[19] • Irgendwie anders

In seiner vollen Schönheit ausgebreitet lag der apricotfarbene Jumpsuit auf meiner Bettdecke und hielt mich schon seit geraumer Zeit in einer anmutigen Starre gefangen. Besonders die Schleppe an der Taille als besonderes Etwas hatte es mir angetan. Von hinten erweckte es somit den Anschein, als trüge man ein Kleid. In meinem sonstigen Alltag war ich vorwiegend bequem unterwegs, was üblicherweise Jeans und Shirt bedeutete. Dieses Teil war somit viel zu edel für meine Verhältnisse, weshalb ich einfach nicht wusste, ob ich darin überhaupt eine graziöse Figur machen und diesem Stück Stoff gerecht werden konnte. Doch nachdem mir Cleo ihr Outfit präsentiert hatte, war mir klar gewesen, dass ich nicht in dem nächstbesten Lumpen zu diesem Ball hätte gehen können. Also musste etwas her, das ich sonst nie trug. Etwas, das sich trotz der Zweifel gut auf meiner Haut anfühlte, als ich mich endlich dazu überwunden hatte, den Jumpsuit anzuziehen. Mit angehaltenem Atem stellte ich mich vor den Spiegel. Natürlich hatte ich mich schon einmal darin gesehen, sonst hätte ich ihn schlichtweg nicht gekauft, aber dennoch war es ungewohnt, da ich so anders aussah. Um diese Veränderung möglichst auszugleichen, damit ich mir nicht doch am Ende absolut fremd vorkam, hatte ich mein Haar und Make-up soweit belassen wie gewohnt.

So wie ich nun hier stand und mein Spiegelbild betrachtete, wanderten meine Gedanken weiter zu dem, was mich heute noch erwartete. Mein Abend mit Jasper würde in nur wenigen Minuten beginnen und ab diesem Moment, so hatte ich es mir selbst erlaubt, würde ich unsere Zeit mit einer sorgenfreien Leichtigkeit genießen. Denn wir würden undefiniert bleiben. Undefiniert und vergänglich. Ich musste kein Wort in den Mund nehmen, das mich oder ihn zu irgendetwas verpflichtete. Unsere Bahnen verliefen nur für eine Weile nebeneinanderher, bevor wir dann wieder auseinanderdriften würden. Wir waren keine endlos parallelen Geraden. Soweit reichte mein mathematisches Verständnis.

Zum wiederholten Male fuhr ich mit den Handflächen an meinen Seiten entlang und entschied, dass ich bereit war. Somit zog ich mir meine Schuhe an und stöckelte mit dem Mantel in der Hand die Treppe hinunter. Mit sich ausbreitender Aufregung ließ ich mich bei meinen Eltern blicken, die es sich im Wohnzimmer vor dem Fernseher bequem gemacht hatten.

»Wow, Leonie!« Die Augen meiner Mutter weiteten sich überrascht, als sie mich im Türrahmen stehen sah. »Du siehst toll aus!«

»Bist du dir sicher, dass du zu einem Schulball gehst?«, warf mein Vater sogleich ein, nachdem er dem Blick seiner Frau gefolgt war.

Ich lachte nervös.

»Glaub mir, ich verstehe auch nicht, warum das Ganze eher einer Galaveranstaltung gleicht.« Oder war der Jumpsuit vielleicht doch zu viel?

»Du wirst auf jeden Fall die Schönste sein«, sagte er ehrlich und linderte sofort meine Bedenken.

»Danke!« Auch wenn die Komplimente von meinen Eltern kamen, konnte ich darauf vertrauen, dass ich mir zumindest nicht einen kompletten Fehlgriff geleistet hatte. Jedenfalls war meine Mutter, was Kleidung betraf, eine vertrauensvolle Kritikerin. Nur auf ihren Rat, meine zerfetzten Sneakers zu entsorgen, hörte ich auch nach Jahren nicht.

Um die Zeit zu überbrücken, bis Jasper mich abholen würde, setzte ich mich neben die beiden aufs Sofa und ließ mich vom Krimi unterhalten. An jedem anderen Freitag hätte ich diese Beschäftigung allem vorgezogen, doch diesmal hatte ich tatsächlich Lust auszugehen. Außer, dass ich auf Jasper, Cleo und Lars treffen würde, lag der Abend zwar in vollkommener Ungewissheit, aber ich hatte ein gutes Gefühl. Eine fast schon alles verdrängende Vorfreude. Dennoch versuchte ich, damit aufzuhören, mir die folgenden Stunden bereits in meinem Kopf mit allen erdenklichen Farben auszumalen. Mein Puls sollte nicht schon durch die Decke gehen, bevor Jasper überhaupt hier war. Ich ließ meinen Blick zu dem Zeichenpad gleiten, was auf den Beinen meines Vaters lag. Präzise führte er darauf den Stift hin und her, während er mit halbem Ohr dem Fernsehgeschehen zuhörte. Es war ihm schon immer schwergefallen, die Arbeit links liegen zu lassen, weswegen er sie mit jeder möglichen Freizeitaktivität verband.

»Wo ist denn der Maulwurf hin?« Die Tierfigur, an der er bis vor kurzem verzweifelt war, zierte diesmal nicht seinen Bildschirm. Stattdessen arbeitete er an seiner fortlaufenden Serie des kleinen Astronauten, der im Weltall unentwegt neue Abenteuer erlebte.

»Es hatte sich irgendwie so angefühlt, als wäre seine Zeit noch nicht gekommen«, antwortete er und zog weiter skizzenhafte Striche auf weißem Untergrund. Ich ließ meine Augenbrauen zu einer skeptischen Monobraue verwachsen. War das jetzt nur eine lahme Ausrede oder wirklich so ein Gefühl, das Autoren manchmal befiel? Allerdings konnte ich dieser Überlegung keine Lösung nachstellen, da mich die Türklingel unterbrach. Sofort waren meine Gedanken wieder ganz woanders. Genauer gesagt, bei der Person, die draußen auf mich wartete. Während mich die Aufregung in vollem Umfang einholte, schien in meinen Eltern die Neugier zu wuchern. Zwar versuchten sie, es zu verbergen, indem sie ruhig auf dem Sofa sitzen blieben, aber ihre gestreckten Hälse, mit denen sie mich verfolgten, verrieten sie. Ihre Blicke in meinem Rücken spürte ich deutlich, als ich die Haustür öffnete. Doch ich vergaß alles mit der Sekunde, in der mich Jaspers Augen erreichten.

»Hi«, sagte er etwas atemlos und ich musste bei seinem Anblick auch erst einmal wieder zu Luft kommen. Er steckte in einem passgenauen, schwarzen Anzug, den er mit einem weißen Hemd und einer ebenso schwarzen Fliege kombiniert hatte. Natürlich hatte ich damit gerechnet, dass er sich ebenfalls aufbrezeln würde. Doch ihn nun live so zurechtgemacht zu sehen, war dann doch nochmal etwas ganz anderes.

»Hi«, erwiderte ich schließlich, nachdem ich ihn gefühlt fünf Minuten nur betrachtet hatte. Seine Locken standen diesmal nicht wirr ab, sondern waren nach hinten gekämmt, was gut aussah, aber in mir auch das Bedürfnis entzündete, mit meinen Fingern in seine Haare zu gehen und dort die altgewohnte Unordnung reinzubringen. Bevor die Versuchung allerdings zu groß wurde, hatte mich auch schon wieder sein Blick eingefangen. Das Licht unserer Innenbeleuchtung spiegelte sich in seinen Augen und vermischte sich mit dem glitzernden Braun, das dadurch mit goldenen Pigmenten durchzogen war. Dann machte er einen Schritt auf mich zu und der veränderte Lichteinfall erzeugte wieder das bekannte Haselnussbraun, das mich immer sowohl verunsicherte wie beflügelte. Dass sich seine Augen derart wandeln konnten, machte es mir nur noch schwerer, von ihnen abzulassen, da ich ja keine Veränderung versäumen wollte.

Die Stimme meines Vaters verhalf mir jedoch dazu, wenn auch mit Schrecken. »Jasper, richtig?« Er stand plötzlich neben mir und zog die gesamte Aufmerksamkeit auf sich, die Jasper und ich gerade noch dem Gegenüber geschenkt hatten. Ich hatte meinen Eltern schon im Voraus erzählen müssen, wer mich heute Abend abholen würde. Mein Vater nutzte selbstverständlich die Gelegenheit, sich selbst ein Bild von meiner Begleitung zu machen, bevor wir verschwanden. Schnellstmöglich, so hoffte ich.

»Richtig.« Darauf folgte eine kleine Vorstellungsrunde, der ich stumm beiwohnte. Hoffentlich kamen sie nach dem Händeschütteln nicht noch auf die Idee, Smalltalk zu führen. Glücklicherweise wurde ich von dieser Peinlichkeit verschont und meine Mutter wünschte uns lediglich noch einen tollen Abend, ehe ich Jasper am Arm nach draußen dirigierte. Als die Tür hinter uns ins Schloss fiel, brachte ich allerdings ein wenig Sicherheitsabstand zwischen uns. Es war noch früh, wir mussten schließlich nichts überstürzen. Wir hatten die ganze Nacht Zeit, um Fehler zu begehen.

Jasper geleitete mich zum Auto, dem schwarzen kleinen Polo seiner Tante, der am Straßenrand auf uns wartete. Ganz dem Abend angemessen hielt er mir die Autotür auf. Ich trat an ihn heran und Jasper nutzte meine Unachtsamkeit, mich ihm so unvorbereitet zu nähern, um mich in Verlegenheit zu bringen.

»Du siehst wundervoll aus, Leonie. Ich hatte es dir sofort sagen wollen, aber-« Er verstummte und zuckte mit den Schultern. So wie er jetzt wohl nicht die richtigen Worte fand, hatte er es vielleicht eben auch nicht geschafft. Und Letzteres berührte mich fast noch mehr als das eigentliche Kompliment. Ihm ging es genauso wie mir. Außer meinem »Hi« hatte ich schließlich auch noch nichts über die Lippen bekommen.

»Das kann ich nur zurückgeben. Der Anzug steht dir wirklich gut«, sagte ich gedämpft und streckte, ohne nachzudenken, meine Hand über die Autotür hinweg, um anerkennend über den Schalkragen zu fahren. Keine Sekunde später bemerkte ich, was ich da tat, und zog meine verräterischen Finger schleunigst zurück.

»Danke«, sagte Jasper heiser und ich traute mich nicht, mein Gesicht anzuheben. Die Hitzigkeit, mit der er auf mich hinabschaute, durchdrang mich auch so. Wir waren keine zwei Minuten allein und schon verspürte ich ein sehnsüchtiges Ziehen in meinem Bauch. Als wären wir von Kinderkarussell direkt auf Achterbahn mit Dreifachlooping umgestiegen. Heiliger Bimbam! Schnell floh ich ins Auto und nutzte den kurzen Moment, den Jasper brauchte, um die Fahrerseite zu erreichen, zum Durchatmen. Vergebens, da wir direkt darauf wieder Schulter an Schulter saßen. Mein Sicherheitsabstand war dahin und mit ihm schwand auch der Willen, mich erneut von ihm zu entfernen. Sorgenfrei genießen, diesen Vorsatz musste ich mir selbst immer wieder vorsagen, doch allmählich, mit jeder weiteren Kleinigkeit, schien ich mehr danach handeln zu wollen.

Deshalb nahm ich mir noch einmal das Recht, ihn zu betrachten. Diesmal langsam und ausgiebig. Schamlos nutzte ich meinen Vorteil, während er sich auf den Verkehr konzentrieren musste. Wie unser Auto war auch dieses hier schlichtweg zu klein für ihn. Er stieß mit seinen Ecken und Kanten überall an und den Sitz hatte er so weit nach hinten gestellt, wie es nur ging, damit er nicht mit seinen Knien am Lenkrad hing. Aber dieses Auto war schließlich nicht für ihn ausgelegt und gekauft worden. Es gehörte seiner Tante, von der ich glaubte, ihr begegnet zu sein.

Ich hatte mir in den letzten Tagen über den Dienstagabend, über Marie, Jasper und die Frau namens Lora den Kopf zerbrochen, um ihn dann zusammenzuflicken und meine Gedankengänge so oft zu wiederholen, dass er mir erneut zerbrach. Und die einzig logische Erklärung, die ich mir mit meinen bisherigen Puzzleteilen zusammenstecken konnte, war, dass Lora die Tante der beiden sein musste. Ich hatte natürlich keine Sicherheit für meine Annahme, aber bis jetzt war es die Lösung, die für mich am meisten Sinn ergab. Vor allem würde sich dadurch bestätigen, wie richtig ich mit meiner Vorahnung gelegen hatte, dass die Familie, oder auch im speziellen Jaspers Eltern, kein angenehmes Gesprächsthema darstellten. Oder zumindest hatte ich Angst, dass dem so war, denn letzten Endes hatte ich absolut keine Ahnung, wie es ihm damit ging oder was überhaupt der Wahrheit entsprach. Und ich wusste nicht, ob ich jemals den Mut dazu aufbringen konnte, es herauszufinden.

Wir erreichten die große Turnhalle unserer Schule in Schweigen gehüllt. Die meiste Zeit hatte ich damit verbracht, Jasper von der Seite aus zu beobachten. Zwischen uns hatte sich etwas verändert. Alles schien irgendwie noch intensiver. Als wären wir uns plötzlich der Anziehung des anderen umso mehr bewusst, seitdem ich ihm meine Zustimmung gegeben und mir somit eingestanden hatte, dass ich ihn nicht wie einen zufälligen Bekannten behandeln konnte. Jedenfalls nicht, wenn wir in derselben Stadt lebten und somit immer wieder aufeinandertreffen würden.

»Bereit?«, drang Jaspers Stimme zu mir hindurch. Er schaute abwartend zu mir herüber, während er den Autoschlüssel langsam aus dem Zündschloss zog. Ich ließ meinen Blick über die Leute schweifen, die über den Parkplatz stolzierten und den Halleneingang ansteuerten. Alle waren unglaublich schick gekleidet, als wäre das hier wirklich kein normaler Schulball, sondern das Event des Jahres. Gut, im Leben eines Schülers konnte das vielleicht sogar stimmen. Welche Veranstaltung sollte man sonst schon besuchen, bei der solche Outfits angemessen waren?

Ich rieb mir über die Oberschenkel, fühlte den edlen Stoff unter meinen Handflächen. »Ich glaube«, antwortete ich mit einer ordentlichen Portion Anspannung. Zwar freute ich mich insgeheim immer noch auf den Abend, allerdings hatte ich auch noch nie solch einen Ball besucht. Das hier war nicht wie der erste Schultag, den ich schon so oft erlebt hatte, dass er nun absolut unbedeutend war. Das hier war etwas wirklich vollkommen Neues und ich hatte eigentlich geglaubt, dass ich solche Sachen von vorneherein verabscheuen würde. Aber meine versiegte Neugier war zurückgekehrt und sie wollte wissen, was dieser Tag noch zu bieten hatte.

Dieses fast schon vergessene Gefühl hielt ich fest, als ich aus dem Auto stieg, ohne darauf zu warten, dass Jasper mir die Tür öffnete. Dafür stand er allerdings vor mir, nachdem ich mich möglichst elegant in die Senkrechte manövriert hatte, und hielt mir den Arm hin, damit ich mich bei ihm einhaken konnte. Somit fanden meine Finger erneut ihren Weg zu ihm, legten sich diesmal um seinen Oberarm und zogen dort ungestüm kleine Kreise auf dem Anzugstoff, derweil wir langsam der Menschenmenge zum hell erstrahlten Gebäude folgten. Sein sinnlicher Duft nach Sommerfrische wehte mir entgegen, gemixt mit einem Spritzer Männerparfüm, und ich rückte noch ein kleines Stück näher an ihn heran. Und als wäre Jasper das noch immer nicht genug, legte er seine Hand über meine und machte somit die Berührung zu unser beider Bedürfnis. Sein Blick lockte mich und versicherte mir, dass ich es richtig gedeutet hatte. Wir fühlten das Gleiche. Das gleiche sehnsüchtige Kribbeln. Oh Gott. Mir war es zwar schon aufgefallen, aber diese Spannung zwischen uns stand wirklich kurz vor der Explosion. Ich konnte es nicht mehr leugnen, denn es gefiel mir bereits viel zu sehr. Meine Mundwinkel hüpften wie von selbst in die Höhe und auf Jaspers Lippen lag ein süßes Versprechen. Und vielleicht würde er mich davon kosten lassen. Irgendwann heute Nacht.

»Ah, da seid ihr ja!« Cleos Ruf ließ die Blase platzen, die Jasper und ich um uns aufgezogen hatten. Aber mich deswegen von ihm zu lösen, kam mir noch nicht einmal in den Sinn. Vielleicht grinste Cleo auch gerade deshalb so überschwänglich, da wir so offensichtlich aneinanderklebten. Aber ihr Gesichtsausdruck war nur ein Teil von dem, was ich an ihr bemerkte. Vielmehr stach mir zuerst ihre Aufmachung ins Auge. Ganz klar, mein Vater hatte sich geirrt. Die Schönste war hier eindeutig jemand anderes.

»Du siehst umwerfend aus, Cleo«, begrüßte ich sie und kam mir bei ihrem Anblick fast etwas verzaubert vor. Das blutrote Kleid, was sie mir letztens auf einer Shoppingseite gezeigt hatte, schlang sich nun um ihren Körper und betonte ihre wundervolle Silhouette. Passend zu dem seidenähnlichen Stoff hatte sie roten Lippenstift aufgelegt, der im Kontrast zu ihren dunklen Augen stand, aber auch gerade deswegen perfekt mit ihnen harmonierte. Ich nahm sie in den Arm, nur um mich daraufhin wieder an Jaspers Bizeps zu hängen. Nicht nur genoss ich seine Berührung, sondern er war auch eine ziemlich gute Stütze bei den hohen Hacken, die ich mir um die Füße geschnallt hatte.

»Ha! War das gerade ein Kompliment?« Ihr Grinsen wurde breiter, wenn das überhaupt noch möglich war.

»Kommt nicht wieder vor«, versicherte ich mit ernster Miene, die mir jedoch nicht lange gelingen wollte.

»Dann halte ich im Gegenzug mal direkt meinen Mund«, ärgerte mich Cleo, unwissend darüber, dass mich Jaspers Kompliment bereits von den Socken gehauen hatte und ich im Grunde froh war, mit keinem Weiteren umgehen zu müssen.

Doch abermals hatte ich die Rechnung ohne Jasper gemacht, der sich langsam zu mir hinunter beugte. »Ich sage dir gerne immer wieder, wie schön du heute aussiehst.« Das Funkeln in seinen Iriden verriet seine Intention. Ernst, gekreuzt mit der Absicht, mich abermals in Verlegenheit zu bringen. Doch so oder so schoss mir das Blut in die Wangen. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Cleo, allerdings schon.

»Puh! Okay, ich glaube, neben euch beiden bin ich eindeutig falsch aufgehoben.« Sie wedelte vor ihrem Gesicht hin und her, als würde sie einen Hitzeschwall abwehren wollen. Ich hätte die Bewegung nur allzu gerne nachgeahmt. Mir war plötzlich entsetzlich heiß, trotz des kühlen Herbstwetters. »Lass uns reingehen. Lars ist schon vor, um uns einen Tisch zu sichern.«

»Gute Idee«, stimmte ich ihr zu. Das war wohl die einfachste Möglichkeit, Jaspers fiese Machenschaften zu übergehen. Einen bösen Blick erntete er dennoch, als wir zusammen mit Cleo den Flur entlang gingen, was er mit einem Lachen zur Kenntnis nahm. »Du kannst es mir gerne heimzahlen, indem du mir noch einmal erzählst, wie gut ich dir im Anzug gefalle.«

»Das hättest du wohl gerne«, konterte ich empört. »Ja, sehr.«

»Ich kann euch immer noch hören«, rief Cleo dazwischen, bevor ich Jasper eine weniger schlagfertige Antwort entgegen schmettern konnte. »Und ehrlich gesagt, fühle ich mich von dieser Spannung in meinem Rücken etwas belästigt.«

»Dann hast du absolut keine Ahnung, wie die Blicke zwischen dir und Lars auf andere wirken.«

Damit hatte ich sie sichtlich aus der Fassung gebracht. Ihr Gesicht schimmerte rötlich, entweder weil es ihr peinlich war oder weil ich ihre Gedanken damit auf Lars gelenkt hatte. Wissen, was von beiden nun stimmte, wollte ich nicht. Mir reichte, dass sie es daraufhin nicht mehr wagte, uns wegen dieser Flirterei aufzuziehen. Ich musste das selbst erst einmal verarbeiten.

Als wir die Halle betraten, staunte ich nicht schlecht. Ich erkannte den Raum, in dem ich sonst immer in meinem eigenen Schweiß zu ertrinken drohte, nicht wieder. Die Wände waren mit cremeweißen Laken verkleidet, auf denen sich passend zum Herbstthema Unmengen an Blättergirlanden rankten. Über uns auf halber Höhe spannten sich unzählige Lichterketten durch die Luft, die die Halle in sanftes Licht tauchten. Lediglich die bunten Linien am Boden waren die letzten sichtbaren Hinweise, die diesen Saal noch als Sporthalle enttarnte. Um eine freie Fläche in der Mitte des Raumes, auf der sich schon einige Menschen zum Tanzen zusammengefunden hatten, verteilten sich runde, schlicht dekorierte Tische. Einen von ihnen steuerten wir an. Lars, Mel und noch ein paar andere Schüler, deren Namen ich nicht kannte, saßen schon dort und begrüßten uns ausgelassen, als wir uns dazu pflanzten. Während sich die anderen in Gespräche vertieften, war ich immer noch im Beobachtungsmodus und saugte die Umgebung in mich auf. Zu meiner Freude entdeckte ich in einer Ecke ein reichlich gefülltes Buffet.

»Wie kann es sein, dass die Schule so etwas zu Stande bekommt?«, fragte ich teils an Cleo gerichtet, die neben mir Platz genommen hatte. Innerlich dachte ich an die vielen Versuche meiner bisherigen Schulen, die so etwas in der Richtung geplant, aber immer kläglich daran gescheitert waren.

»Hier geht einiges nach dem Konzept -ich kenne da jemanden, der kennt da wen- und die Deko ist jedes Jahr dieselbe. Deswegen halten sich die Kosten in Grenzen und das Schülerkomitee kommt mit dem kleinen Eintrittsgeld aus, das sie mit dem Kartenverkauf einnehmen.« Cleo klang dabei nicht mal halb so fasziniert, wie ich es war. Aber vielleicht war sie es einfach schon gewohnt, dass der Ball wie die Jahre zuvor ein voller Erfolg wurde. Bei jeder anderen Schule wäre es nach dem gleichen Prinzip wahrscheinlich im kompletten Chaos ausgeartet.

»Verstehe«, sagte ich mit dem Blick nach wie vor aufs Buffet gerichtet. »Und beim Essen sind viele Eigenkreationen dabei«, fügte Cleo hinzu, die anscheinend bemerkt hatte, wo ich hängen geblieben war. »Kommt jemand mit Essen fassen?« Auf Cleos Nachfrage hin gingen einige Hände in die Luft und auch ich wollte mich ihr anschließen.

»Hast du auch Hunger?«, erkundigte ich mich bei Jasper, der bis gerade ebenfalls alles in Augenschein genommen hatte. Doch er war sofort wieder bei mir, als ich das Wort an ihn richtete.

»Immer«, betonte er und strahlte.

Das Buffet entpuppte sich als ein wahrgewordener Essenstraum. Von Süß bis Herzhaft war hier für jeden etwas dabei und ich spielte auf meinem Teller Tetris, damit ich so viel wie möglich kosten konnte. Jasper nahm sich ein Beispiel an meiner Strategie, häufte aber von allem einen Löffel mehr auf seine Pappscheibe.

Die Zeit verflog in Windeseile. Während Jasper und ich uns durch die verschiedenen Gerichte probierten, hatte Cleo mit Lars im Schlepptau schon mehrmals die Tanzfläche gestürmt oder war durch die Halle geschlichen, um Fotos für die Schülerzeitung zu machen. Ich hatte hingegen tatsächlich damit angefangen, mich mit den anderen Leuten am Tisch zu unterhalten. Es stellte sich heraus, dass eins der Mädels bei mir im Mathekurs war. Somit hatten wir ein Gesprächsthema gefunden, über das man sich wohl ewig auslassen konnte. Vor allem, da Jasper gerade irgendwohin verschwunden war, wo er Oskar und ein paar andere aus seiner Stufe entdeckt hatte, die er kurz begrüßen wollte. Dafür näherte sich mir irgendwann Cleo aus dem Hinterhalt und unterbrach meine Lästertriade über Herrn Vogt.

»Leonie! Es wird Zeit, dass du mit auf die Tanzfläche kommst.« Schwer atmend und immer noch im Takt der Musik wippend stand sie plötzlich neben mir, doch ich reagierte schnell. Glücklicherweise lag die perfekte Ausrede direkt neben mir; die Kamera der Schülerzeitung.

»So ein Pech aber auch! Ich wollte mich gerade nützlich machen und ein paar Fotos knipsen«, rettete ich mich vor ihrem Angriff und floh, bevor sie mich über die Schulter werfen konnte. Denn das traute ich ihr in jedem Fall zu.

Somit flanierte ich umher, die Kamera fest umgriffen und gab mir zumindest Mühe, ansehnliche Bilder zu schießen. Ich hütete mich davor, Jasper vor die Linse zu nehmen, da ich befürchtete, sonst nicht mehr den Finger vom Auslöser heben zu können. Und wie hätte ich das im Nachhinein Cleo erklären sollen? Doch er hatte mich sowieso schneller entdeckt als ich ihn.

»Ich dachte, du bist kein Teil des Dagobertteams.«

»Das stimmt auch noch immer. Ich brauchte nur eine Beschäftigung, um nicht von Cleo auf die Tanzfläche gezehrt zu werden.« Ich konzentrierte mich darauf, einen geeigneten Winkel zu finden, doch war mit keinem zufrieden, egal wie ich die Kamera drehte. Ich schaute zu Jasper hoch. »Meinst du, du könntest versuchen, ein Bild mit Blick von weiter oben zu machen?«

»Ja klar.«

In der Zeit, in der sich Jasper ebenfalls an seinen fotografischen Fähigkeiten probierte, holte ich uns zwei von den Krümelmonster-Muffins, die ich eben schon bestaunt hatte. Da ich mir sicher war, dass die Schulküche nichts mit dem Essen hier zutun hatte, hatte ich auch ausnahmsweise kein Problem damit, dass mich die Kulleraugen auf den blauen Kokosraspeln zu beobachten schienen.

»Hier.« Ich hielt Jasper einen der Muffinkreationen unter die Nase. Er legte sich die Kamera um den Hals und nahm ihn dankend entgegen.

»Die würden Marie sicher auch gefallen«, bemerkte er und inspizierte seinen kleinen Nachtisch von allen Seiten, während er das Papier vom Teig löste.

»Die sind fast zu schade, um sie zu essen.« Länger warten, tat ich trotzdem nicht und biss genüsslich hinein. »Mhm, aber lecker sind sie.« Jasper stimmte mir brummend zu und hatte den Muffin bereits nach zwei Happen verschlungen. Nur die Marzipanaugen hatte er übrig gelassen. »Magst du? Ich bin kein großer Fan dieses Zeugs.«

»Immer her damit.« Ich klaute mir die zwei Kugeln und ließ die süße Masse langsam auf meiner Zunge zergehen.

»Was isst du kuchentechnisch am liebsten?«, fragte ich daraufhin, um seinen Geschmack weiter abstecken zu können. Seine Stirn legte sich in Falten, als würde er ausgiebig darüber nachdenken. »Wenn ich mich für einen entscheiden müsste, dann wahrscheinlich Zitronenkuchen.«

Ich lächelte in mich hinein. »Das hätte man sich fast denken können.«

»Wieso?«

Oh. Wie sollte ich das jetzt erklären, ohne seltsam zu klingen? »Also, zumindest setzt du bei deinem Duschgel wohl auch auf Zitrone«, versuchte ich es mit der Wahrheit.

Gefährliches Interesse legte sich über sein Gesicht und brachte sein Grinsen zurück.

»Ach, das ist dir aufgefallen?«

»Ja, so ganz nebenbei«, murmelte ich und schob mir mein letztes Stück Muffin in den Mund, damit nicht noch ein paar mehr unüberlegte Worte hinauspurzeln konnten.

Und dann, als ich mich fast wieder in Sicherheit wog, schallten ruhige Klänge aus den Musikboxen. Es war nicht der erste langsame Song, der an diesem Abend gespielt wurde, doch der Erste, bei dem Jasper mich so anschaute, als würde er diesen gerne anders genießen wollen. Anders im Sinne von tanzend. Er kündigte sich nicht an, machte nicht denselben Fehler wie Cleo, sondern griff ohne Vorwarnung nach meiner Hand und zog mich mit einem Mal hinter sich her.

»Was hast du vor?«, protestierte ich, obwohl es so offensichtlich war. Unaufhaltsam schlängelte er sich immer weiter durch die Menge, machte kurz einen Abstecher zu unserem Tisch, um Mel die Kamera in die Hand zu drücken, und steuerte dann die Tanzfläche an. Und ich, ich stolperte hinter ihm her, machte aber keine großen Anstalten, mich gegen sein Vorhaben zu wehren. »Jasper, ich kann wirklich nicht tanzen.« Mein halbherziger Widerstand zeigte dementsprechend wenig Wirkung.

»Meinst du, ich?« Ich konnte mir ein Glucksen nicht verkneifen. Wenigstens würden wir uns gemeinsam zum Affen machen. »Na, zumindest bewegst du dich auf dem Basketballfeld souveräner als ich«, warf ich dennoch ein.

»Das ist aber auch schon alles. Aber tanzen kann doch auch nicht so schwer sein. Mit dir drehe ich mich auch gerne einfach nur im Kreis.« Und genau das taten wir dann auch.

Inmitten der anderen tanzenden Pärchen wirbelte er mich geradewegs in seine Arme. »Huch!« Völlig perplex versuchte ich Halt zu finden und krallte mich reflexartig in seinen Schultern fest, während er mich sofort an der Hüfte stützte. So nah. Wie damals, als er mich vom Regen durchnässt hierzu eingeladen hatte. Und jetzt waren wir tatsächlich hier und verloren uns aufs Neue in einem Moment der Wirklichkeit, der sich nicht mehr als solcher beschreiben ließ. Es war surreal, doch für einen Traum fühlten sich unsere Berührungen wiederum viel zu echt an. Seine Hände wanderten weiter. Die eine glitt über meine Taille und kam mit gespreizten Fingern auf meinem Rücken zum Erliegen. Mit der anderen umgriff er die meine und hielt sie an seine Brust gedrückt. Überall, wo er mich berührte, prickelte es. Mein Atem ging flach, als Jasper daraufhin begann, sich mit mir sachte im Takt der Musik zu wiegen. Ganz langsam hin und her.

»Siehst du, das ist gar nicht so schwer«, flüsterte er an meinem Ohr. Ich musste lachen. Er hatte recht. Mit jedem weiteren Schritt entspannte ich mich zusehends. Mein Griff um seine Schulter lockerte sich, bevor mich glatt der Mut packte und ich meine Finger zu seinem Nacken hinbewegte, wo sie feine Linien auf seiner Haut zeichneten. Meinen Kopf ließ ich gegen seine Halsbeuge sinken. Sein Puls an meiner Schläfe, der taktlos der Musik vorauspochte. So schnell wie meiner.

Ich wusste nicht, wie lange wir uns um unsere eigene Achse drehten. Das Einzige, was ich realisierte, war, wie eng umschlungen wir dabei waren.

»Denkst du, es wäre eine schlechte Idee, sich in diesem Aufzug auf einen Zebrastreifen zu legen?«

Und wir drehten uns weiter. Ein oder zwei, vielleicht auch ein drittes Mal.

»Wahrscheinlich ja, aber ich kenne da noch einen anderen Ort, der diesem Abend vielleicht mehr gerecht wird.« Ich spürte die Vibration seiner Worte. So hätte ich ihm ewig zuhören können.

»Und würdest du ihn mir zeigen?«, hauchte ich.

»Jetzt?«

Ich hob meinen Kopf an und schaute ihm geradewegs in die Augen. Diesmal waren sie beinahe schwarz.

»Ja.«

Mehr Worte waren nicht nötig. Dieses Ambiente war perfekt, aber nicht für uns. Wir wussten beide, dass wir jetzt gerade etwas ganz anderes brauchten. Wir brauchten die Erde unter den Füßen und den endlosen Himmel über unseren Köpfen. Und dorthin flohen wir. Tief hinein in die kühle Herbstnacht.

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