[18] • Unter fremden Dächern
»Das ist nicht dein eigenes Auto, oder?«, fragte ich skeptisch und hielt eine Deoflasche gefüllt mit Rosenduft in die Höhe, die vor mir im Fußraum neben einer Haarbürste gelegen hatte.
»Wieso? Denkst du, Rosenduft steht mir nicht?«, entgegnete Jasper mit aufgesetzter Empörung, während er das Auto vom Parkplatz auf die Straße lenkte. Ich bedachte ihn mit wissender Miene, was ihm nach nur wenigen Sekunden ein Lachen entlockte. »Das Auto gehört meiner Tante«, erklärte er dann.
Da ich ihn schon des Öfteren an der Haltestelle gesehen hatte, ging ich davon aus, dass er normalerweise mit dem Bus fuhr. Er hatte sich also extra das Auto seiner Tante ausgeliehen. Hatte es nur mit mir zu tun oder mit der Sache, die er noch zu erledigen hatte?
»Und was für einen kleinen Abstecher machen wir jetzt?«, bohrte ich weiter, um die losen Punkte in meinem Kopf verbinden zu können. Mir fiel auf, wie wenig ich doch von ihm wusste. Es lag noch so vieles von ihm im Verborgenen und gleichzeitig reichte das, was ich von ihm kennengelernt hatte, aus, um mich in seinen Bann zu ziehen. War es da wirklich so klug, mehr Klarheit um ihn herum zu bringen?
»Wir sammeln jemanden ein.« Mir rutschte das Deo aus den Fingern. Wie bitte? Verwirrung spiegelte sich in meinen Augen, derweil ich versuchte Jasper zu durchschauen. Doch er starrte aufmerksam geradeaus und ließ sich nicht anmerken, dass er gerade eine Mini-Bombe platzen gelassen hatte.
»Warte mal, heißt das wir essen nicht zu zweit?« Ich musste mich vergewissern, denn Jasper machte nicht den Anschein, als wollte er noch eine Erklärung hinzufügen. Warum spannte er mich so auf die Folter?
Für einen kurzen Atemzug drehte er mir sein Gesicht zu. Seine Lippen hatten sich zu einem amüsierten Grinsen verzogen. Seine Mundwinkel sahen hinreißend aus und das Funkeln in seinen Augen entzündete in mir einen kleinen Wirbelsturm, der mein Inneres etwas zu sehr ins Chaos stürzte. »Hätte dir das lieber gefallen?«, fragte er frech, worauf sich die Röte auf meinen Wangen abzeichnete.
»Das war nicht das, was ich damit sagen wollte«, maulte ich kleinlaut und sah angestrengt aus dem Fenster.
Zum Glück musste sich auch Jasper wieder auf den Verkehr konzentrieren, sodass ich wenigstens meinen Puls beruhigen konnte. Doch seine Frage blieb bei mir irgendwo zwischen Herz und Gehirn stecken und suchte dort verzweifelt nach dem, was ich wirklich wollte. Nicht lange und ich musste mir eingestehen, dass ich gerne allein mit ihm gewesen wäre, so wie die letzten Male. Immer wieder spielte mein Kopf zu den unmöglichsten Zeiten winzige Schnipsel unserer Treffen ab, als hätte er diese in kleinste Teile fragmentiert und sicher abgespeichert wie ein gut sortiertes Filmarchiv. Stets bereit, um mich in eine Spirale der zuvor gefühlten Emotionen und gedachten Fantasien zurückzukatapultieren. Nur hatte Jasper diesmal etwas anderes geplant und das verunsicherte mich in gewisser Weise. Vor allem, was für ein Dreiergespann sollte das jetzt werden?
Jasper ahnte, dass ich mir gerade den Kopf zerbrach und kurz davorstand, ihn weiter auszuquetschen, weshalb er von sich aus erneut das Wort übernahm. Jedoch war er dabei nicht gerade kooperativ und führte sein Rätsel fort.
»Keine Sorge, sie ist eine ganz Liebe. Jedenfalls meistens.«
Sie? Allmählich entwickelte sich mein Entschluss, zu ihm ins Auto zu steigen, zu einem echten Fehler. In der Zeit, in der ich mich mal wieder selbst verfluchte, hielt Jasper nach der nächsten Kreuzung am Straßenrand, löste seinen Gurt und öffnete die Fahrertür.
»Bin gleich wieder da«, meinte er noch, bevor er ausstieg.
Ich beobachtete ihn, wie er um die Motorhaube herumging, wenige Schritte dem Bürgersteig folgte und dann hinter einer Backsteinmauer verschwand. Auf was hatte ich mich denn da wieder eingelassen? Stille breitete sich um mich herum aus, die sich jedoch nicht lange bewährte, da sich kurz darauf Kinderstimmen unter sie mischten. Jungen und Mädchen kamen den Weg entlang, auf dem sich Jasper eben von mir entfernt hatte. Vereinzelt wurden sie begleitet von Müttern und Vätern, die ihre Kinder an der Hand hielten, während diese aufgeregt auf sie einredeten. In mir kam eine Vermutung auf, wen Jasper mir gleich vorstellen würde. Und ich war eindeutig nicht dafür bereit, einem Teil seiner Familie zu begegnen.
Doch es war unumgänglich. Es war zu spät, um jetzt noch aus dem Auto zu flüchten, denn Jasper kehrte bereits zurück. Im Schlepptau ein junges Mädchen im Grundschulalter, das freudig neben ihm hin und her hopste. Es war unverkennbar seine kleine Schwester. Sie stellte zwar mit ihren weichen Gesichtszügen einen ziemlichen Kontrast zu ihm dar, hatte aber dafür die gleichen Feinheiten aufzuweisen. Das braune lockige Haar, was ihr bis auf die Schultern fiel, die aus demselben Farbeimer zusammengesetzten Augen und schöne, volle Lippen. Sie lachte über ihr ganzes Gesicht und ihr großer Bruder erwiderte es mit einer Leichtigkeit, dass mir warm ums Herz wurde, so sehr ich es auch zu unterdrücken versuchte. Ihn so glücklich zu sehen, war wie aufs Meer hinauszustarren, man konnte nicht genug davon bekommen. Von den Tiefen, den Konturen und dem Gefühl, so etwas wie angenehme Sehnsucht, die einem beim Anblick überkam. Deshalb schaffte ich es auch nicht, mich abzuwenden, bis die beiden schließlich an mir vorbei gingen und Jasper die Autotür hinter mir öffnete. Das Rauschen in meinen Ohren ebbte ab.
»Rein mit dir«, wies er seine Schwester an, die sich daraufhin auf das Polster hievte. Ich drehte mich in meinem Sitz zu ihnen um. Ich konnte schließlich nicht so tun, als wäre ich nicht da. Auch Jasper steckte seinen Kopf kurz zu uns ins Innere des Fahrzeugs und übernahm die Vorstellungsrunde.
»Leonie, das ist Marie, meine kleine Schwester. Marie, das ist Leonie.« Man merkte ihm an, dass er eigentlich noch einen Nebensatz hinzufügen wollte, schloss dann aber doch den Mund. Als was hätte er mich wohl bezeichnet?
»Hi, Marie«, begrüßte ich die Kleine auf dem Rücksitz mit dieser komisch verstellten Stimme, die die meisten Menschen aufsetzten, wenn sie mit Kindern sprachen. Ich fand es jedes Mal schrecklich, wenn andere es taten, wusste aber selbst nicht, wie man es abstellte. Als hätte man das Bedürfnis, sich stimmlich ihnen anzupassen, da man glaubte, sie würden einen so besser verstehen.
»Hallo«, fiepste Marie und schenkte mir ein süßes, kleines Lächeln. Verdammt, das war ja tatsächlich furchtbar ansteckend. Ich wandte mich wieder der Frontscheibe zu, während Jasper um das Auto herum joggte und sich hinter dem Steuer niederließ.
»Angeschnallt?«, informierte er sich, bevor er den Motor startete.
»Natürlich!«, kam es von hinten und Jasper fuhr an. Ich fragte mich, was diese neue Situation jetzt zu bedeuten hatte. Jasper hatte mir schließlich schon indirekt mitgeteilt, dass wir nicht nur zu zweit essen würden. Sicher war also, dass Marie mit dabei sein würde, aber ungeklärt blieb immer noch, welches Endziel wir nun verfolgten. Und diese Ungewissheit, die ich vorhin noch so reizvoll gefunden hatte, machte mir dann doch zu schaffen. Ich war nicht darauf eingestellt, dass sich das Ende meines Tages so familiär gestalten würde. Im Grunde war ich es nie, besonders wenn es eine andere Familie war als die meine.
Während die beiden anfingen, sich über Maries Turnstunde zu unterhalten und die Kleine dabei haarklein erzählte, wie gut sie sich zum Abschluss beim Mohrrübenziehen geschlagen hatte, schrieb ich meinen Eltern eine kurze Nachricht und informierte sie darüber, dass ich unterwegs war.
»Kennt ihr beiden euch aus der Schule?«, war dann das Erste, was ich wieder vernahm, nachdem ich mein Handy weggesteckt hatte.
»Ja, genau«, antwortete Jasper in unser beider Namen, wobei dieser Punkt nicht ganz stimmte, wenn man es genau nahm. Aber ich würde einen Teufel tun, hier ein kleinkariertes Kommentar einzufügen.
»Seid ihr auch in der gleichen Klasse?«, fuhr Marie neugierig fort, derweil ich Jasper aus den Augenwinkeln beobachtete. Er hatte die letzten Minuten vergnügt mit seiner kleinen Schwester gequatscht, doch jetzt, wo das Gesprächsthema mich implizierte, war er auf einmal kurz angebunden. Er nahm seine Aussage vom letzten Mal überraschenderweise ziemlich ernst. Er definierte nichts, was die gesellschaftlichen Umstände überstieg, und blieb deshalb recht sachlich.
»Nein. Leonie ist eine Stufe unter mir.« Mich hätte schon ein wenig interessiert, was er sich zusammengereimt hätte, hätte Marie ihr Verhör noch weitergesponnen. Allerdings bog er im nächsten Moment in die Straße ein, die ich sofort als den Ort identifizierte, an dem ich ihn nach unserer ersten Begegnung abgesetzt hatte. Und dort, nur wenige Meter weiter, stand das Haus, in dem er daraufhin verschwunden war. Bitte, lieber Gott, das durfte doch nicht wahr sein! Mit Entsetzen musste ich feststellen, dass Jasper immer langsamer wurde und erneut am Straßenrand zum Erliegen kam. Als Marie dann gleich darauf aus dem Auto sprang und zur Haustür eilte, dämmerte es mir unmissverständlich, dass wir unser Ziel wohl erreicht hatten.
»Wir sind bei dir zuhause«, flüsterte ich und drehte daraufhin ein paar Dezibel auf. »Warum sind wir bei dir zuhause?«
Jasper, der sich ebenfalls bereits abgeschnallt hatte, hielt in seiner Bewegung inne und setzte seinen Gesichtsausdruck von eben auf, der einem deutlich machte, dass er nicht immer so unschuldig war, wie es sonst den Anschein hatte. Er war gefuchst, das musste man ihm lassen.
»Wir essen.« Das Fünkchen Hoffnung, das in mir ums Überleben gekämpft und darauf beharrt hatte, dass Jasper sich nur einen Spaß erlaubte und wir Marie lediglich daheim absetzen würden, starb eines elenden Todes. Dieser Kerl trieb mich langsam in den Wahnsinn! »Hunger?« Das Vergnügen stand ihm offen ins Gesicht geschrieben.
»Mordshunger«, murrte ich und brachte ihn damit ungewollt zum Lachen. Wir stiegen aus und ich folgte ihm zur Haustür, wo Marie schon ungeduldig auf uns wartete.
»Jassi, mach schnell. Ich will nicht den Anfang verpassen!«, rief sie und fummelte an dem Saum ihres gelben Sonnenblumenoberteils herum.
Jassi beeilte sich, den richtigen Schlüssel ins Schloss zu stecken, und kaum hatte er die Tür einen Spalt weit geöffnet, war seine Schwester auch schon hindurch geschlüpft.
»Um was geht's?«, fragte ich, als ich nach Jasper den Flur betrat. Mit zwei schnellen Handgriffen räumte er Maries Sachen, die sie achtlos auf dem Boden verstreut hatte, beiseite und schälte sich dann aus seinen Sneakers. Ich tat es ihm gleich.
»Ihre Lieblingssendung. Sie hat zwar wahrscheinlich schon jede Folge davon fünfmal gesehen, aber ein sechstes Mal schadet sicher nicht. Wenigstens verschafft mir ihre Fernsehversessenheit immer ein bisschen Zeit, um uns Essen zu machen.«
Er ging mir voran durch den schmalen Flur. Gegenüber dem Wohnzimmer, in dem ich Marie mit großen Augen auf einem alten Sofa sitzen sah, ging die Küche ab, in die wir einbogen. Durch den Esstisch, der mit im Raum stand, hielt sich die Bewegungsfreiheit dort in engen Grenzen. Allgemein war das Haus nicht sonderlich groß. Kein Möbelstück passte hier so wirklich zum anderen, als hätte man aus jeder Stilrichtung ein Teil genommen und daraus die Einrichtung gebastelt. Es war gemütlich, hatte Charakter, doch wirkte an manchen Stellen auch ein wenig überladen.
»Tut mir leid wegen der Unordnung«, meinte Jasper und stellte das dreckige Geschirr, was anscheinend vom Frühstück übriggeblieben war, in die Spüle. »War heute Morgen etwas knapp, um noch aufzuräumen.«
»Kein Problem«, sagte ich sofort. Ich war kein Typ, bei dem man sich für seine Unordnung entschuldigen musste. Durch Cleo war ich da sowieso schon an andere Extreme gewöhnt. Viel eher dachte ich darüber nach, ob Jasper hier im Haushalt übermäßig helfen musste. Es kam mir jedenfalls so vor, als trüge er einen großen Teil der Verantwortung damit der Laden lief, schon um seiner Schwester willen. Vielleicht war ich aber auch einfach andere Standards gewöhnt. Ich hatte keine Geschwister und mein Vater war die meiste Zeit daheim, sodass ich nicht das Gefühl hatte, mich um viel kümmern zu müssen.
Etwas unbeholfen stand ich nun inmitten des Zimmers und versuchte, mir ein genaueres Bild von Jasper in dieser neuen Umgebung zu machen. Man hätte ihn zweimal zusammenfalten können und er hätte durch seine Größe immer noch den Raum dominiert. Er nahm ihn ein, ebenso die Luft um mich herum, und mit jeder Sekunde wurde mir umso mehr bewusst, dass seine Wirkung, eingeschlossen in diesen schmalen vier Wänden, noch viel stärker auf mich war. Von jetzt auf gleich wurde ich nervös und je mehr ich ihn beobachtete, desto schwerer fiel es mir, meinen Blick auf etwas anderes zu lenken. Jasper bemerkte mein Starren. Ich hatte auch nicht sonderlich darauf geachtet, es unauffällig zu tun. Doch nun, als er daraufhin eine Reaktion zeigte und sich ein warmes Lächeln auf seine Lippen legte, war es mir dann plötzlich doch zu viel.
»Und was gibt es zu essen?«, griff ich unser Gespräch auf und machte uns wieder den eigentlichen Grund bewusst, warum ich hier in seiner Küche stand. Dieser war mir nämlich irgendwo auf dem Weg von seinen wirren Haaren zu seinen großen Händen völlig entglitten.
»Ich hoffe, Spaghetti carbonara ist okay für dich.« Er zog eine Packung Nudeln aus einer der Schubladen hervor. »Denn ehrlich gesagt, kann ich auch nicht viel mehr Gerichte zubereiten, auch wenn ich eigentlich meine Kochkünste über die Jahre hätte erweitern müssen.«
»Ich glaube, da sind wir ungefähr auf einem ähnlichen Level. Der Vorschlag ist also mehr als nur in Ordnung«, beruhigte ich ihn und trat zu ihm an den Tresen. Achtlos fuhr ich mit den Fingern über die Steinplatte und musste schmunzeln.
»Was ist?« Ich schaute zu ihm hoch. »Ich hatte nur heute Morgen nicht damit gerechnet, jetzt in deiner Küche zu stehen und mit dir gemeinsam zu kochen.« Schon das Alleine-Kochen war bei mir eine Seltenheit.
»Und ich habe mich darauf gefreut, als ich heute Morgen darüber nachgedacht habe, dich einzuladen«, sagte er ehrlich und ließ für drei Herzschläge seine Hand über meinen Unterarm gleiten. Hauchzart, sodass sich die feinen Härchen ihm entgegenstellten, als er sich wieder von mir löste. Warum war ich jetzt noch einmal hier? Richtig, kochen. Ich senkte meinen Blick und fixierte die Spaghetti in ihrer Plastikverpackung.
»Also, was kann ich tun?«, fragte ich und zwang ihn wieder dazu, größere Bewegungen zu tun.
»Du könntest schon einmal das Eigelb mit der Butter verquirlen«, schlug er vor, während er sich von mir entfernte und aus dem Kühlschrank die entsprechenden Zutaten hervorholte. Er breitete alles vor mir aus und stellte mir dann eine Schüssel vor die Nase.
»Alles klar, wird gemacht.« Voller Tatendrang wollte ich schon zur Butter greifen, vielleicht um mich endlich von Jaspers Präsenz ablenken zu können, als er mich zurückhielt. »Warte, ich gebe dir eine Schürze.«
Ich schaute an meinem weißen Shirt herunter. »Ich denke, das kriege ich schon hin, ohne mich dreckig zu machen.« Wenn ich etwas geschickter wäre, fügte ich lautlos hinzu.
»Man weiß ja nie«, argumentierte er und stand bereits hinter mir, bevor ich noch einmal zum Protestieren ansetzen konnte. Seine Arme streckten sich über mich hinweg und ehe ich mich versah, lag mir auch schon eine rote Schürze um den Hals. Ich hab's versucht prangerte nun in großen, weißen Buchstaben auf meiner Brust. Doch anstatt mich dadurch in meinen minimal vorhandenen Kochkünsten gekränkt zu fühlen, zog Jasper meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Ich spürte genau, wie er die einzelnen Haarsträhnen, die noch unter dem dünnen Stoffband klemmten, sachte hervorzog. Seine Fingerspitzen glitten dabei über meine empfindliche Haut unter meinem Ohr bis hin zu meinem Nacken. Darüber legte sich sein warmer Atem, der mir wiederum die Luft nahm. Ich schluckte schwer. Die Gänsehaut konnte ich nicht verhindern und auch dieses Genussgefühl, das er in mir auslöste, machte es unmöglich, einen anderen Gedanken zu fassen. Ich konnte mich nur auf ihn konzentrieren.
»Plumpe Aktion, um mir nahezukommen.« Meine Worte waren nichts weiter als ein stimmloses Murmeln. Ein kläglicher Versuch, dieser Berührung eine Art Komik zu verleihen, die Jasper jedoch sofort wieder dem Erdboden gleich machte.
»Ich genieße es dennoch. Sehr sogar.« Holla!
Seine Hände wanderten zu meiner Taille, wo er die zwei losen Bänder hinter meinem Rücken zu einer Schleife zusammenknotete.
»Gut so?« Ja, seufzte ich in Gedanken, begleitet von meinem klopfenden Herzen und dem Brennen auf meiner Haut, das noch anhielt, obwohl er sich längst zurückgezogen hatte. »Ist gut so«, sagte ich stattdessen und rückte die Schürze gerade. Ich atmete tief ein, versuchte all dieses nach ihm zehrende Verlangen aufzusaugen und in einem Zug wieder auszustoßen. Es klappte so mittelmäßig.
In Schweigen gehüllt ging jeder seinen stumm gewählten Aufgaben nach. Und auch wenn mir die Ruhe gefiel, in der wir für einige Minuten versanken, dennoch die Zweisamkeit auf eine heimliche Weise genossen, konnte ich nicht das Bedürfnis unterdrücken, mehr über ihn erfahren zu wollen.
»Holst du Marie immer nach der Schule ab?« Seine Schwester erschien mir als ein guter Einstieg, um solch ein Gespräch zu beginnen.
»Nein, nicht immer. Nur dienstags schaffe ich es, da sie nach dem Unterricht noch beim Kinderturnen ist. An den restlichen Tagen kümmert sich unsere Nachbarin um sie, bis jemand daheim ist. Zum Glück liebt sie es, wenn Marie vorbeikommt. Sie freut sich immer über ein wenig Gesellschaft.«
Auch wenn Jasper bezüglich seiner Schwester offen mit mir sprach, wollte ich nicht allzu sehr auf dem Thema Familie herumreiten. Ich hatte noch immer die Befürchtung, dass ich damit eine unangenehme Stimmung provozierte.
»Spielst du deshalb nicht mehr Basketball im Verein, weil du dann noch öfter außer Haus wärst?«
»Richtig. Unser Team war ziemlich gut.« Er drehte den Herd aus und kippte die Nudeln durch ein Sieb. »Es ist ziemlich gut«, korrigierte er sich dann und ein klein wenig Stolz schwang in seiner Stimme mit. Auch wenn er nicht mehr Teil dieses Teams war, schien es ihm immer noch etwas zu bedeuten. »Aber die vielen Spiele, das ganze Training, das diesen Erfolg überhaupt erst möglich macht, habe ich auf Dauer einfach nicht mehr mit der Familie unter einen Hut bekommen. Da ist ein kurzes Game in der Pause um einiges zeitsparender.«
»Und wahrscheinlich um einiges einfacher zu gewinnen«, warf ich mit einem Grinsen ein, was sofort auf ihn überging.
Entgegen meiner Erwartung zeigte er keine Anzeichen von Wehmut oder Ärger. Zwar konnte ich mir vorstellen, dass er das Spielen in einer Mannschaft insgeheim vermisste, doch sich dafür um seine Schwester zu kümmern, empfand er nicht als weniger wertvoll. Er tat es nicht nur, weil er es musste.
»Und nach der Schule, was möchtest du dann machen?« Er wog seinen Kopf hin und her, während er anfing, den Tisch zu decken. Derweil fügte ich den angebratenen Schinken zu dem Ei-Butter-Gemisch hinzu und goss die fertige Soße über die Spaghetti.
»Ich weiß es noch nicht genau. Wenn man bemerkt, dass ich in ein paar Monaten meinen Abschluss mache, bin ich in der Hinsicht wohl ein ziemlicher Spätzünder.«
»Beruhigend. Ich habe mich schon schlecht gefühlt, als Cleo mir ihre Zukunftspläne gegen den Kopf geknallt hat.«
Jasper lachte und legte einen Untersetzer auf den Tisch, auf dem ich den Topf mit den Nudeln abstellen konnte.
»Weitreichende Pläne entwickeln sich sowieso immer anders, als man sie konzipiert«, philosophierte er vor sich hin.
»Da gebe ich dir recht.« Ich dachte an die vielen Ausflüge und Treffen, die ich erlebt hätte, wäre ich nicht davor in eine andere Stadt gezogen. Vielleicht hatte auch Jasper in dieser Richtung schlechte Erfahrungen gemacht.
»Marie, Essen ist fertig!«, rief er, als wir schließlich alles angerichtet hatten. Nur wenige Sekunden später kam sie durch die Tür gestürmt und hopste auf einen der Küchenstühle.
»Oh, das riecht toll!«, schwärmte sie, worauf Jasper ihr einen kleinen Berg Nudeln auf den Teller häufte. Ich setzte mich ihr gegenüber und reichte Jasper meinen Teller, als er die Hand danach ausstreckte.
Ich hatte befürchtet, dass mich während dem Essen wieder die Anspannung beschlich, da ich mich trotz der guten Stimmung irgendwie etwas deplatziert fühlte. Es war einfach kurios, bei dem Typen daheimzusitzen und sich mit dessen kleiner Schwester zu unterhalten, wenn man im Hintergrund darüber faszinierte, auf sein unverbindliches Angebot einzugehen. Doch die lockeren Unterhaltungen am Esstisch entspannten mich. Jeder erzählte von seinem bisherigen Tag, das Meiste hatte wohl Marie zu berichten und ich hörte ihr unheimlich gerne zu. Sie sprach von ihren Freunden und Hobbys mit solch einer Freude, dass ich hoffte, sie würde nichts davon irgendwann einmal aufgeben müssen. Jasper musste es genauso gehen, so sehr, wie er sich um seine Schwester zu bemühen schien.
Die Zeit verflog schneller, als ich es für möglich gehalten hatte. Unsere kleine Runde löste sich erst mit der Abendröte, die sich bereits draußen vor dem Fenster über den Himmel legte. Während Marie sich daraufhin mit ihren Hausaufgaben an den Tisch setzte, räumten Jasper und ich das dreckige Geschirr zusammen und starteten einen schnellen Spülgang.
»Jassi, du musst mir gleich bei Sachkunde helfen«, nuschelte Marie gebeugt über eins ihrer Übungshefte.
»Kein Problem. Um was geht's?« Sie hörte auf, auf ihrem Bleistift herumzukauen. Wie sehr mich das doch an meinen Vater erinnerte. »Wir sollen eine Europakarte beschriften.«
»Das müsste zu schaffen sein«, mutmaßte er und zwinkerte seiner kleinen Schwester über die Schulter hinweg zu.
Ich wusste bereits, was Jasper zu mir sagen würde, als er sich mir zudrehte. Krampfhaft versuchte ich, mich zu wappnen, um ihm nicht noch einmal zu verfallen. Doch diese zwei braunen Magneten unterhalb seiner Augenbrauen machten es mir verflucht schwer.
»Bleibst du noch, Leonie?« Er flüsterte, vielleicht damit Marie sich nicht in die Entscheidung einmischte. Dabei war er es, der durch seine plötzliche Nähe meine Antwort hinauszögerte. Vielleicht war es aber auch wieder eine seiner Taktiken, um mich um den Finger zu wickeln. Zumal er wirklich schöne Hände hatte, eingetaucht in Seifenwasser.
»Ich glaube, ich sollte so langsam los. Zuhause warten auch noch ein paar Hausaufgaben auf mich«, brachte ich mit Mühe hervor.
Zwar war das keine Lüge, dennoch wäre mir nicht in den Sinn gekommen, meinen restlichen Abend mit Mathe zu verschwenden. Doch ich sollte einen Abgang machen, bevor hier noch mehr Familienmitglieder aufschlugen. Auch wenn Marie zuckersüß war, war ihre Bekanntschaft für heute mehr als ausreichend. Jasper nickte nur. Hätte er mich gerne noch zum Bleiben überredet?
Ich trocknete den letzten Teller ab und stellte ihn zu den anderen ins Regal. Jasper schaute in der Zwischenzeit über Maries Kopf hinweg und prüfte interessiert, ob sie mit ihren restlichen Aufgaben zurechtkam. Vereinzelt wies er sie auf einen Fehler hin. Als ich mich zu ihnen gesellte, blickte er wieder zu mir auf.
»Komm, ich bringe dich noch zu Tür«, meinte er.
»Danke. Tschüss, Marie«, verabschiedete ich mich, worauf sie sofort reagierte.
»Tschühüüs!« Ihr Strahlen machte auch diesmal ein Entkommen unmöglich. »Komm bald mal wieder.«
»Sicher«, sagte ich wie hypnotisiert und hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Jasper meine Worte im Nachhinein gegen mich verwendete. Auch das hier würde er sich für eine spätere Gelegenheit merken, da war ich mir sicher. Sein Schmunzeln war Bestätigung genug.
Zurück im Flur griff ich nach meinen Schuhen und stülpte sie mir in Windeseile über. Jasper stand daneben und sah auf mich herunter. Wir fanden sofort den Blick des anderen, als ich mich wiederaufrichtete. Es war unwirklich, wie schnell ich mich in seinen Augen verlor.
»Also dann«, begann ich unschlüssig. Für einen kurzen Moment zeigte Jasper keine Regung, als wäre er selbst gerade irgendwo anders. Irgendwo in meinen Augen. Diese Vermutung traf mich mit voller Wucht. Ich wusste nicht, was passiert wäre, hätte Marie nicht ein Zimmer weiter gesessen. Doch es hätte nicht hier geendet. Nicht mit diesen Worten.
»Es war wirklich schön, dass du hier warst.«
»Ich konnte mich ja auch nicht groß dagegen wehren«, erinnerte ich ihn an sein unfaires Spiel, das er mit mir getrieben hatte.
»Stimmt. Tut mir leid.« Eindeutig gelogen. Das war nicht zu übersehen.
»Aber danke für den Nachmittag. Ich fand es auch sehr schön.« Dabei dachte ich sogar nicht nur an ihn. Ich hatte auch Maries Anwesenheit sehr genossen.
»Leonie.« Meine Hand lag bereits auf der Türklinke, als mich Jasper mit einer sachten Berührung am Oberarm stoppte. »Hast du über das nachgedacht, was ich letztens gesagt habe?« Ich wusste sofort, worüber er sprach. Ehrlich gesagt hatte ich auch nicht erwartet, dass er mich gehen gelassen hätte, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Ich nickte, denn ich hatte auf jeden Fall darüber nachgedacht. Und wie ich darüber nachgedacht hatte. Ich wusste, wenn ich mit ihm zum Herbstball ging, dann war meine Entscheidung gefallen. Tief im Inneren war sie das jedoch bereits. Er bot mir von sich aus etwas an, ohne auch nur eine Verpflichtung, und die Versuchung, das in vollen Zügen zu genießen, war einfach zu groß, um zu widerstehen.
»Und deine Antwort?«, hauchte er und füllte damit den winzigen Spalt zwischen uns.
Ich nickte ein weiteres Mal. Und Gott, das Lächeln, welches plötzlich seine Mundwinkel umspielte, hätte ich ihm am liebsten von den Lippen geküsst.
Doch er nahm mir den Wind aus den Segeln, als seine Finger meinen Arm hinunterwanderten und er meine Hand zu seinen Lippen führte. Er drückte einen federleichten Kuss auf meine Handinnenfläche. Ich sank gegen die Haustür. Den einzigen Halt, den ich noch fand.
»Ich kann's kaum erwarten.«
Verzweifelt suchte ich nach meiner Stimme. Viel war von ihr nicht übriggeblieben.
»Bis Freitag, Jassi.«
Und dann ließ er mich gehen, nach draußen in die abgekühlte Abendluft, die mich empfing, doch nicht wirklich erreichte. Von der glühenden Hitze angetrunken, die durch meine Adern pumpte, wandelte ich über den Gehweg. Erst durch den Vorgarten und dann einige Schritte den Bürgersteig entlang. Ich konnte nicht anders, als mich noch ein letztes Mal umzudrehen. Ein letztes Mal, bevor ich am Freitag weitere Stunden mit Jasper verbringen würde.
Doch der Blick zurück zeigte mir etwas Unerwartetes. Die Haustür stand noch offen. Doch nicht für mich, sondern für eine großgewachsene, schlanke Frau, die sich auf Jasper zubewegte, der mit den Händen in den Hosentaschen an der Türschwelle stand.
»Lora. Du bist früh daheim«, flüsterte der Wind mir seine Worte zu.
Ich brauchte etwas, um zu begreifen, und als mein Verstand sich klärte, glaubte ich zu wissen, wer diese Frau war. Sie war ein Puzzlestück, das sich in mein Bild von Jasper einfügte, und mir gleichzeitig vor Augen führte, wie viele unzählige Teile mir noch fehlten.
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