[15] • Regentropfen
Kopfschüttelnd starrte ich auf den Bildschirm meines Smartphones. Zwei Zeilen eines Refrains, der mir nur allzu bekannt war, prangte auf weißem Untergrund. Es war die erste Nachricht nach unserem letzten nächtlichen Treffen und er zog ausgerechnet die Songtext-Karte? Mir war natürlich klar, was Jasper von mir wollte, die gewählten Worte waren eindeutig, aber ich fragte mich dennoch, warum er mich sehen wollte, also im Sinne einer festen Verabredung, wie mir schien. Bisher waren wir uns immer nur zufällig über den Weg gelaufen, wie das Leben halt so spielte, doch damit brachte er unsere Begegnungen in einen ganz anderen Kontext. Zudem glaubte er ernsthaft, dass ich mit dieser Masche leichter zu überreden war? Dass ich ein klein bisschen grinsen musste, als ich mir die Nachricht erneut durchlas, war selbstverständlich reiner Reflex auf diese selten dämliche Idee, mir so etwas zu schicken.
Ich hatte die Frage schneller abgeschickt, als mir lieb war. Hätte ich eventuell gar nicht antworten sollen? Immerhin war ich nicht direkt auf den Hintergrund seiner Nachricht eingegangen. Vielleicht schaffte ich es so noch, unseren Chat in eine andere Richtung zu lenken. Ein zwangloser Austausch über Musik zum Beispiel.
Gut, vielleicht auch nicht. Vor allem ließ er mir noch nicht einmal eine Wahl, es klang schon eher nach einem Befehl. Unentschlossen trommelte ich mit meinen Fingernägeln auf dem Display herum, der während meinen Überlegungen schon wieder schwarz geworden war. Ich schaute zu meinem Schreibtisch, auf dem das aufgeschlagene Mathebuch mit den Hausaufgaben auf mich wartete. Dann drehte ich mich Balu zu, der es sich auf meinem Bett bequem gemacht hatte und mich aus müden Augen musterte. Er verstand vermutlich genauso wenig wie ich, warum ich hier schon seit fünf Minuten in der Mitte meines Zimmers stand und ernsthaft in Erwägung zog, Jaspers Aufforderung nachzukommen. War ich denn verrückt? Wahrscheinlich war die Aktion auf dem Schulhof derart abseits meiner Natur gewesen, dass ich jetzt zu allem bereit war, und mein Körper sich dachte, dass es sich heute nicht mehr lohnen würde, zu meinem normalen Verhalten zurückzukehren.
Mein Handy blinkte ein weiteres Mal auf und zeigte mir eine neue Nachricht an.
Warum musste er noch dazu so ein gutes Gedächtnis haben? Das war doch nur so daher gesagt. Das war doch nur ... ach, Mist.
Im Kurzschlussverfahren griff ich nach meiner Jacke, steckte Handy und Schlüssel in die Hosentasche und zog mir die zerfledderten Schuhe über die Füße.
»Das hat nichts zu bedeuten«, beteuerte ich Balu, der sich trotz meiner hektischen Bewegungen nicht vom Fleck rührte und sich bestimmt auch nicht dafür interessierte, was ich hier gerade in Begriff war zu tun. »Absolut nichts«, wiederholte ich noch einmal, damit ich selbst es auch kapierte, denn mein Puls, der gerade wieder anfing, Tango zu tanzen, hatte es anscheinend nicht.
Meine Beine trugen mich die Treppe hinunter, während ich die Worte »bin unterwegs« vor mir herrief. Was mein Vater darauf erwiderte, hörte ich schon gar nicht mehr, denn da war ich schon aus der Tür. Ich hätte ihm eh nicht erklären wollen, was oder mit wem ich etwas vorhatte. Schon die Sache mit dem auf der Straße liegen, war unmöglich zu erzählen, ohne gleich Todeslust unterstellt zu bekommen. Anfangs hatte ich schließlich auch nicht gerafft, was das sollte. Doch nun war es etwas, was wir beide, Jasper und ich, begriffen, wenn auch vielleicht auf unterschiedliche Weise und mit anderem Gefühl in der Herzgegend. Aber wie gesagt, ein besonderes Band schuf das zwischen uns nicht. Auf kurz oder lang war es bedeutungslos und am Ende nur eine Erinnerung an geronnene Zeit.
Ich verfolgte den Gedankenstrang nicht weiter und lief im raschen Tempo die Straßen entlang bis zur Bushaltestelle. Eigentlich bestand gar kein Zeitdruck, jedoch fühlte ich mich erneut so, als stünde ich unter Strom, so wie heute Mittag in der Pause. Deshalb bewegte sich alles an und in mir ungewohnt schnell, denn irgendwo musste die Energie hin, die sich im Vergleich zu heute Morgen wahrlich verfünffacht hatte. Es war fast eine Qual, an der Haltestelle zum Stehen zu kommen, weswegen ich mich auf der Stelle bewegte, wie ein selbstständig gewordener Presslufthammer. Wiederkehrende Zweifel kamen in mir auf, ob es so sinnvoll war, zu Jasper zu fahren. Nachdem was letztes Mal passiert war, sollte ich mich von ihm fernhalten, was ich die letzte Zeit auch versucht hatte, mal mehr, mal weniger erfolgreich, und nun knickte ich einfach so ein. Mit gerade mal neunundzwanzig Wörtern hatte er es geschafft, dass ich mich in den Bus setzte und genau den gleichen Weg hinter mich brachte, den ich letztens mit glühendem Kopf nach Hause gefahren war. Dabei hatte er noch nicht einmal meinen Namen genannt, was ich bisher als meinen wunden Punkt identifiziert hatte. Anscheinend war Jasper jetzt in ganzer Person zu einer Schwachstelle herangewachsen. Doch ich weigerte mich, es mir einzugestehen. Immer wieder rief ich mir ins Gedächtnis, dass seine Bedeutung nicht so groß war, wie die, die ich ihm in meinen kurzen, schwachen Momenten zusprach.
Das letzte Tageslicht verabschiedete sich, als ich mein Ziel erreichte und aus dem Fahrzeug stieg. Zwar war es durch die dicke Wolkendecke am Himmel den ganzen Tag recht düster gewesen, allerdings verschmolz diese jetzt, durch das fehlende Licht über ihr, allmählich mit der aufkommenden Dunkelheit. Ich schritt den Bürgersteig entlang und es war fast wie ein erneutes Déjà-vu-Erlebnis. Auch in mir drin ähnelte es gefühlsmäßig dem damaligen Abend. Mein Herz hatte vergessen, welcher Takt nun der richtige war und hatte sich wahlweise für den holprigsten entschieden, die Nervosität brachte eine viel zu hohe Dosis Adrenalin in Umlauf und meine Augen waren in Alarmbereitschaft, um ein plötzliches Auftauchen von Jasper vorzubeugen.
Trotz meiner Hektik war ich für die zwanzig Minuten, die er mir gegeben hatte, spät dran. Deswegen war ich nicht sonderlich überrascht, aber dafür umso aufgeregter, als ich von Weitem schon seine Schuhe ausmachen konnte. Der Rest von ihm lag hinter der Hausfassade verborgen und offenbarte sich mir mit jedem weiteren Schritt. Er wiederum bemerkte mich erst, als ich am Rand des Bordsteins stand und ihn in seiner Gesamtheit betrachtete. Ich hätte ihn gerne noch ein wenig weiter verstohlen von der Seite beobachtet, hätte gerne noch ein wenig mehr von dem langsamen Auf und Ab seines Brustkorbs gesehen. Von dem mit Sehnsucht getränkten Blick, emporgerichtet, als hätte er in der Unendlichkeit des Himmels etwas verloren, was er nun versuchte wiederzufinden.
»Du bist gekommen«, sagte er leise, stützte sich auf seine Unterarme und fing mich mit seinen Augen ein.
»Ich bin selbst so überrascht wie du.«
Ich trat von einem Bein auf das andere, zuppelte unbewusst an meinem Jackenärmel und war plötzlich unentschlossen, ob ich mich nun einfach neben ihn betten sollte. War das jetzt unser Ding? Trafen wir uns nun wirklich, nur um uns gemeinsam auf einen Zebrastreifen zu legen?
»Willst du dich nicht«, fing er an und vollendete seinen Satz, indem er neben sich deutete. »Ähm, natürlich.« Ich konnte schließlich nicht dämlich nebendran stehen, wenn ich jetzt schon einmal hier war. Das wäre irgendwie noch kurioser, als diese Begegnung eh schon war.
Jasper verfolgte, wie ich mich langsam auf ihn zu bewegte, nahm mich wahr, wie ich ihn eben wahrgenommen hatte. Bedacht darauf, ihn nicht zu berühren, setzte ich mich zunächst auf die Straße, spürte schwach die gespeicherten Sonnenstrahlen unter meinen Händen und seinen Blick in meinem Rücken, der kleine elektrische Wellen meine Wirbelsäule hinaufschickte, direkt in die gewaltige Nervenansammlung in meinem Kopf, die vollkommen überfordert mit diesem Energieschub war.
Und dann, als ich mich endlich neben ihn legte, flachte plötzlich alles ab. Es fühlte sich so an, als sickere die dröhnende Kraft mit nur einem Ausatmen aus mir heraus, floss durch die Rillen im Asphalt, bis zum nächsten Kanaldeckel, wo sie dann in den weiten Tiefen verschwand. Für mich war das eine Erleichterung, das Gefühl, zur Ruhe zu kommen. Nur die Sorge um Cleo war noch da, schien jetzt sogar verstärkt in mir zu pochen, weil sie nicht mehr durch die Aufregung um den heutigen Tag übertönt wurde. Wie lange würde sie das mit Lars verfolgen? War sie schon morgen wieder der nervige Sonnenschein, wie man sie kannte, oder war das nur vergebliche Hoffnung?
»Waren es die Zeilen von Snow Patrol oder deine eigenen Worte? Frage aus zukunftsperspektivischen Gründen.« Jaspers Stimme drang nur allmählich zu mir hindurch und überrascht stellte ich fest, dass ich sogar meine Augen geschlossen hatte. Ich schob den Kummer um Cleo beiseite, da mir spontan sowieso nichts einfiel, was ich dagegen tun konnte. Stattdessen widmete ich Jasper meine Aufmerksamkeit, der sich wohl die ganze Zeit nicht von mir abgewendet hatte.
»Kurzschlussreaktion. Unmöglich auszuwerten.« Unsere Augen begegneten sich, er las in meinen, ich in seinen und unsere Lippen verzogen sich gleichzeitig zu einem zarten Lächeln. Ich hätte ihm niemals wahrheitsgemäß geantwortet, ihm nie gebeichtet, dass der Gedanke an ihn letztendlich ausgereicht hatte, und er wusste das. Ich hatte ihm vermutlich schon genug abweisende Antworten gegeben, sodass er voraussagen konnte, wann er eine zu erwarten hatte. Dennoch ließ er nicht von seiner Direktheit ab und versuchte, mich immer wieder aus der Reserve zu locken. Er war viel zu hartnäckig und sicherlich würde das rückblickend keinem von uns beiden guttun.
Wir verweilten nicht lange in der Position, es war mir einfach nicht möglich, so lange in seinen Blick einzutauchen, ohne bleibende Schäden davonzutragen. Ich war die Erste, die sich der Wolkendecke zuwandte und aus den Augenwinkeln sah ich, dass Jasper kurz darauf meinem Beispiel folgte. Die dicken, schwarzen Klumpen am Himmel zogen nur träge an uns vorüber. Keinerlei Hektik lag in ihrer Wanderschaft und allmählich passte sich mein Puls ihnen an. Nur Jaspers tiefe Atemzüge oder diese kleinen Bewegungen, mit denen er sich seine Locken nach hinten strich, die sich durch den stetigen Wind in seinem Gesicht verirrten, ließen mich seine Nähe spüren und stellten meinem Herz ab und zu ein Bein. Und immer aufs Neue stolperte es vollkommen unvorbereitet darüber.
Doch nach und nach kamen wieder diese sanften Empfindungen in mir hoch, ließen mich wieder spüren, was mir das letzte Mal klar geworden war. Es war fast so, als würde ich zerlaufen, als würde ich mit dem Boden unter mir verschmelzen, da ich mich zunehmend auf gute Weise leer fühlte. Die feinen Naturgeräusche, die brummende Innenstadt in der Ferne. All das drehte sich langsam um mich herum, während ich hier lag. Einfach so.
»Du merkst es auch, oder?«, flüsterte Jasper in die Nacht hinein. Seine losgelöste Stimme spiegelte meine innersten Eindrücke wider.
»Ja.«
Auch wenn wir nie darüber gesprochen hatten, was das hier mit uns machte, war ich mir irgendwie sicher, dass wir das Gleiche empfanden. Zumindest im Ansatz, denn ich fragte mich immer noch, was diese nächtliche Aktivität mit seiner Familie zu tun hatte. Doch ich traute mich nicht, nachzuhaken. Ich war mir sicher, dass ich damit nur diese wundervolle Leere unter schwerem Gewicht erdrückte.
Dabei hätte mir eigentlich klar sein sollen, dass sie so oder so nicht lange anhielt. Denn Jasper war nicht jemand, der schwieg, wenn ihm etwas in den Sinn kam. Er sprach geradeheraus.
»Ich fand es übrigens richtig gut, wie du dich heute in der Pause für Cleo eingesetzt hast«, begann er und ich tauchte allmählich aus meiner Unbefangenheit auf, meine Gedanken festigten sich wieder. »Sie kann sich glücklich schätzen, dich als Freundin zu haben.«
Da war es wieder. Meine Erinnerungen konfrontierten mich schlagartig mit den Gesichtern aus der Vergangenheit. Mit Menschen, zu denen der Kontakt irgendwann einfach im Sand verlaufen war, und solchen, wo ich gehofft hatte, die Bindung würde ewig halten. Mit Anna und ihrer Clique, denen ich versucht hatte, so viel wie möglich von mir zu geben, nur um dann im Nachhinein zu erfahren, was sie wirklich von mir hielten. Öffentlich diskutiert unter den letzten geteilten Bildern, auf denen ich mit ihnen zu sehen war, obwohl sie ganz genau wussten, dass ich es lesen würde. Als hätten sie mir zum Abschied noch mitteilen wollen, dass ich mich nicht bei ihnen melden bräuchte, da ich längst schon nicht mehr Teil ihres Lebens war. Lediglich eine Erinnerung, die zur Unterhaltung herhalten musste. Mir war niemand geblieben. Aber vielleicht lag es letztendlich doch nur an mir. Vielleicht reichte das, was ich geben konnte, einfach nicht aus. Vielleicht war dafür meine Zeit einfach zu kurz.
»Cleo und ich sind keine Freunde.« Allein der Begriff an sich war mir schon zu viel. Als würde er all die negativen Erfahrungen in sich vereinen. Als könnte ich den Schmerz von mir fernhalten, sofern ich das Wort einfach nicht aussprach.
»Warum nicht?«
»Ist halt so. Wir sind einfach keine.«
»Und was ist das dann zwischen uns?« Diese Hartnäckigkeit, sie würde mich irgendwann noch den Kopf kosten. Oder das Herz. Je nachdem, was Jasper anzuzielen versuchte.
»Wieso muss man immer alles betiteln?«, stellte ich ihm deshalb eine Gegenfrage. »Man braucht doch nicht zwingend alles zu definieren.« Es fühlte sich für mich wie eine Lösung an, wie ein Ausweg. So als könnte ich damit selbst den Rahmen meiner Gefühle legen. Die Grenze von dem, was ich geben konnte, und von dem, was man mir nehmen würde.
Jasper blieb daraufhin ungewöhnlich ruhig und ich vermutete, dass er gerade dabei war herauszufinden, ob das, was ich gesagt hatte, in seiner Welt irgendeinen Sinn ergab. Derweil wünschte ich mir, die Zeit zurückdrehen zu können. Zurück zu dem Moment heute Morgen in der Bäckerei und dann hätte ich so lange vor der Theke gewartet, bis die Maschine wieder funktioniert und ich meinen Kakao bekommen hätte. Denn das war eindeutig der Zeitpunkt gewesen, der diesen Tag in die falsche Richtung gelenkt hatte.
Die Stille, die zwischen Jasper und mir nun herrschte, hatte nichts mehr mit der Leichtigkeit von zuvor zu tun. Jetzt engte sie mich ein, da ich meine Gedanken nicht mehr loslassen konnte, weil sie genauso von Jasper im Hier festgehalten wurden. Er dachte über meine Worte nach, merkte wahrscheinlich, wie verkorkst ich war. Vermutlich war es schwierig zu begreifen, ohne diese vielen Menschen, die sich in meinem Gedächtnis tummelten und von denen mich wohl jeder bereits vergessen hatte. Oh Gott, ich sollte wirklich nicht so viel von diesem Schwachsinn in meinem Kopf preisgeben.
Als würde der Himmel mir zur Hilfe eilen wollen, um mich aus dieser unangenehmen Situation zu retten, wobei Jaspers Schweigen beinahe das Schlimmste daran war, fielen die ersten Wassertropfen auf uns nieder. Seit Sonnenaufgang hatte ich auf Regen gehofft und jetzt, wo ich eine Abkühlung am nötigsten hatte, wurde er mir geschenkt, so als hätten die Wolken nur auf den richtigen Moment gewartet. An sich glaubte ich nicht an solche Zufälle, aber diesen einen empfing ich mit Freude.
»Es fängt an zu regnen«, ergriff ich mutig das Wort, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was ich mit dieser Aussage überhaupt bezwecken wollte. Ich war schließlich kein Sonderling, der als einziger Wetterveränderungen erfassen konnte.
»Bis jetzt sind es nur ein paar Tropfen. Vielleicht haben wir ja Glück und es hört gleich wieder auf.« Glück? Mal abseits dessen, dass ich Regen liebte, hatte er mitbekommen, in was für eine Stimmung wir abgerutscht waren? Ich war der Meinung, dass wir nicht besser hätten unterbrochen werden können. Keine Sekunde später stimmten mir die Wolken zu. Der Regen nahm gehörig an Masse zu und prasste auf uns herunter, dass man kaum die Augen offenhalten konnte.
»Sieht eher weniger danach aus«, rief ich über den immensen Lärm hinweg, der das fallende Wasser mit sich brachte.
»Scheiße!« In einem immensen Tempo war Jasper auf den Beinen, schaute auf mich herunter und streckte seine Hand nach mir aus. »Komm!« Zwar war mir bereits klar, dass Eile nichts mehr an dem Umstand änderte, dass wir beide bis auf die Knochen nass werden würden, dennoch griff ich, ohne zu zögern nach ihr. Mit Leichtigkeit zog er mich hoch und lief mit mir die Straße entlang.
Es dauerte nicht lange und die durchnässte Kleidung klebte an mir, mein Atem rasselte und meine Hand in Jaspers intensivierte die Hitze, deren Flammen in meinem Inneren willkürlich um sich schlugen. Der Regen war warm, von Abkühlung konnte hier also kaum die Rede sein, doch das rauschende Blut in meinen Adern überdröhnte zumindest jeden noch so großen Gedanken. Die Bushaltestelle erreichten wir schnell, doch die kurze Zeit hatte vollends gereicht, um uns eine Rundumdusche zu verpassen. Wir tropften so sehr, dass man aus dem ganzen Wasser, das wir aufgesogen hatten, vermutlich einen kleinen Teich füllen konnte. Erschöpft lehnte ich mich gegen das Glas der Überdachung und versuchte, mein Keuchen unter Kontrolle zu bringen.
Auch Jaspers Brust senkte und hob sich in einem raschen Rhythmus. Er stand mir gegenüber, viel zu nah, und fuhr sich mit einer kurzen Bewegung durch die feuchten Haare. Vereinzelt rann ihm ein Regentropfen die Halsbeuge hinunter. Seine Haut glänzte im Licht der Straßenbeleuchtung. Ich merkte gar nicht, wie ungeniert ich ihn anstarrte, und auch dass wir uns immer noch an der Hand hielten, wurde mir erst wieder bewusst, als er mit seinem Daumen zart über meinen strich. Mein Blick schnellte zu unseren verschränkten Fingern und direkt im nächsten Moment zu seinen Augen. Das Blut stieg mir zu Kopf, als ich sah, mit welcher Intensität sein Blick auf meinem Gesicht verweilte. Er wanderte von meinen Lippen über meine Nase und als er schließlich feststellte, dass ich ihn dabei beobachtete, schluckte er schwer. Kaum merklich machte er einen weiteren Schritt auf mich zu, was in mir ein gewaltiges Chaos auslöste, wobei meine Luftzufuhr erneut auf der Strecke blieb. Die Spannung zwischen uns war fast greifbar, angereichert durch die Schwüle, die durch den Regen vom Erdboden aufstieg und um uns herum waberte. Sanft griff er nach einer der Haarsträhnen, die an meiner Wange haftete, und hielt sie zwischen zwei Fingerspitzen gefangen.
»Leonie.« Dieser Klang. Ich seufzte und konnte gleichzeitig gar nicht sagen, ob dieser Laut wirklich von mir gekommen war. Süßer Nebel verhüllte mir jeglichen Versuch auf Klarheit. Hatte der Regen jeden Rest Rationalität von uns gewaschen? »Gehst du mit mir zum Herbstball?«
»Zum Herbstball?«, hauchte ich, immer noch nicht ganz bei Sinnen.
»Ja. Ich würde dort gerne mit dir hin«, murmelte er. War er noch ein Stück nähergekommen? Seine Nase kitzelte jetzt fast die meine. Unwillkürlich leckte ich mir über die Lippen, nicht sicher, worauf ich hoffte.
»Ich-« Motorgeräusche drangen zu mir hindurch und lüfteten langsam die schweren Nebelschwaden, die auf meinen Verstand drückten. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee wäre. Für mich und auch für dich.« Jasper schien ebenfalls langsam aus dieser Trance, die uns wohl beide beherrschte, aufzuwachen. Kleine Falten bildeten sich auf seiner Stirn, die ich fast gewillt war, mit einer Handbewegung wieder zu glätten.
Neben uns kam der Bus zum Stehen und da von Jasper keine Einwände folgten, tat ich das einzig logische und löste mich langsam von ihm, was in mir widersprüchliche Gefühle wachsen ließ. »Also, ich werd dann mal wieder«, nuschelte ich entschuldigend, worauf er nur ein undefinierbares Brummen von sich gab. Ich glaubte, dass er meine Absage akzeptiert hatte und ich nun wieder meinen Heimweg antreten würde. Mit neuen Erinnerungen, die sich schon unweigerlich in mein Gedächtnis eingebrannt hatten. Jasper bewegte sich nicht, während ich in den Bus einstieg. Direkt an der Tür blieb ich stehen, unfähig mehr Abstand als nötig zwischen uns zu bringen.
Bevor sich jedoch die Glasscheiben zwischen uns schieben konnten, ging plötzlich ein Ruck durch ihn hindurch. Mit einem Satz stand er wieder vor mir, getrennt durch die Stufe, die ins Innere des Fahrzeugs führte. Erneut prasselte der Regen auf ihn herab.
»Wir müssen das nicht definieren. Wenn wir das einfach nicht in Worte fassen, dann spricht doch nichts dagegen, oder?«
Mir blieb nicht die Möglichkeit darauf zu antworten, denn der Fahrer hatte kein Verständnis für das Gespräch, das wir noch nicht beendet hatten. Die Türen schlossen sich und der Wagen fuhr ruckelnd an. Immer schneller entfernte ich mich von Jasper, der dort stand und mir hinterherschaute, bis er aus meiner Sicht verschwand. Doch ich wusste sowieso nicht, was ich ihm darauf hätte entgegnen können. Er hatte meine eigene bescheuerte Logik an mir angewandt. Was blieb mir denn da noch für eine Wahl?
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