[10] • Einfach so
Wir hatten geschlagene drei Stunden in dem kleinen Restaurant verbracht, insgesamt zwei Pizzen, vier Tassen Kakao und zwei Eisportionen verputzt und im Nachhinein viel zu viel Geld dort gelassen. Aber ich beschwerte mich nicht, denn es war köstlich gewesen. Wir verabschiedeten uns von Owen und ich prägte mir den Namen des kleinen Lokals ein. Es war zwar nicht in meinem Interesse, dass Cleo und ich solche Ausflüge öfters unternahmen, mein Geldbeutel war schließlich kein Goldesel, allerdings war es sicherlich einen weiteren Besuch wert.
Es war noch hell draußen, als wir wieder vor die Tür traten. Nur der Horizont ließ die anstehende Dunkelheit vermuten, da die Wolken dort oben schon tief in rosa Farbe getunkt waren. Ich wollte schon zur Hauptstraße zurücklaufen, dort wo ich die nächste Bushaltestelle vermutete, doch Cleo schlug ganz selbstverständlich die gegensätzliche Richtung ein und schlenderte mir voran tiefer ins städtische Labyrinth. Sie hatte anscheinend noch keine Lust nach Hause zu fahren. Für einen Freitagabend war das nichts Ungewöhnliches, doch dass mir zuerst der Gedanke an Bett, Katze und Fernseher gekommen war, galt nur als ein weiterer Beweis dafür, dass ich vergessen hatte, was üblich war, wenn man gemeinsam wohin ging. Ich hatte geglaubt, nach einer Aktivität wäre Schluss. Doch offensichtlich war dem nicht so. Cleo drehte sich mit einem fragenden Blick zu mir um. Es war kein unausgesprochenes »Hast du noch Lust?«, sondern eher ein überzeugtes »Wo bleibst du denn?«. Also schlurfte ich ihr hinterher, die untergehende Sonne im Nacken.
»Also arbeitet dein Vater als Kinderbuchautor?« Cleo griff unser Gespräch von vorhin wieder auf. Nachdem wir festgehalten hatten, dass ich nicht gut darin war, meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, war sie auf belanglosere Themen umgestiegen.
»Ja, er illustriert seine Geschichten auch. Seine Zielgruppe ist schon ein sehr junges Publikum«, erklärte ich sachlich.
»Das finde ich echt cool. Als Kind hattest du also deine eigene Buchfabrik direkt im eigenen Haus. Aber sag mal, warum hast du nicht deinen Vater gefragt, ob er deinen Text für die Zeitung gestaltet?« Da hatte ich ihr eine Eins-a-Vorlage geliefert.
»Weil er zu dem Zeitpunkt auf Dienstreise war. Er hätte einfach keine Zeit dafür gefunden.« Vielleicht auch, weil es mir regelrecht widerstrebte, ihm meine Texte zu zeigen. »Und wir hatten schließlich Lars«, fügte ich zähneknirschend hinzu. Das letzte Argument stand, wie ich fand, zwar auf sehr dünnen Beinen, regelrechte Flamingobeine, musste aber für dieses Mal herhalten.
»Du magst ihn nicht besonders, oder? Lars, meine ich«, äußerte sie gleich darauf. Ich sollte vielleicht mal versuchen, das Gespräch in eine angenehmere Richtung zu lenken, anstatt ihr immer wieder neue Dinge vor die Füße zu werfen, über die ich eigentlich gar nicht nachdenken geschweige denn reden wollte.
»Ne, nicht so wirklich. Anfangs hatte ich geglaubt, dass er ganz nett ist, aber sein Verhalten verändert sich immer drastisch, wenn er seine Freunde um sich hat.«
Mir hallte das Lachen dieser Hyänenhorde immer noch in den Ohren. Ein schreckliches, aber zugleich unheimlich einprägsames Geräusch.
»Stimmt, Moritz gehört ja glaube ich auch zu seinem Freundeskreis. Unter solch einem Einfluss kann ich mir das nur zu gut vorstellen.«
Moritz. Ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich den Namen schon einmal gehört hatte. Cleo bemerkte, dass meine Informationslage nicht ausreichte, um die Verbindung selbst zu ziehen.
»Blonde kurze Haare, die immer aufwendig nach hinten gegelt sind, und zu viele Muskelpakete für seine Größe«, erläuterte sie deshalb und mir wurde schnell bewusst, dass sie von dem Esel sprach, der sich immer ganz besonders in den Mittelpunkt drängte. Jegliche Synonyme von Ekelpaket zu Vollpfosten konnte ich jetzt einem Namen zuordnen. Während ich gedanklich all jenen mein Leid zukommen ließ, die auch Moritz hießen, bestätigte Cleo mir, dass er nicht nur auf mich unausstehlich wirkte. »Er ist bei mir in Darstellendes Spiel. Ein absoluter Vollpfosten, sag ich dir.« Meine Rede! »Also, na ja, er ist jedenfalls nicht sonderlich nett.«
Ich lachte über Cleos Versuch, ihre beleidigenden, aber zurecht gewählten Worte bedachter zu formulieren.
»Oh, das habe ich schon am eigenen Leib erfahren«, warf ich ein, bevor Cleo eine Anekdote aus dem Unterricht erzählte. Moritz hatte einem Mitschüler die Faust volle Kanne gegen die Nase gerammt, als es darum ging, Gewaltdarstellungen auf der Bühne dem Publikum vorzutäuschen. Anscheinend hatte er das Konzept nicht ganz begriffen. Laut ihm war es vollkommen unbeabsichtigt gewesen, weswegen er mit einer glimpflichen Strafe davongekommen war, zumal die Nase seines Opfers keinen Bruch erlitten hatte. Dass er allerdings nach der Stunde vor seinen Freunden in Gelächter ausgebrochen war, konnte als Zeichen gewertet werden, dass ihn sein eigenes Verhalten doch nicht sonderlich überrascht hatte.
»Nett«, kommentierte ich daraufhin und Cleo verdrehte schmunzelnd die Augen. Gleichzeitig fragte ich mich, warum man mit solch einem Menschen freiwillig Zeit verbringen wollte. Auch wenn ich von Lars nicht mehr viel hielt, konnte ich mir dennoch irgendwie nur schwer vorstellen, dass ihn solche Aktionen auch nur im Ansatz belustigten.
»Lass uns nicht mehr über ihn reden. So einer ist es echt nicht wert.« Es beruhigte mich, dass wir zumindest gegenüber Moritz die gleiche Abneigung fühlten. Das zeugte doch von gesundem Menschenverstand und stellte sich als kleine Gemeinsamkeit heraus, die wir teilten. Letzterer Gedanke erreichte mich widerwillig und ich schob ihn direkt beiseite. »Komm, lass uns etwas zu trinken kaufen.« Cleo zeigte plötzlich auf einen kleinen Kiosk an der nächsten Straßenecke. »Ich hab' Durst.«
Nachdem wir uns jeweils eine Dose Cola gekauft hatten und Cleo zusätzlich noch eine Packung Cracker, als hätte sie nicht schon genug gegessen, wanderten wir weiter. Ich hatte keinen Plan, wohin wir gingen und ob Cleo überhaupt ein Ziel im Sinn hatte, doch die Bewegung tat mir gut. Ab und zu wehte leichter Wind und kühlte die Luft um uns herum, aber die letzten Sonnenstrahlen gaben sich alle Mühe und pumpten die restlichen Hitzewellen durch die Stadt.
»Magst du einen?« Cleo hielt mir großzügig die Snacktüte unter die Nase. Demonstrativ hielt ich mir die Hand vor den Bauch und schüttelte kräftig mit dem Kopf. »Ehrlich, wenn ich jetzt noch etwas esse, dann platze ich.« Cleo zuckte nur mit den Schultern und schob sich direkt zwei Cracker auf einmal in den Mund. Das konnte ich nicht unkommentiert lassen. »Du bist wie Balu. Nur dass man dir nicht ansieht, dass du so viel in dich hineinstopfst.«
»Wer ist denn Balu?«, nuschelte sie mit vollem Mund und warf gleich noch einen Cracker hinterher. Krümel sammelten sich auf ihrem Dekolleté.
»Unser Kater.«
Cleo machte große Augen. »Ihr habt einen Kater?«
»Stand das nicht in meiner Akte?«
»In was für einer Akte?« Ihr Brabbeln war kaum zu verstehen.
»In der ... ach, egal, vergiss es.« So etwas sollte man nicht erklären müssen. Da verhielt es sich wie bei Witzen, es nahm dem Ganzen den Effekt.
Cleo schluckte, bevor sie das Wort wieder übernahm, wofür ich ihr sehr dankbar war. »Was würde ich nicht alles dafür tun, ein Haustier zu haben«, schwärmte sie dann. »Schon seit Jahren flehe ich meine Eltern an, doch meine Mama ist strikt dagegen. Sie meint, schon jedes Insekt sei zu viel.« Ich wollte nichts sagen, aber ich konnte Helene verstehen, dass sie neben ihren vier Kindern nicht noch ein weiteres Lebewesen im Haus haben wollte. Schon die halbe Stunde am Esstisch der Familie hatte mein Nervensystem zum Qualmen gebracht, wie war es dann erst, wenn man unentwegt in diesem Chaos aus Östrogen und einem Spritzer Testosteron steckte? Aber vielleicht wirkte es nur auf mich so überfordernd.
»Ich glaube, Balu hätte mit Sicherheit bei euch mehr Spaß.« Bei sechs Personen im Haus hätte er zumindest sechs Mal die Möglichkeit, ein Leckerchen zu erbetteln. »Uns geht er zumindest ständig fremd. Liegt vielleicht aber auch daran, dass häufig niemand zuhause ist.«
»Was macht denn deine Mutter eigentlich von Beruf?«, fragte sie daraufhin.
»Sie ist Firmenberaterin.«
»Zieht ihr deshalb so oft um?« Noch so ein mieses Gesprächsthema. Jetzt griff ich doch in die Snacktüte und zog mir einen Cracker heraus. Extra lang kaute ich darauf herum, bis sich das Weizengebäck fast vollends aufgelöst hatte, ehe ich es überhaupt heruntergeschluckt hatte.
»Hmhm«, stimmte ich schließlich zu, schluckte und knabberte an meiner Unterlippe weiter.
»Also ich stelle es mir ja toll vor, so viele Orte zu sehen.« Innerlich stöhnte ich. Ich konnte schon nicht mehr mitzählen, so oft hatte ich diese Aussage gehört. Für meine Mutter mochte das vielleicht stimmen, aber nicht jeder brauchte ständig einen neuen Tapetenwechsel. »Aber in Wirklichkeit ist das wahrscheinlich nicht so doll. Vor allem da es nicht in deiner Entscheidung liegt«, gab Cleo dann zu bedenken und ich kam nicht umhin, sie mit einem leicht überraschten Blick zu betrachten, während sie weiter wie am Fließband futterte. Sie musste einer der ersten sein, die in meiner Gegenwart die ganze Umzugsgeschichte kritisch bewertete. Anfangs hatte ich gedacht, sie wäre auch jemand, der das einzig und allein als aufregend und irgendwie beneidenswert empfand. Also, vielleicht tat sie das auch immer noch, es war schließlich Cleo, die ihrem Hobby nach zu urteilen eine Karriere als weltreisende Reporterin oder dergleichen anstrebte, aber dennoch war es irgendwie tröstlich zu wissen, dass meine Abneigung gegenüber dem Lebensstil meiner Mutter doch in gewisser Weise für andere verständlich war.
»Urlaube würde ich eher bevorzugen«, räumte ich ein und erntete damit ein verständnisvolles Lächeln.
»New York kann ich dir als Urlaubsziel empfehlen«, pflichtete sie bei.
»Vor allem das Gebäude der New York Times auf der Liste der Sehenswürdigkeiten, richtig?« Cleos Augen begannen zu leuchten.
»Richtig! Dafür hatte sich das jahrelange Sparen für Flug und Hotel absolut gelohnt.« Sie strahlte übers ganze Gesicht. So eine Begeisterung für eine Sache sah ich selten.
»Würdest du später gerne dort arbeiten?«, hakte ich aus ehrlicher Neugier nach.
Cleo antwortete, als hätte sie regelrecht auf diese Frage gewartet. »Es muss tatsächlich nicht unbedingt die New York Times sein. Also, ich würde natürlich nicht nein sagen.« Sie lachte. »Aber eigentlich möchte ich nur so viele Menschen, wie es geht, mit meinen Artikeln erreichen, zu einer Veränderung beitragen.«
Diese Antwort passte irgendwie so gut zu ihr, dass ich fast lächeln musste. Aber nur fast. »Ziemlich hohe Ziele«, sagte ich letztendlich nur. Aber ich verstand nun noch ein klein wenig mehr, warum ihr die Schülerzeitung so am Herzen lag.
»Ja, das kann gut sein. Und was ist mit dir?« Ja, was war mit mir? Bei Cleos Zukunftszielen konnte ich nicht im Geringsten mithalten. Bezüglich dieser Planung segelte ich schon seit Jahren um dieselbe Insel.
»Darüber habe ich mir noch gar nicht so richtig Gedanken gemacht«, versuchte ich es harmlos auszudrücken. »Irgendwas studieren vermutlich. Irgendwo länger wohnen als ein Jahr, würde mir allgemein auch erstmal reichen.«
»Ziemlich niedrig angesetzt, Leonie«, neckte sie mich.
»Leck mich«, lachte ich und klaute mir noch einen Cracker. Doch Cleo schien das nicht zu stören, sie teilte wohl gerne.
Unser Spaziergang führte uns mitten durch die Stadt. Zum ersten Mal bekam ich einen wirklichen Eindruck von dem Ort, in dem ich jetzt schon mehrere Wochen wohnte. Ich musste zugeben, dass es mir gefiel. Die grüne Bepflanzung überall, die verwinkelten Gassen und die kleinen süßen Cafés und Eisdielen, alles wirkte so aufeinander abgestimmt. Die Umgebung veränderte sich, die Straßen wurden länger, die Geschäfte wichen den Wohnhäusern und mir wurde bewusst, dass wir den Weg nach Hause anstrebten. Es wurde zunehmend dunkler und als Cleo an einer Kreuzung plötzlich stehen blieb, hatten die Sonnenstrahlen ihre Aufgabe vollends an die Straßenlaternen übergeben.
»Ich fand's echt schön. Danke, dass du mitgekommen bist«, meinte Cleo und kündigte somit das Ende unseres Ausflugs an.
»Ach was, kein Grund sich zu bedanken«, warf ich sogleich ein. Ich hatte doch nichts geleistet, ich war nur hier und wenn ich ehrlich in mich hineinhorchte, bereute ich es noch nicht einmal. »Zumal hätte ich ohne dich wohl nie einen rothaarigen Italiener kennengelernt.« Wir konnten nicht anders und mussten grinsen bei dem Gedanken an Owen.
Dann erklärte mir Cleo den schnellsten Weg zur nächsten Haltestelle. Sie musste in die entgegengesetzte Richtung. Als Abschied setzte sie zu einer Umarmung an. Ich ließ es zu und während mich ihre Locken im Gesicht kitzelten, drückte ich sie kurz.
»Bis Montag!« Cleo winkte, derweil sie sich rückwärts von mir entfernte. »Bis dann!«, erwiderte ich, drehte mich um und ging auf beschriebener Route davon.
Langsam schritt ich den Gehweg entlang. Ich verspürte keine Eile und genoss es einfach, wie sich meine Lungenflügel immer wieder mit frischer Luft füllten. In mir kam die Überlegung auf, wann ich das letzte Mal so lange mit jemanden Zeit verbracht hatte. Es war wahrscheinlich schon ewig her. Mit Anna und ihrer Clique hatte ich fast jedes Wochenende verbracht. Ich stockte in der Bewegung. Daran hatte ich eigentlich gar nicht denken wollen. Ich seufzte. Aber ich konnte nichts dagegen tun, dass es im Endeffekt der Wahrheit entsprach. Die Gruppe um Anna waren die letzten Menschen gewesen, die ich als meine Freunde bezeichnet hatte. Na ja, bis ich erfuhr, wie gleichgültig ich ihnen gewesen war. Aber als ich das herausfand, lebte ich schon in der nächsten Stadt. Schnell wurde mir klar, in was für rührselige Ecken ich abschwirrte. Ich versuchte, es zu unterbinden, mich nicht zu fragen, was sich zwischen Cleo und mir entwickelte, was für Wünsche und Zweifel ich hegte. An diesem Abend wollte ich nicht mein momentanes soziales Konzept überdenken. Ich beschleunigte meinen Schritt. In der Einsamkeit waren solch stille Nächte gefährlich. Sie waren wie gemacht für abgrundtiefe Gedanken und ich hatte keine Kraft, aus dieser Schlucht wieder herauszuklettern. Nicht heute. Auch nicht morgen.
Mechanisch folgte ich Cleos Wegbeschreibung. Straße für Straße ließ ich hinter mir, als mich mit einem Schlag ein Déjà-vu-Erlebnis ereilte. Im schwachen Licht kam mir diese Ecke der Stadt komischerweise unheimlich vertraut vor. Automatisch drosselte ich mein Tempo so weit, bis ich stoppte. Ich hob meinen Blick und erkannte das alte Neonschild eines unseriös wirkenden Nagelstudios. Unregelmäßig flackerten mir die pinken Leuchtröhren entgegen und in meinem Kopf formten sich Jaspers Umrisse, umgeben von eben jener Lichtquelle. Ich hatte seinen Namen gerufen, als er genau an dieser Stelle gestanden hatte. Also lag der Ort unseres ersten richtigen Aufeinandertreffens nur eine Abzweigung entfernt. Plötzlich überkam mich das nervöse Gefühl, was ich ähnlich auch in der damaligen Nacht verspürt hatte. Konnte es sein, dass er auch heute dort lag, direkt hinter der nächsten Ecke auf dem verblichenen Zebrastreifen?
Ich schaute mich um, während die wachsende Neugier ins Gefecht mit meiner Nervosität trat. Die Straße war leer und fühlte sich verlassen an, so als würden auch tagsüber nicht viele Menschen über den Gehweg spazieren. Dann inspizierte ich mir gegenüber den Weg, in den ich eigentlich abbiegen müsste, um die Bushaltestelle zu erreichen. Sollte ich einfach weiter gehen? Oder sollte ich wenigstens nachsehen, ob Jasper da war? Nur einen kurzen Blick wagen, um zu überprüfen, ob ich mit der Vermutung recht hatte, dass er das öfters tat? Wenn nicht, dann könnte ich die Sache vielleicht abhaken, als einmaliges Erlebnis abstempeln, das vergessen werden konnte. Und wenn er dort lag, ja, was dann eigentlich?
Doch meine Füße ließen mir keine Zeit, diese Option genauer zu überdenken, und setzten sich einfach selbstständig in Bewegung. Steinplatte für Steinplatte überquerte ich, derweil mein Herz immer stärker pochte. Es hörte sich unverhältnismäßig laut an, begleitet von dem leisen Summen der Straßenlaternen. Ich weiß nicht, was diese Situation von denen in der Schule unterschied. Bis jetzt war ich ihm schließlich schon öfters begegnet. Was machte da ein Treffen mehr oder weniger? War es die Atmosphäre, die meinen Körper so in Wallung brachte? Die Stille der Nacht umfing mich und lenkte meine Aufmerksamkeit auf jedes noch so kleine Geräusch. Doch mit jedem Schritt verschob sich die Konzentration auf das, was ich sah. Jede Regung, jede Gestalt wollte ich frühzeitig erfassen, um mir dann überlegen zu können, wie ich reagieren sollte. Ich kam der Ecke stetig näher und der Asphalt besagter Straße schob sich immer mehr in mein Blickfeld. Streifen für Streifen offenbarte sich mir der Fußgängerüberweg, der letztendlich ganz leer vor meinen Füßen lag. Stumm starrte ich die weiße Farbe an, als könnte sie mir sagen, was ich jetzt fühlen sollte. Enttäuschung, Erleichterung oder einfach Gleichgültigkeit?
Jasper war nicht hier. Als ich das vollends realisierte, fiel jegliche Anspannung von mir ab. Zu früh, wie sich wenige Sekunden später herausstellte.
»Leonie, was machst du denn hier?« Ich wirbelte herum und fühlte mich mit einem Mal in die Nacht der Party zurückversetzt. Kein Geringerer als Jasper stand mir gegenüber.
»Ich, äh-« Was sollte ich denn jetzt sagen? Ich wusste die Antwort ja selbst nicht genau. Also, doch, in gewisser Weise, schließlich wollte ich sehen, ob Jasper auch an diesem Abend auf der Straße herum lag. Aber die entscheidende Frage war eher: Warum wollte ich das überhaupt überprüfen? Wie dem auch sei, ich konnte ihm unmöglich meine wahren Absichten gestehen. Wofür hielt er mich denn dann? Ein billiger Cleo-Abklatsch, der es nicht einmal schaffte, unbemerkt Informationen zu sammeln?
»I-ich war auf dem Weg nach Hause.« Das entsprach schon irgendwie der Wahrheit. Dass ich mich hier gerade auf Umwegen befand, ließ ich getrost unter den Tisch fallen.
Jasper betrachtete mich nachdenklich, als könnte er auch nicht so recht glauben, dass wir uns an dieser Stelle noch einmal über den Weg liefen. Diesmal vielleicht weniger gefährlich, aber nicht minder nervenaufreibend.
Sag doch irgendwas, flehte ich innerlich, als die Stille den Raum zwischen uns auffüllte. Doch Jasper brach das Schweigen zwischen uns nicht mit seinen Worten, sondern mit einem Schritt auf mich zu. Und noch einen. Als ich glaubte, dass er mich im nächsten Moment berühren würde, ging er an mir vorbei. Ich blinzelte. Warte, was?
Ich wandte mich zu ihm um. Da lag er, ausgestreckt in voller Länge auf der Straße und schaute mich wieder an. Dann machte er eine kaum merkliche Bewegung mit seiner rechten Hand. Er klopfte neben sich auf den Asphalt. War das - sollte das eine Aufforderung sein? Einige Sekunden starrte ich auf seine Hand, erst dann begegnete ich wieder seinen Augen.
»Einfach so?«, fragte ich.
»Einfach so«, antwortete er.
Ein Treffen mehr oder weniger, ich hatte das Gefühl, dass es diesmal einen Unterschied machte.
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