[1] • Unerwünschte Begegnungen
Was die Flut bringt, nimmt die Ebbe wieder mit sich.
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Lustlos spießte ich einige Salatblätter, die regelrecht in einem Essig-Öl-Dressing schwammen, mit meiner Gabel auf und schob sie mir in den Mund. Während ich versuchte, diesem durchtränkten Essen etwas Gutes abzugewinnen, schaute ich mich in der Cafeteria um. In der einen Ecke sprach man über den Start der neuen Fußballsaison und in der anderen berichteten sich die Mädchen gegenseitig, wie süß die Typen doch gewesen waren, die sie am letzten Wochenende kennengelernt hatten. Ich schüttelte darüber nur den Kopf und kam zu dem Schluss, dass jede Schule, auf der ich bis jetzt gewesen war, keinen Unterschied zu der Vorherigen darstellte. Es gab die gleiche Art von Schülern, das gleiche ekelhafte Mensaessen und dieselben komischen Lehrer, die einem grundlos erzählten, dass sie ihrem Ehepartner in der Sauna begegnet waren. Letzteres interessierte mich herzlich wenig und des Weiteren fand ich es gruselig, mir meinen ehemaligen rundlich geratenen Mathelehrer mit einem knappen Handtuch umwickelt vorzustellen.
»Leonie?«, fragte eine Stimme neben mir und bewahrte mich somit davor, mir eben Genanntes nochmals bildlich in meinem Kopf auszumalen.
Ich drehte mich zu dem Mädchen hin, welches anscheinend überglücklich darüber war, mich zu sehen. Ihr engelsgleiches Gesicht mit den braunen Knopfaugen war mir bekannt. Es war die Schülerin, die sich mir heute Morgen im Sekretariat vorgestellt und mich zu meinem Klassenraum geführt hatte. Dabei hatte sie mir erzählt, dass es ihre Aufgabe sei, neue Mitschüler zu begrüßen und sie in das Schulleben zu integrieren. Ihre übertriebene Nettigkeit ging mir da schon auf die Nerven, weshalb sich meine Freude in Grenzen hielt, sie nach vier Schulstunden noch einmal zu sehen. Schließlich hatte ich den Vormittag auch ohne sie gut überstanden. Eigentlich hatte ich auch gedacht, das Thema wäre erledigt, als ich ihr erklärte, dass sie sich keine Mühe zu machen bräuchte, mich in das Schulleben einzubinden, da ich in wenigen Monaten sowieso wieder von der Bildfläche verschwinden würde. Zumal konnte ich mich auch überhaupt nicht an ihren Namen erinnern. War es irgendetwas mit C? Charlotte? Oder doch Cherin?
»Und wie fühlst du dich nach den ersten Stunden an der neuen Schule?«, fragte sie mit ihrem breitesten Lächeln und setzte sich, ohne zu fragen, einfach neben mich.
Ich schwieg für einen Moment. Derweil steckte sich Charlotte-Cherin ebenfalls eine salatbehäufte Gabel von ihrem spärlich beladenen Tablett in den Mund und verzog daraufhin angewidert das Gesicht. Ein Funken Sympathie kam in mir auf.
»Und?«, hakte sie nach, nachdem sie ihr Tablett von sich weggeschoben hatte. Anscheinend konnte man von der Lasagne genauso wenig erwarten.
Langsam ließ ich mein Besteck sinken und überlegte, ob es eine gute Idee war, mit ihr Smalltalk zu führen. Ich wollte mir keine neuen Freunde machen und ich glaubte, dass sie zu der Sorte Menschen gehörte, die so etwas als den Anfang einer Freundschaft bezeichnen würden. Doch andererseits war die Mittagspause noch relativ lang und ich hatte keine Lust, die restliche Zeit nur in meinem Essen herumzustochern.
»Gut«, murrte ich schließlich.
»Ist nicht mehr so aufregend nach sieben Mal umziehen, stimmt's?«
Ich wurde hellhörig.
»Woher weißt du davon?«, fragte ich und beäugte sie misstrauisch.
»Da ich mich um alle neuen Schüler kümmere, bekomme ich schon ein paar Informationen vom Sekretariat im Voraus«, erklärte sie nüchtern und nickte vor sich hin, wobei die Unmengen von schwarzen Locken auf ihrem Kopf hin und her wippten.
Wie reizend! Morgen wusste sie wahrscheinlich auch schon, wie mein Haustier hieß und wie viele Lagen unser Toilettenpapier hatte. Die Sympathie für Charlotte-Cherin, die für wenige Sekunden in mir aufgekommen war, erstickte im Keim.
»Ich finde es faszinierend, wie viele verschiedene Orte du schon gesehen haben musst. Du hast bestimmt einiges zu erzählen«, redete sie weiter und geriet in regelrechte Euphorie, die ich allerdings nicht verstehen, geschweige denn teilen konnte. »Ich bin übrigens in der Schülerzeitung, falls du daran Interesse hättest. Solche Leute wie dich könnte man gut gebrauchen, um die Schüler zum Lesen zu animieren.«
Ihr Redefluss war kaum zu stoppen und ich verbot es mir, jemals wieder ein Gespräch mit ihr anzufangen. Ich sollte versuchen ihr in den nächsten Tagen aus dem Weg zu gehen, bis sie ein neues Opfer gefunden hatte, welches sie zutexten konnte. Mit halbem Ohr hörte ich ihr zu, wie sie von der Arbeit in der Schülerzeitung schwärmte, und wandte mich der Lasagne zu. Ein gelbroter Matschhaufen, in dem vereinzelt bräunliche Klumpen vorzufinden waren, die ich nur schwer als Hackbällchen identifizieren konnte, starrte mir entgegen. Ich fühlte mich von meinem eigenen Essen beobachtet. Voller Grauen schob ich das widerliche Zeug von mir und musste mich wohl oder übel auf die Labertasche neben mir konzentrieren. Doch als ich mich gerade zu ihr drehte, und Anstalten machte den Mund zu öffnen, nicht wissend, ob aus ihm vulgäre Beschimpfungen hinauspurzeln würden, wurde ihr Monolog abrupt unterbrochen, ohne dass ich ihr den Lasagneklumpen in den Mund stopfen musste. Der Grund dafür war ein anderes Mädchen, das sich durch den Haufen an Schülern hindurch quetschte, wild mit den Armen wedelte und wiederholt den Namen »Cleo« rief. Hatte ich doch recht gehabt, ihr Name fing mit C an.
»Cleo!«, rief das aufgescheuchte Huhn erneut, als hätten wir sie nicht schon beim ersten Mal gehört. Neugierig drehten sich die Leute in der Mensa zu uns um und ich versuchte verzweifelt mich auf irgendeine Weise unsichtbar zu machen, damit ich nicht mit diesen zwei Verrückten in Verbindung gebracht wurde. Doch bei der Aufmerksamkeit, die das brünette Mädchen mit Hornbrille auf sich zog, war das wohl kaum möglich.
»Mel! Was ist denn los verdammt? Musst du hier das ganze Schulgebäude zusammen schreien?«, zischte Cleo aka Charlotte-Cherin ihr zu, als das Huhn mit Hornbrille schweratmend an unserem Tisch zum Stehen kam.
»T'schuldigung Cleo«, nuschelte Mel und versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Im Gegenzug fing sie wieder an wild zu gestikulieren. Sie machte einen Eindruck, als stünde uns der Weltuntergang bevor. »Aber es ist etwas Schreckliches passiert und ich bin so froh, dich gefunden zu haben. Du musst sofort mitkommen!«
»Beruhige dich erst mal. Was ist denn überhaupt los?« Cleos Versuch, Mels Aufregung zu lindern, schien bei ihr nicht zu wirken. Stattdessen wurde sie auf die Frage hin nur noch hysterischer. Wo war ich hier bloß hineingeraten?
»So, wie du es mir erklärt hast, habe ich meinen Text in das Programm eingefügt und gespeichert. Doch als ich dann noch einmal nachgeschaut habe, war er weg! Mein fünfseitiger Artikel einfach verschwunden!«
»Oh«, kam es daraufhin von Cleo und ich hätte beinahe laut aufgelacht. Nach diesem hysterischen Anfall wirkte die minimale Gefühlsregung in Cleos Gesicht mehr als absurd. Mel ließ sich davon jedoch nicht beirren.
»Du musst mir helfen, Cleo! Ohne dich ist mein Artikel verloren!«
Und voller Erstaunen und Belustigung glaubte ich von Cleo ein »wäre auch besser so« zu hören. Ich hätte meinen Ohren fast nicht geglaubt, doch es war mehr als deutlich, dass Cleo von Mel wohl nicht viel hielt, als sie zusätzlich auch noch ihre Augen verdrehte. Eigentlich dachte ich, sie sei die nervtötende Nettigkeit in Person und konnte keiner Fliege etwas zuleide. Doch Mel war selbst zu blind, um die kleinen Andeutungen zu verstehen und zu bemerken, dass sie bei Cleo keine Freundin gefunden hatte.
»Dann sollten wir mal schauen, ob wir deinen Text wiederherstellen können«, gab sich Cleo schließlich geschlagen, die ihren Status als Nervensäge an das Huhn mit Hornbrille weitergegeben hatte, und fügte mit einem Hauch Ironie hinzu: »Schließlich wäre es ein herber Verlust für die nächste Ausgabe der Schülerzeitung.« Diesen Wink verstand Mel allerdings auch nicht und strahlte hingegen über beide Ohren, als sich ihre Retterin in Bewegung setzte.
»Man sieht sich, Leonie«, sagte sie an mich gewandt und ging mit Mel davon, die weiter auf sie einredete.
Kurz bevor sie die Cafeteria verließen, drehte sie sich noch einmal zu mir um und lächelte. Und ohne es zu wollen, machte sich einer meiner Mundwinkel selbständig, wanderte nach oben und ich hob zum Abschied die Hand. Sekunden später realisierte ich, was ich da gerade tat, und zog meinen Arm zurück. Allerdings wollte sich mein Mundwinkel nicht zurechtweisen lassen.
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Die Bushaltestelle war voll. Von Fünftklässlern bis Oberstuflern war alles vertreten und alle warteten darauf, endlich nach Hause zu kommen. Nur mir wollte sich der Sinn von dem nach Hause fahren nicht erschließen. Ob ich nun in dem neuen Haus war oder hier, es war mir alles fremd und dieses Gefühl verließ mich schon seit Jahren nicht mehr. Seit dem ersten Umzug, als ich aus dem Auto ausgestiegen war und unser neues Heim gesehen hatte. Allerdings war damit damals noch eine Aufregung und Neugier verbunden gewesen, die mit jedem weiteren Umzug immer schwächer wurde und irgendwann ganz versiegte. Jetzt schmeckte ich einen faden Beigeschmack bei jedem neuen Augenaufschlag. Ich wollte nichts Neues mehr sehen, ich wollte etwas Beständiges. Etwas, das blieb.
Der Bus kam und ich quetschte mich mit einem Haufen anderer Körper hinein. Dann kamen mir Zweifel, ob ich in dem Trubel auch die richtige Linie erwischt hatte. Nur gab es jetzt kein Vor und Zurück mehr. Ich konnte mich nur noch um meine eigene Achse drehen.
»Leonie!«, kam es plötzlich von hinten und jemand tippte mir auf die Schulter. Ich drehte mich um. Cleo! Das war definitiv der falsche Bus!
»Hey«, sagte ich und legte in die Begrüßung so viel Unmut, dass man sie auch deutlich hören konnte. Nur Cleos Lächeln verblasste nicht. Irgendwie schienen die hier alle unfähig zu sein, zu erkennen, wenn man nicht mit einem reden wollte. Schlecht für mich, da ich sonst alle mit einem mürrischen Grummeln abschütteln konnte.
»Ich dachte mir schon, dass ich dich hier treffe.« Natürlich hatte sie sich das gedacht. Sie wusste ja vermutlich auch genau, wo ich wohnte! Vielleicht sollte ich mir auch mal so eine gute Beziehung zum Sekretariat aufbauen. Könnte in vielen Fällen bestimmt von Vorteil sein, zum Beispiel Cleo aus dem Schulsystem zu entfernen.
»Du müsstest zwei Haltestellen nach mir aussteigen.«
»Müsste ich das«, murmelte ich nur und überlegte schon, wie ich meine Eltern überreden könnte, mir eins von unseren Autos zu überlassen, damit ich solchen ungewünschten Begegnungen im Bus nicht mehr ausgeliefert war.
»Das freut mich, dass wir fast den gleichen Weg haben. Dann sehen wir uns morgen früh direkt wieder.« Gott, bewahre! »Aber ich glaube, wir haben sowieso die ersten beiden Stunden zusammen. Deutsch Leistungskurs bei Frau Werth, richtig?«
»Ich glaube, da hast du meinen Stundenplan besser drauf als ich.«
»Oh«, meinte sie daraufhin und sah plötzlich etwas verlegen aus. »Tut mir leid, falls ich dir auf die Pelle gerückt bin. Ich kann mir nur ziemlich gut Sachen merken und mein Mund ist leider immer schneller als ich.«
»Schon okay«, lenkte ich ein mit der Hoffnung, sie würde daraufhin endlich Ruhe geben. Aber ich wurde nicht erhört. Kurz darauf kehrte nämlich ihr Lächeln zurück und sie öffnete erneut ihre Lippen. »Trotzdem denke ich, dass es ganz angenehm ist, wenn man jemanden hat, der einem bei einem Neuanfang zur Seite steht.« Ich denke nicht.
Es ging mir eigentlich nicht darum, dass ausgerechnet Cleo sich um mich bemühte. Ich wollte einfach, dass sich gar keiner um mich bemühte. Das war verschenkte Zeit. Für mich und für die, die sich mit mir anfreunden wollten. Ich kam damit zurecht, allein zu sein. Lieber allein, als sich immer wieder von Neuem verabschieden zu müssen.
»Hör zu, es ist ja schön und gut, dass du die neuen Schüler unterstützt, aber ich brauche das nicht. Das ist unsinnig. Ich bin bald wieder weg, wahrscheinlich in weniger als einem Jahr, also es tut mir leid, aber du kannst dir die Mühe sparen. Ich brauch keine neuen Bekanntschaften, okay?« Klar und deutlich. Ich hoffte, dass sie das diesmal verstanden hatte. Meine bisherigen Andeutungen waren anscheinend zu undurchsichtig gewesen.
Cleo war verstummt. Sie schaute mich einfach nur an. Ihre braunen Augen, die bis jetzt vor Freude Funken gesprüht hatten, hatten nun etwas von ihrem Glanz verloren und ein Teil von mir bereute fast, was ich gesagt hatte. Aber es war besser so. Einfacher für alle Beteiligten.
»Dann lasse ich dich mal für heute in Ruhe. Das war mit Sicherheit ein anstrengender Tag für dich.« Sie war wirklich eine harte Nuss! »Ich muss hier jetzt sowieso raus. Bis morgen!« Sie wartete auf keine Antwort von mir, nicht, dass ich ihr eine gegeben hätte, und ließ sich von der Menge mitziehen, die ebenfalls aussteigen wollte. Zwar schien sie etwas betrübt über meine Ablehnung gewesen zu sein, aber ich bezweifelte stark, dass sie schon komplett aufgegeben hatte.
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Mit einem Seufzen gab ich der Haustür einen sanften Tritt, ließ meinen Rucksack achtlos fallen und streifte die Schuhe von meinen Füßen.
»Liebling, bist du's?«, ertönte die Stimme meines Vaters. Kurz darauf kam er auch schon um die Ecke mit einer blau-karierten Schürze um den Hüften und einem Pfannenwender in der Hand, den er hielt, als würde er einen Schwertkampf führen wollen. »Hunger? Ich mache gerade Pfannkuchen.«
Ich nickte stumm und folgte ihm in die Küche. Während er den Teig in die Pfanne goss, setzte ich mich auf den Tresen und schaute ihm dabei zu, wie er Apfelstücke dazu gab und den Teig gekonnt in der Luft wendete. Wozu er nun den Pfannenwender überhaupt brauchte, blieb ungeklärt. Mein Vater war ein sehr guter Koch. Ich wusste nicht, ob es ein angeborenes Talent war oder ob er es in der Zeit, in der er meine Mutter kannte, gelernt hatte. Sie konnte jedenfalls gar nicht kochen. Zwar hatte sie es immer wieder versucht, wenn sie einen freien Tag hatte, als müsste sie irgendwem etwas beweisen, aber es endete jedes Mal damit, dass wir letztendlich etwas zu Essen bestellten.
»Puderzucker?«
»Ja«, gab ich einsilbig von mir, schlurfte zum Tisch und setzte mich, bevor mir auch schon ein dampfender, süßlich riechender Pfannkuchen vor die Nase gesetzt wurde. Keine Sekunde später kam unser Kater um die Ecke. Sofort fixierte er mich mit seinem Blick. Ich wusste genau, was er wollte. Er war gefräßig wie kein anderes Tier, aber leider auch schon zu schwer, um den Sprung auf den Tisch zu schaffen und sich selbst zu bedienen. Zudem hatten wir ihn eigentlich auch auf Diät gesetzt, aber leider war er noch zu flink und schlich sich bei jeder Möglichkeit aus dem Haus, um sich bei anderen Familien durchfüttern zu lassen. Ein treuer Gefährte war er demnach nicht, wahrscheinlich gerade weil wir ihm die zusätzlichen Essensrationen verweigerten.
»Hat Balu weiter zugenommen?«
Mein Vater drehte sich unserem Kater zu, beäugte ihn kritisch und legte dabei den Kopf schräg, als könnte er so seine Proportionen besser einschätzen.
»Das kann gut sein«, meinte er nach kurzer Zeit und seufzte. »Aber ich schaffe es einfach nicht, ihn die ganze Zeit im Auge zu behalten. Er muss sich in den zwei Wochen, die wir hier sind, schon wieder eine neue Familie angelacht haben.«
Er setzte sich zu mir, bestrich seinen Pfannkuchen mit Nutella, rollte ihn auf und biss dann genüsslich hinein. Balu guckte sich das wenige Sekunden an, machte dann auf dem Absatz kehrt und verließ die Küche, als könnte er der dreisten Provokation nicht standhalten.
»Du hast deine Haare geschnitten«, bemerkte er plötzlich zwischen zwei Bissen.
Ich nickte. »Heute Morgen«, nuschelte ich mit vollem Mund und fuhr mir kurz mit meiner freien Hand durch meine kinnlangen hellbraunen Haare. Die Spitzen fühlten sich noch ganz fein an. »Wurden mir einfach zu lang.«
»Gefällt mir«, sagte er und lächelte.
»Und wie kommst du mit deinem Buch voran?«, lenkte ich das Thema auf seine Angelegenheiten.
»Joa, es hapert momentan ein bisschen an der Charaktergestaltung. Die Mimik des Maulwurfs will mir nicht immer ganz gelingen. Aber wie war's denn eigentlich in der Schule?«
Ich seufzte. Ein Versuch war es wert gewesen. Viel lieber hätte ich mich mit ihm über sein neues Kinderbuch unterhalten, aber natürlich mochte er als Elternteil wissen, wie es mir ging. Auch wenn wir beide wussten, dass meine Lust sich mitzuteilen verschwindend gering war und letztendlich nicht viel bei solchen Gesprächsversuchen herumkam.
»Okay, so wie sonst auch immer.« Das sollte wohl als Antwort genügen. Ich schluckte den letzten Bissen von meinem Pfannkuchen hinunter und stand mit dem Geschirr in der Hand auf, um es in der Spülmaschine zu verstauen. »Ich bin dann mal oben. Danke fürs Essen.« Ohne groß auf eine Antwort zu warten, stapfte ich aus der Küche. »Gerne, Schatz!«, rief mir mein Vater dennoch hinterher, bemüht darum, den Unterton zu unterdrücken, der ausdrückte, dass er mit dem Verlauf des Gesprächs nicht zufrieden war. So wie üblich.
Als ich die Tür zu meinem Zimmer oder neutraler gesagt zu einem Raum, in dem ich schlief, öffnete, stieß ich gegen eine der vielen Kisten, die noch unangetastet auf dem Boden herumstanden. Es war, als wären wir gerade erst eingezogen und würden nicht schon seit zwei Wochen hier wohnen. Diese Vermutung kam allerdings nur in meinem Zimmer auf. In allen anderen Räumen hatte meine Mutter in ihrem Dekorationswahnsinn schon alles heimisch eingerichtet. Doch egal wie idyllisch meine Mutter immer wieder aufs Neue die Häuser gestaltete, für mich hatte alles seinen Glanz verloren. Wir zogen von Stadt zu Stadt, wie eine Zirkusfamilie, nur ohne die wilden Tiere und den abendlichen Bühnenshows, und ich fing an, es zu hassen. Am meisten hasste ich die Begeisterung meiner Mutter und die Bemühungen, aus dem neuen Haus ein Zuhause zu machen. Ich hasste es, weil diese Begeisterung echt war. Sie liebte das Reisen und ihre Arbeit als Firmenberaterin, aber mich laugte es aus. Doch sie war glücklich und ich wollte ihr Glück nicht zerstören, indem ich ihr sagte, dass ich nicht mehr konnte. Also blieb ich stumm und wartete bis zu meinem Schulabschluss. Dann wollte ich studieren und musste mich sowieso von meinen Eltern abnabeln, auf eigenen Beinen stehen. Sie jetzt zu verlassen könnte ich nicht, letztendlich liebte ich sie ja, auch wenn ich keinen Gefallen an ihrem Lebensstil hatte.
Kaum hatte ich mich aufs Bett gelegt, klopfte es auch schon wieder an der Tür. Ich grummelte und legte die Kopfhörer zur Seite, die ich mir gerade über die Ohren ziehen wollte, um mich mit lauter Musik zu beschallen.
»Süße.« Meine Mutter steckte den Kopf zur Tür rein. »Papa meinte, du hast schon ge-« Sie sah sich im Zimmer um. »Du hast ja immer noch nicht ausgepackt!«
»Ja, ich hatte bis jetzt nicht so die Zeit dafür. Anstrengender Tag, war schließlich der erste Schultag«, wich ich aus und hoffte, sie würde das Thema fallen lassen, damit ich ihr nicht erklären musste, dass ich im Einrichten meines Zimmers überhaupt keinen Sinn sah. Tatsächlich lenkte die Erinnerung an die neue Schule sie von den sich übereinanderstapelnden Kartons ab.
»Richtig! Wie war's denn gewesen? Schon neue Freundschaften geschlossen?« Ich musste mich schwer zusammenreißen bei dem Gedanken an Cleo nicht die Augen zu verdrehen, aber leider war sie die Einzige, die mir in diesem Zusammenhang in den Sinn kam. »Cleo, ein Mädchen aus meiner Stufe, hat mich herumgeführt.« »Wie schön!«, sagte sie ehrlich erfreut und lächelte breit. Wenn sie wüsste! »Sag mal, hast du dir die Haare geschnitten?«, bemerkte sie wie Papa zuvor, schien jedoch um einiges überraschter und trat in den Raum hinein, wahrscheinlich um mein Werk genauer betrachten zu können. Hinter ihr tauchte Balu im Türrahmen auf und schlich sich träge in meine Richtung. »Deine Haare waren doch so schön dick und lang gewesen.«
»Ja, gerade deswegen.«
Balu versuchte sich verzweifelt an meinem Bett hochzuziehen. Er stellte sich dafür sogar auf seine Hinterbeine und streckte seine Vorderpfoten in die Höhe, schaffte es aber nur mit seinen Krallen am Holz zu kratzen. Dann änderte er seine Taktik und schaute mich so lange mit seinen gelben Kulleraugen an, bis ich das orange getigerte Fellknäuel schließlich aufs Bett hievte.
Meine Mutter seufzte. »Wenn ich doch nur so schöne Haare hätte«, schwärmte sie und griff sich währenddessen an ihren Dutt, der ihre langen, blonden, doch wie sie immer bemängelte, zu dünnen Haare zusammenhielt. »Sei froh, dass du die Mähne von deinem Papa geerbt hast.«
»Sei froh, dass ich sie nicht so kurz geschnitten habe, wie Papa sie trägt«, meinte ich und schüttelte schmunzelnd den Kopf, während ich anfing Balu zwischen den Ohren zu kraulen, der nun schnurrend in meinem Schoß lag.
»Ach, alles gut, mich hat es nur überrascht und die Frisur steht dir. Ich hätte das wahrscheinlich alleine nie so hinbekommen. Aber zurück zu dem, weshalb ich eigentlich gekommen bin; Papa meinte, du hast schon einen Pfannkuchen gegessen. Brauchst du sonst noch was oder bist du satt?«
»Alles gut. Der Pfannkuchen hat gereicht«, antwortete ich, da ich befürchtete, sie würde mir ansonsten noch etwas kochen wollen. »Wie war denn die Arbeit?«
Sie wogte ihren Kopf hin und her. »Ach, es ging. Die Firma hat einige Probleme beim Marketing. Aber ich bin schließlich dafür da, das schnell wieder hinzubiegen.«
Innerlich seufzte ich auf. Meine Gedanken hingen sich an dem Wort schnell auf und spielten es in meinem Kopf hin und her, als wäre es ein Pingpong-Ball. Ich hörte die Uhr schon ticken. Doch als ich das angriffslustige Funkeln in den Augen meiner Mutter sah, was sie immer bekam, wenn sie von einer neuen Herausforderung erzählte, blieben die missmutigen Züge in meinen Gesichtsmuskeln stecken und ich lächelte stattdessen.
»Natürlich! Die können froh sein, dass sie dich haben.«
»Danke, Schatz!« Sie kam auf mich zu, drückte mir einen Kuss auf den Scheitel, kniff Balu leicht in die Seite und verschwand dann mit einem Lächeln aus der Tür.
Als ich ihre Schritte auf der Treppe hörte, ließ ich mich wieder rittlings ins Bett fallen und mir entwich all die angestaute Luft, die ich in mir zurückgehalten hatte, um im Beisein meiner Mutter nicht laut aufseufzen zu müssen. Vielleicht lag Letzteres auch an Balu, der mir durch meine Bewegung auf die Brust gerutscht war und somit meine Lungen abquetschte. Ich schob ihn zurück nach unten, was er mit einem Gähnen zur Kenntnis nahm, und fischte mein Handy unter der Bettdecke hervor. Eine neue Nachricht wurde mir angezeigt; unbekannte Nummer. Irritiert öffnete ich sie und stutzte.
Die wollte mich doch verarschen? Wie zur Hölle kam die denn auch noch an meine Nummer?
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