[16] • Schlafmangel
Müde verfolgte ich die krakelige Schrift meiner Englischlehrerin an der Tafel. Die letzte Nacht hatte ich nicht gut geschlafen, wie auch die Nächte zuvor. Meine Hoffnung, Cleo würde sich schnell von der Demütigung auf dem Schulhof erholen, war bitterenttäuscht worden. Fast eine ganze Woche haperte sie nun schon damit. Sie lachte und redete kaum, verbrachte lieber Zeit allein und schickte mir sogar am Nachmittag keine nervigen Nachrichten mehr, sodass ich schon mit dem Gedanken gespielt hatte, ihr etwas zu schreiben. Doch immer, wenn ich angestrengt auf das Textfeld gestarrt hatte, waren mir einfach nicht die passenden Wörter eingefallen. Sei froh, dass du ihn los bist, schien mir nicht gerade der Satz zu sein, den sie zurzeit hören wollte.
Eigentlich hätte ich erleichtert sein sollen. Die Auseinandersetzung mit Moritz und seinem Gefolge hatte genau den Rückzug hervorgerufen, den ich mir von Cleo noch am Anfang des Schuljahres gewünscht hatte. Doch nun konnte ich nicht verhindern, dass es mich beschäftigte, dass es mich regelrecht störte, wie sie sich von allen abschottete. Denn es ging hier nicht um ihr alleiniges Verhalten mir gegenüber, das hätte mich die Angelegenheit eventuell noch anders bewerten lassen, sondern um ihre Einstellung im Allgemeinen. Sie wirkte beinahe, wie ein Schatten ihrer selbst und das nagte an mir. Es gefiel mir schlichtweg nicht, sie so zu sehen.
Jedoch war meine Schlaflosigkeit nicht nur auf das Cleo-Problem zurückzuführen. Jasper hatte genauso daran Schuld, dass meine Lider nur noch auf halber Höhe hingen. Mein Gehirn war dazu übergegangen, das Letzte, was Jasper zu mir gesagt hatte, in Dauerschleife in meinem Kopf abzuspielen. Wenn wir das Ganze nicht definieren, ja, was dann? Glaubte er, dass ich aus diesem einfachen Grund, nur weil es meiner verquerten Logik entsprach, zusagte und mit ihm auf diesen ominösen Herbstball ging? Auf einen Ball. Ich. Das passte in keinem Universum zusammen.
Vor allem schienen die hier alle eine bestimmte Strategie zu verfolgen, um mich zu irgendwelchen Aktivitäten zu überreden. Während Cleo mich damals ständig auf die Party angesprochen hatte, zu der ich eigentlich nicht hatte gehen wollen, war Jasper einfach wieder abgetaucht. War es nun an mir zu reagieren? Schuldete ich ihm eine Antwort? Doch eigentlich hatte ich ihm bereits eine Absage erteilt, da würde auch sein letzter Überzeugungsversuch nichts dran ändern, auch wenn ich seine Stimme unentwegt im Ohr hatte. Und das Gefühl seines Atems auf meinen Lippen. Ich ließ das Gesicht in meine Hände sinken, als ich daran dachte, wie nah wir uns gekommen waren. An diesem Tag war eindeutig zu viel passiert, als dass ich einordnen konnte, warum ich so gehandelt hatte, wie ich es nun mal getan hatte. Doch fast schlimmer waren meine Gedanken danach gewesen, das, was ich mir ausgemalt hatte, als ich wieder allein in meinem Bett lag. In meiner Fantasie hatten wir den Abstand zwischen uns überbrückt, die wenigen Zentimeter zwischen uns zunichtegemacht und eine Berührung geteilt, die mich in Brand gesetzt hatte, auch wenn sich diese Szene lediglich vor meinem inneren Auge abgespielt hatte. Dafür immer und immer wieder.
Etwas unbehaglich rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her, da ich befürchtete, jemand könnte meine Gedanken lesen, die sich gerade unaufhaltsam in mir ausbreiteten und schon wieder jegliche Abläufe in meinem Körper durcheinanderbrachten. Dabei machte ich wohl mit meinen unnatürlichen Bewegungen erst recht auf mich aufmerksam. Deswegen zwang ich mich zur Ruhe, versuchte Klarheit zu fassen und konzentrierte mich erneut auf das Unterrichtsgeschehen, das sich langsam dem Ende neigte. Eilig notierte ich die Hausaufgaben, die uns diktiert wurden, und packte dann meine Sachen zusammen. Ich musste mich bewegen. Ich wollte die Bilder, die mir so den Verstand raubten, in den Boden stampfen, gänzlich vergessen und doch gleichzeitig in Einsamkeit genießen. Mich heimlich einer Versuchung hingeben, verpackt als eine Spinnerei, ein Hirngespinst, ganz für mich allein, ohne dass je ein anderer davon erfuhr. Wenn wir das einfach nicht in Worte fassen, dann spricht doch nichts dagegen. War es wirklich so simpel?
So schnell wie diese widersprüchlichen Gedankenfetzen an mir vorbeizogen, bewegte ich mich durch die Flure des Schulgebäudes. Dann fiel mir ein, was mein Stundenplan als Nächstes für mich bereithielt, und ich drosselte mein Tempo. Sonst freute ich mich immer ein bisschen auf den Deutschunterricht, doch heute hätte ich ihn am liebsten ausfallen lassen. Es war das erste Mal, dass sich Cleo und Lars meines Wissens wiedersehen würden und ehrlich gesagt, hatte ich keine große Lust, diesem Treffen in irgendeiner Weise beizuwohnen. Da war unangenehme Stimmung schon vorprogrammiert.
Deshalb schlug ich einen kleinen Umweg ein, verbrachte eine Weile damit, die Kritzeleien an den Wänden der Toilettenkabine zu entziffern, und betrat unseren Kursraum letztendlich zeitgleich mit Frau Werth, die kurz nach dem Läuten der Schulklingel erschien. Ich hatte gedacht, dass ich somit die Letzte sein würde, doch überrascht musste ich feststellen, dass Cleo noch gar nicht hier war. Lediglich Lars, auf den ich um einiges lieber verzichtet hätte, saß an seinem Platz, fixierte mich kurz und wandte dann schnell den Blick ab. Ich hoffte für ihn, dass Letzteres so blieb, sonst konnte ich für nichts garantieren. Schon seine bloße Anwesenheit war mir zuwider und dass ich ausgerechnet neben ihm saß, ließ meine Antipathie nur noch mehr um sich wuchern, längst herangewachsen zu einem wirren, robusten Gestrüpp, das vermutlich mit keiner Heckenschere mehr gestutzt werden konnte.
Als ich fast schon glaubte, Cleo wäre diejenige, die meine Überlegung, den Unterricht zu schwänzen, in die Tat umsetzte, rauschte sie plötzlich durch die Tür. Sie schaute sich nicht groß um, während sie sich auf ihren Platz in der ersten Reihe niederließ. Wahrscheinlich wollte sie nicht Lars' Augen begegnen, die sie unentwegt verfolgten, seitdem sie ins Zimmer getreten war. Ich rückte so nah es ging an meinen Tisch heran, legte den Kopf auf meine Handballen ab und schob meinen Oberkörper so weit nach vorne, dass ich ihm die Sicht versperrte. Cleo brauchte Ruhe und auch wenn mein Beschützerinstinkt gerade zu große Ausmaße annahm, wollte ich nicht, dass er sie weiterhin aus der Fassung brachte, wenn sie die Sache noch nicht verarbeitet hatte und er nicht wusste, was ihm wichtiger war - seine angeblichen Freunde oder dieses Etwas zwischen ihm und Cleo. Mein Plan funktionierte hervorragend. Hätte ich nicht gewusst warum, hätte es mich sicherlich verunsichert, so hartnäckig wie Lars meinen Anblick mied. Stattdessen verspürte ich einen leichten Anflug von Stolz, da ich bemerkte, wie sich Cleo etwas in ihrer Sitzhaltung entspannte. Ich konnte sie verstehen, denn ich kannte das Gefühl, wenn die Augen eines anderen auf einem brannten.
Der Unterricht zog diesmal quälend langsam an mir vorüber. Auch Frau Werth fiel auf, dass ich mich heute in keiner Weise an einem Gespräch beteiligte. Ab und an nahm ich wahr, wie sie mich musterte, als würde sie mich unterschwellig dazu auffordern wollen, meine Hand zu heben. Ich tat so, als sähe ich es nicht und starrte demonstrativ in die andere Richtung. Einen gescheiten Beitrag hätte ich sowieso nicht zustande gebracht, da ich es noch nicht einmal schaffte, richtig zuzuhören. Bei mir war völliger Durchzug angesagt. Hätte Lars mir ins Ohr geschaut, hätte er wahrscheinlich durchs andere wieder rausgucken und weiter Cleo betrachten können. Doch das tat er nicht. Sein Blick war konstant auf die Tischplatte gerichtet, während er den Stift in seiner Hand ununterbrochen um einen seiner Finger drehte. Auch das war selten. Es hatte bis jetzt nie einen Tag gegeben, an dem die Spitze seines Bleistifts nicht unentwegt an einem Blatt Papier geklebt hatte.
Erleichterung durchströmte mich, als die Dreiviertelstunde endlich vorüber war. Dieses beruhigende Gefühl versiegte jedoch so schnell, wie es gekommen war, als ich realisierte, dass Lars sich an mir vorbeidrückte und auf Cleo zusteuerte, während alle anderen Schüler den Raum verließen. Er wollte doch nicht ausgerechnet hier das Gespräch mit ihr suchen? Während die Alarmglocken in mir schrillten, stopfte ich Block und Mäppchen zurück in meine Tasche und näherte mich den beiden, um gegebenenfalls einzuschreiten, falls Cleo meine Hilfe benötigte. Doch es machte den Anschein, als würde sie diese gar nicht brauchen.
»Lass mich einfach in Ruhe, okay?« Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich Cleo schon einmal so abweisend erlebt hatte. Sie würdigte Lars noch nicht einmal eines Blickes.
»Aber, ich will nur kurz mit dir-«
»Nein nicht kurz. Gar nicht. Ich habe gerade echt keinen Nerv dafür!« Ihre Stimme kippte gegen Ende, weshalb ich glaubte, dass sie ihn gerade deshalb nicht anschaute, da sie befürchtete, sie würde sonst nachgeben.
»Lars, ich glaube, das ist gerade echt kein guter Zeitpunkt«, wagte ich, mich einzumischen. Mit einem kurzen Seitenblick gab ich Cleo zu verstehen, dass das ihre Möglichkeit war, zu verschwinden, falls sie es denn wollte. Keine Sekunde später stürmte sie davon.
»Cleo, warte doch mal«, versuchte Lars sie aufzuhalten, doch bevor er ihr hinterherlaufen konnte, hielt ich ihn an der Schulter zurück. »Lars, lass es gut sein für heute.«
»Aber ich-« Seine Augen huschten kurz über mein Gesicht. War ich so furchteinflößend oder warum schaffte er es nicht, meinem Blick standzuhalten? »Ich will doch nur mit ihr reden«, vollendete er seinen Satz und klang dabei ehrlich verzweifelt.
»Das hättest du dir mal früher überlegen sollen. Es wäre gut gewesen, hättest du vor deinen ach so guten Freunden mal den Mund aufgemacht.« Meine Worte sorgten natürlich nicht dafür, dass er sich auf irgendeine Weise besser fühlte. Zumal das nicht in meiner Absicht stand. Doch so, wie er gegen die Tischplatte sank und sein Gesicht hinter seiner Hand versteckte, wirkte er fast mitleiderregend.
»Versteh's einfach, sie möchte dich gerade einfach nicht sehen«, fügte ich vorsichtig hinzu und kratzte mich nachdenklich an der Schläfe, unsicher, wie ich gerade mit ihm umgehen sollte.
»Ja, sieht ganz danach aus«, murmelte er vor sich hin und rappelte sich langsam wieder auf. Ich blieb still, da ich nicht versehentlich etwas Nettes sagen wollte, worüber ich mich dann im Nachhinein ärgerte. Doch Lars ließ mir sowieso keine Zeit, um eine geeignete Reaktion zu äußern, denn er schulterte bereits seine Tasche und verließ daraufhin den Raum, ohne ein weiteres Wort an mich zu richten. Ich seufzte. Wieso waren soziale Interaktionen immer so verdammt anstrengend?
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Balu schnurrte, derweil ich ihn ausgiebig den Kopf kraulte. In solchen Momenten wünschte ich mir, das sorglose Leben meines Katers anzunehmen. Die einzigen Fragen, die er sich stellte, drehten sich vermutlich um die nächste Mahlzeit. Ich kuschelte mich noch ein wenig näher an das flauschige Fellknäuel heran und saugte seinen ruhigen Anblick in mich auf, wollte mir etwas von dieser Gelassenheit, die er ausstrahlte, abschneiden. Den ganzen Tag waren meine Gedanken zwischen Cleo, Lars und Jasper hin und her gesprungen und so langsam bekam ich davon Kopfschmerzen. Tatsächlich hatte ich Cleo sogar diesmal eine Nachricht geschrieben, da ich ihr nicht mehr begegnet war, nachdem sie nach dem Deutschunterricht geflüchtet war. Ich hatte geglaubt, dass ich mit der einfachen Frage, wie es ihr denn ging, nichts falsch machen konnte, doch nach mehreren Stunden hatte ich immer noch keine Antwort erhalten. Ich kam vermutlich nicht umhin, mit ihr morgen ein persönliches Gespräch zu führen. So konnte das jedenfalls nicht weitergehen.
Mit einem Stöhnen ließ ich von Balu ab und rollte mich an die Bettkante. Für heute hatte ich eindeutig genug Denkleistung verschleudert. Die Müdigkeit breitete sich in mir aus und zog sich ihre Bahnen durch meine Muskelfasern. Hätte sich nicht in dem Augenblick mein Handy mit einem lauten Ping gemeldet, hätte ich für heute die Lichter gelöscht. Stattdessen schnappte ich mir mein Smartphone und hoffte, dass mir Cleo vor dem Schlafengehen zumindest noch einen Teil meiner Sorge um sie nahm. Und tatsächlich leuchtete ihr Spitzname auf dem Display auf. Nur das, was sie schrieb, war nicht das, worauf ich mich vorbereitet hatte.
Also, eine einfache Antwort auf meine Frage hätte mir vollends gereicht.
Diesmal musste ich nicht lange auf eine Rückmeldung warten.
Uff. Wenn ich mich recht entsann, dann musste die Datei morgen der Druckerei zugeschickt werden. Hätte die Zeitung da nicht um diese Zeit schon längst fertig sein sollen?
»Was meinst du, Balu? Verdiene ich mir damit ein paar Karmapunkte?« Ich drehte mich zu meinem Kater um, der meine Frage jedoch nur mit einem leisen Murren quittierte. Ach, was soll's.
Es war durchaus nicht in meinem Interesse, meine weiche Matratze zurückzulassen, und auch mein Körper rebellierte, als ich ihn wieder in die Senkrechte koordinierte, doch sonderlich stören tat es mich nicht, dass es Cleo war, die mich dazu brachte. Etwas Zeit mit ihr zu verbringen, schien irgendwie keine allzu schlechte Sache mehr zu sein.
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Ich war erstaunt, dass mir die Strecke noch so bekannt war, auch wenn ich sie lediglich zwei Mal als Beifahrerin erlebt hatte. Das Haus war in Dunkelheit gehüllt, als ich mein Ziel erreichte und aus dem Auto ausstieg. Nur ein einzelnes erhelltes Fenster gab mir die Sicherheit, dass Cleo mir keinen Streich gespielt hatte. Da sie mich angewiesen hatte, nicht unnötig die Klingel zu betätigen und damit ihre restliche Familie zu wecken, schrieb ich ihr eine kurze Nachricht und wartete mit einem vollgepackten Jutebeutel vor ihrer Haustür. Das Geräusch von nackten Füßen auf Parkett drang durch den harten Kunststoff zu mir hindurch und nur wenige Sekunden später strahlte mich Cleo an. Auch wenn sie sichtlich erleichtert über mein Auftauchen war, konnte sie mit ihrem breiten Lächeln nicht die tiefen Furchen auf ihrer Stirn und die dunklen Augenringe verbergen. Sie sah regelrecht ausgebrannt aus und mir schwante, dass ich diese Nacht wohl nicht viel Schlaf bekommen würde. Für einen kurzen Moment war ich meiner Mutter dankbar, dass sie mir neben den ganzen Snacks auch eine zwei Liter Colaflasche eingepackt hatte. Erst war sie skeptisch gewesen, dass ich unter der Woche um so eine späte Uhrzeit noch aus dem Haus wollte, doch als ich Cleos Namen erwähnt hatte, hatte sie gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd und unsere Vorratskammer auf alles Ungesunde durchforstet. Sie war wahrscheinlich einfach froh darüber, dass ich Anzeichen eines Soziallebens zeigte.
»Danke, dass du gekommen bist«, begrüßte Cleo mich im Flüsterton und schloss mich in eine Umarmung. Die Erste, die wir seit der Schulhofaktion miteinander teilten. Es war beruhigend wieder ihren gewohnten Honigduft einzuatmen. »Komm rein.«
Ich folgte ihr in den Flur und streifte mir die Schuhe von den Füßen, bevor wir weiter in ihr Zimmer huschten. Wie bei meinem ersten Besuch hatten wir den Raum für uns allein, da ihre Schwester Zoe zu ihrem Freund geflohen war, als sich Cleo abermals über den ganzen Fußboden ausgebreitet hatte.
»Mach's dir gemütlich«, wies mich Cleo an, nachdem sie die Tür hinter uns geschlossen hatte. Ihrer Aufforderung nachzukommen war allerdings schwieriger, als es sich anhörte. Vorsichtig schob ich Klamotten und Zettelberge zur Seite und zog mir dann ein Kissen heran, um mich vor Cleos Laptop auf den Boden zu setzen. Dann leerte ich meinen Beutel.
»Also, ich habe hier Chips, Kekse, Cola und na ja den ganzen restlichen Krimskrams«, informierte ich Cleo, die verdutzt den Haufen an Diätsünden betrachtete. »Frag nicht, meine Mutter hätte mich ohne das ganze Zeug nicht aus dem Haus gelassen.«
Cleo lachte leise.
»Das trifft sich gut. Meine Nervennahrung habe ich nämlich schon vor Stunden aufgebraucht.«
In mir kam langsam die Vermutung auf, dass die Fertigstellung der Zeitung sie so in Anspruch genommen hatte, dass sie schlichtweg keine Zeit gefunden hatte, mir zu schreiben. Vielleicht war sie deshalb in der Schule auch immer so kurz angebunden gewesen. Aber warum hatte sie denn nicht früher nach Unterstützung gefragt? Obwohl, den Grund sollte ich eigentlich am besten wissen. Sie hatte wahrscheinlich einfach geglaubt, dass sie das allein schaffen würde. An manchen Stellen waren wir wohl doch nicht so verschieden.
»Okay, also, wie sieht der Plan jetzt aus?«, fragte ich sie und nahm einen großen Schluck von der Cola, um mir ein wenig Tatendrang anzutrinken.
»Du könntest dich zunächst in unser Email-Konto einloggen. Da müsste ein Text von Mel sein, der noch Korrektur gelesen werden muss. Ich schaue mir in der Zeit YouTube-Tutorials an, die mir hoffentlich erklären, wie dieser Quatsch hier nochmal genau funktioniert.«
Gesagt, getan. Ich zog meinen Laptop unter unseren Essensrationen hervor und griff mit den Zugangsdaten, die Cleo mir gegeben hatte, auf die E-Mails der Schülerzeitung zu. Bevor ich allerdings auf die Suche nach Mels Text gehen konnte, sprang mir eine Nachricht ganz anderen Inhalts ins Auge. Der Absender war niemand Geringeres als Lars. Interessiert klickte ich die Mail an. Doch anstatt dort irgendwelche entschuldigende Zeilen zu lesen, gab es nur einen Verweis auf den Anhang. Ich war sichtlich überrascht, als ich die Datei schließlich öffnete. Es war das Cover für die nächste Ausgabe. Nicht nur war die Anordnung der Themenüberschriften um einiges übersichtlicher und die Farben aufeinander abgestimmt, sondern auch die Headline stach sofort hervor. Hinter dem Wort Dagobert, das durch seine großen Initialen klar im Fokus stand, breitete ein Papagei seine Flügel aus und diente damit nicht nur als eine Art Rahmen, sondern nahm auch Bezug darauf, wie die Zeitung überhaupt zu ihrem Namen gekommen war.
»Cleo, ich glaube, das solltest du dir mal angucken«, meinte ich vorsichtig, woraufhin sie näher zu mir rutschte und ebenfalls einen Blick auf meinen Bildschirm warf.
»Hat er was dazu geschrieben?«, fragte sie nach einer kurzen Pause, ohne ein Kommentar zu seiner Arbeit abzugeben.
»Nur siehe Anhang«, sagte ich und zeigte ihr die Mail. »Willst du es verwenden?«
»Ich weiß nicht recht«, räumte sie ein. Unsicherheit legte sich über ihr Gesicht. »Lass uns erstmal den Rest hier erledigen, dann überlege ich, was wir damit machen.«
Ich ahnte zu wissen, was ihr gerade durch den Kopf ging.
»Cleo, nur weil du dich dazu entscheidest, sein Design zu nutzen, bist du ihm noch lange nichts schuldig. Er hat es dir freiwillig geschickt und es ist vollkommen in Ordnung, wenn du dabei nur an den Vorteil für die Zeitung denkst. Ich glaube auch, dass er genau deswegen nicht mehr dazu geschrieben hat«, ließ ich Cleo meine Meinung wissen. Ich musste ehrlich zugeben, dass ich Lars diesen Zug hoch anrechnete.
»Du hast schon recht, aber - ach, keine Ahnung. Ich weiß einfach nicht, wie ich mich verhalten soll. Auf der einen Seite bin ich immer noch enttäuscht von ihm und andererseits vermisse ich es, Zeit mit ihm zu verbringen. Ich hatte mich darauf gefreut, diese Ausgabe mit ihm fertigzustellen.« Sie stockte kurz. »Also, nicht falsch verstehen. Ich bin echt glücklich darüber, dass du hier bist.«
Trotz des Ernstes der Lage konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dieses hielt jedoch nicht lange, da ich nicht den Eindruck vermitteln wollte, dass ich mich über ihre Situation lustig machte. Ganz im Gegenteil. Ich wollte ihr irgendwie eine Hilfe sein.
»Ob du ihm eine zweite Chance gibst, liegt ganz bei dir. Aber ich bekomme allmählich das Gefühl, dass er wirklich versucht, es wieder gut zu machen.« Noch heute Morgen hatte ich gedacht, dass ich mich niemals dazu hinreißen würde, Lars zu verteidigen. Doch vielleicht war es Zeit, dass die beiden darüber redeten, sofern man davon ausgehen konnte, dass er in Zukunft für Cleo einstand.
Doch egal, welche Absicht hinter Lars' Mail stand, sie hatte Cleo eindeutig durcheinandergebracht. Krampfhaft versuchte sie sich daraufhin wieder auf ihre Aufgaben zu konzentrieren, doch mir entging nicht, dass der Gedanke an Lars sie eingenommen hatte. Sie starrte eher durch ihren Bildschirm hindurch, als auf das Video zu achten, was vor ihren Augen lief. Ich fühlte mich dazu verpflichtet, sie von ihren Grübeleien abzulenken, und schnitt das einzige Thema an, das sie von ihrem eigenen Männerproblem ablenken dürfte.
»Jasper hat mich zum Herbstball eingeladen«, platzte es also aus mir heraus und auch wenn ich wusste, dass sich das folgende Gespräch nur zu meinem Nachteil entwickeln konnte, bereute ich nicht, es ihr erzählt zu haben.
»Jasper hat was?«, stieß Cleo aus, als sie begriff, was ich ihr gerade anvertraut hatte. Sofort hielt sie sich die Hand vor den Mund, da sie um einiges lauter geworden war als von ihr beabsichtigt. »Warum weiß ich denn nicht, dass ihr euch schon so nahesteht?«, hakte sie dann, mit einer den nächtlichen Umständen wieder angepassten Lautstärke nach.
»Wir stehen uns nicht nahe«, verteidigte ich mich direkt und wurde für diese maßlose Untertreibung von Cleo mit einem wissenden Blick bestraft. »Ach, ist auch egal«, nuschelte ich und ließ meine Finger ruhelos über die Tastatur gleiten.
»Moment mal, und was hast du dann darauf geantwortet?«
»Dass das keine gute Idee wäre«, gestand ich und zuppelte an dem Etikett der Plastikflasche herum. Plötzlich war es mir peinlich, ihr davon zu berichten, auch wenn ich einen großen Teil der Geschichte verschwieg. Die Sache zwischen Jasper und mir hatte sich so surreal entwickelt, dass ich es meist mit einem Traum verglich. Doch jetzt, wo ich es vor Cleo laut aussprach, wurde es mit einem Mal so real.
»Warum das denn?«, hakte Cleo verwundert nach. Ich zuckte nur mit den Schultern, als würde ich ausdrücken wollen, dass es mich nicht sonderlich beschäftigte.
»Weil ich ihm keine falschen Signale senden wollte«, reimte ich mir zusammen und hätte fast selbst bitter aufgelacht. Die Grenze der Neutralität hatten wir schon bei unserer ersten Begegnung um Längen überschritten.
»Und du bist dir sicher, dass du wirklich nicht mit ihm dorthin möchtest?«
Wieder zog ich meine Schultern in die Höhe. Allerdings wusste ich diesmal tatsächlich nicht, was ich darauf entgegnen sollte. Egal, welche Antwort ich gewählt hätte, es hätte sich so oder so wie eine Lüge angefühlt.
»Leonie.«
»Hm?«
»Wenn wir schon dabei sind, uns gegenseitig Ratschläge zu geben, dann will ich dir auch einen ans Herz legen. Gib dir einen Ruck.«
Ich verdrehte die Augen, woraufhin Cleo lachen musste, zwar auf meine Kosten, aber es war dennoch schön zu hören.
»Ehrlich, Leonie. Ich verspreche dir, es wird dir gefallen.«
Und vielleicht war es genau das, was mich von einer Zusage abhielt.
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