überflüssig gewesen, denn ich hatte ihn schon entdeckt. Hätte ich gewusst, dass er bei diesem Spiel gar nicht mitmachte, dann wäre er mir wohl sofort ins Auge gestochen, da er die anderen um fast einen ganzen Kopf überragte. Er stand mit dem Rücken zu uns, aber schon seine Statur wies darauf hin, dass ihm Basketball wohl ein Leichtes war. Mir schien, er müsste nur den Arm ausstrecken, um den Ball treffsicher in den Korb zu befördern.

»Und warum spielt er diesmal nicht mit?«

»Der spielt nach Lust und Laune. Wahrscheinlich haben sie auch heute irgendein Wetteinsatz wegen der Party am Laufen und da er nie auf diese geht-« Sie zuckte mit den Schultern und ließ den Satz offen.

Sollte das jetzt schon wieder eine Anspielung auf die Party sein? Wie oft wollte sie das denn jetzt noch versuchen? Zum Glück unterbrach uns die Schulklingel, bevor sie von neuem ihre Überredungskünste auspacken konnte. Die Grüppchen auf dem Hof lösten sich langsam auf und wir packten ebenfalls unsere Sachen zusammen. Cleo drückte mir noch einen weiteren Schokoriegel in die Hand, bevor sich glücklicherweise auch wieder unsere Wege trennten, da sie nun Darstellendes Spiel und ich mich für den Kunstunterricht entschieden hatte.

»Na dann, wir sehen uns!«, sagte sie, nachdem sie den Raum der Schülerzeitung abgeschlossen hatte und sich zum Gehen wandte.

»Bis dann und Danke fürs Essen.« Zumindest das war ich ihr schuldig. Allerdings sollte ich mir dringend eine Alternative zu dieser Essenssituation suchen, nicht, dass ich am Ende jede Mittagspause mit Cleo im Dagobert verbrachte. Ich schaute ihr nach, wie sie den Korridor entlang eilte, der sich langsam mit Menschen füllte.

»Ich freue mich auf Freitag«, rief sie noch, bevor sie hinter der nächsten Ecke verschwand. Verwirrt blieb ich zurück und brauchte einige Sekunden, bis ich den Satz einordnen konnte. Die Party! Ich fasste es nicht, wie hartnäckig sie war.

■■■

Ich hasste die enge schwarze Jeans und das langärmlige, aber schulterfreie, dunkelrote Oberteil, in das ich mich hineingezwängt hatte. Ich hasste die schwarzen Sneakers mit dem Plateauabsatz, die perfekt zu der Hose passten und meine Beine länger aussehen ließen. Ich hasste das Haus, vor dem ich stand, die Musik, die durch die Wände drang, die Lichter, die sich um die Fassade wickelten und die Menschen, die vor der Haustür ihr Bier genossen. Aber am allermeisten hasste ich mich dafür, dass ich hier stand. Äußerlich dazu bereit auf diese Party zu gehen und innerlich schäumend vor Wut auf mich selbst, dass ich mich doch hatte breitschlagen lassen. Jetzt wo ich hier stand, wurde mir auch vollends bewusst, was für ein Spiel Cleo mit mir gespielt hatte. Sie hatte mich immer wieder auf die Party angesprochen und mich jedes Mal etwas sagen lassen, was wie eine wage Zustimmung klang. Bevor ich diese dann widerlegen konnte, war sie davon gerauscht und ich hatte mit jedem weiteren Gespräch meine Zusage gefestigt. Wieso ich dann noch so unfähig war, keine feige Absage per WhatsApp zu schreiben, konnte ich mir selbst nicht erklären. Ich musste zugeben, Cleo spielte wirklich gut. Sie verwirrte einen mit ihrer Taktik so sehr, dass man am Ende gar nicht wusste, was man selbst eigentlich wollte. Doch nun war ich hier und hätte mich Cleo nicht in diesem Moment entdeckt, hätte ich es vielleicht doch noch zurück zum Auto geschafft und wäre rechtzeitig zum Krimi daheim gewesen. Stattdessen bekam ich wie auch schon die ganzen Tage zuvor eine Umarmung zur Begrüßung. Ich ließ es schweigend über mich ergehen.

»Bier?«, fragte sie mich und hielt mir eine Flasche hin.

»Alkoholfrei?« Sie nickte. Ich nahm ihr das Getränk ab und nahm einen Schluck. Gleichzeitig sehnte ich mich nach etwas Hochprozentigem. Was hatte ich mir eigentlich gedacht? Wie sollte ich denn diesen Abend nüchtern ertragen?

»Komm, lass uns reingehen.« Cleo dirigierte mich zur Haustür und ich schluckte meinen Protest hinunter, der mir auf der Zunge kitzelte. Ich musste ja nicht lange bleiben. Kurz mal reinschauen, eine Runde drehen und dann würde ich mich wieder vom Acker machen. Keine große Sache. Doch kaum hatten wir die Türschwelle übertreten, wurde mir bewusst, das hier war eine große Sache, und zwar bis ins kleinste Detail.

»Ach du Heilige, ist die Party immer so gut besucht?«

Das Haus war bis in die letzte Ecke gefüllt. Menschen drängelten sich aneinander vorbei, quetschten sich auf einer im womöglichen Wohnzimmer auserkorenen Tanzfläche zu einem sich wirr bewegenden Haufen und hatten im Allgemeinen große Mühe dem Gegenüber nicht das eigene Getränk überzukippen. Mein Plan, eine Runde zu drehen und dann zu verschwinden, löste sich in Luft auf. Hier kam man kaum einen Zentimeter voran.

»Ziemlich voll, nicht wahr?«, schrie Cleo über dem Lärm hinweg und trotzdem hatte ich Probleme, sie zu verstehen. Ich musste selbst einige Dezibel erhöhen, um ihr zu antworten.

»Allerdings. Ich hatte nicht mit so vielen Leuten gerechnet. Vor allem bei der Größe des Hauses.« Von außen hatte es mir nach einem ganz normalen Kleinfamilienhaus ausgesehen. Auch wenn ich die tatsächliche Größe von hier drinnen nicht mehr einschätzen konnte, war es eindeutig zu klein für so eine Masse von Menschen.

»Stimmt. Irgendwie artet es von Jahr zu Jahr mehr aus«, bemerkte Cleo, schien allerdings ganz angetan von dem Trubel und der lauten Musik, die aus jeder Ecke zu kommen schien. Währenddessen glaubte ich, eine Platzangst zu entwickeln. Das hier übertraf eindeutig meine Erwartungen und ich wusste noch nicht, ob im positiven oder negativen Sinne.

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