23 Tage davor
Allein saß ich in dem ratternden Bus, der wahrscheinlich schon meinen Vater vor fünfundzwanzig Jahren in die Schule gefahren hatte und wartete, bis Alois, der griesgrämige Busfahrer, der meinen Vater tatsächlich schon gefahren hatte, endlich den Motor startete. Welch Wunder: Er schaffte es auch noch, ihn abzuwürgen.
Genervt presste ich mein Gesicht gegen die mit Fliegenscheiße verzierte Fensterscheibe, nur um mich gleich darauf wieder dieses Umstandes bewusst zu werden und angeekelt zurückzuweichen. Daraufhin wollte ich mich etwas beschämt umblicken, um sicher zu gehen, dass mich auch niemand gesehen hatte, was eine ziemlich unnötige Aktion gewesen wäre, immerhin interessierte sich im ganzen Bus keine Menschenseele für mich, als ich überrascht feststellen musste, dass sich jemand neben mich gesetzt hatte.
Empört runzelte ich die Stirn. Geht's noch? Was fällt dem bitteschön ein? Niemals, niemals setzte sich jemand neben mich. Das war schon fast ein ungeschriebenes Gesetz. Ich meinte, immerhin gab es hier genügend freie Plätze für alle! Und selbst wenn dieser, überraschenderweise fremde Kerl keinen anderen Platz bekommen hätte, so wäre doch zumindest zu erwarten gewesen, dass er sich erkundigte, ob ich nicht vielleicht für jemanden besetzt hatte, der später zusteigen sollte.
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich den Jungen doch bereits einmal gesehen hatte. Nur ganz flüchtig, deshalb hatte es etwas länger gedauert, bis ich mich daran erinnert hatte. Es war einer der Jugendlichen, die ins Haus gegenüber gezogen waren. Wahrscheinlich der jüngere Bruder der Kapuzengestalt. Er musste ungefähr in meinem Alter sein, wenn ich Emilys übertrieben ausführlichen Bericht glauben konnte.
"Du bist die, die gegenüber wohnt, oder?" Als der Kerl sich an mich wandte zuckte ich vor Überraschung zusammen. Am liebsten hätte ich meinen Kopf gleich nochmal gegen die Fensterscheibe geschlagen, jetzt hatte ich es wahrscheinlich geschafft, dass der Kerl mich nach nur fünf Sekunden für einen Freak hielt. Ich riss mich zusammen, wollte ihm antworten, doch kein Wort kam über meine Lippen, also nickte ich.
Er lächelte daraufhin und zu meinem erstaunen streckte er mir die Hand hin. "Freut mich, ich bin Lukas." Ich schüttelte ganz kurz seine Hand und gab mir dabei Mühe leicht zuzudrücken, da ich irgendwann mal gelesen hatte, dass dadurch Selbstbewusstsein gezeigt wurde.
Damit war die Sache für mich eigentlich beendet und ich wollte anfangen in meiner Tasche nach meinen Kopfhörern und meinem Handy zu kramen, als ich bemerkte, dass Lukas begonnen hatte, mich unverhohlen anzustarren.
"Schneiden sie euch in diesem Kaff die Zungen raus, oder wieso willst du mir deinen Namen nicht verraten?", meinte er nach einer Weile. Empört schnappte ich nach Luft. Wie konnte er es wagen, so über mein Dorf zu reden? Na gut, es war ein Kaff und ich mochte es hier auch nicht wirklich, aber wann immer es auf diese Weise angegriffen wurde, fühlte ich mich persönlich verletzt.
"Nein, es ist nur so, dass..." Dummerweise wusste ich gar nicht, was ich überhaupt hatte sagen wollen, deshalb blieb dieser Satz erst ein paar Sekunden unvollendet in der Luft hängen, bevor Lukas ihn aufgriff.
"...dass euch hier verboten wird mit Fremden zu sprechen? Möglicherweise nicht die beste Möglichkeit um Freunde zu finden, findest du nicht?", ergänzte Lukas meinen Satz, ganz anders, als ich das vorgehabt hatte. Leider entsprach das jedoch sogar der Wahrheit, auch wenn es in dem Zusammenhang nicht stimmte. Meine Oma warnte mich mit meinen 17 Jahren echt noch immer regelmäßig, niemals Fremden zu vertrauen.
"Leia", antwortete ich deshalb, was dazu führte, dass der Junge, der dringend einen Haarschnitt gebrauchen konnte, seine Stirn in Falten legte. Wahrscheinlich wog er ab, ob ich das ernst meinte, oder ihn zum Narren hielt.
"Schicker Name, Prinzessin", stellte er dann einfach fest, worauf ich leicht den Kopf schüttelte. Der Witz war einfach zu alt und zu schlecht.
Lukas schien das jedoch nicht zu bemerken, oder aber es tangierte ihn schlicht peripher, denn ohne seine gute Laune einzubüßen, meinte er unvermittelt: "Heute Nachmittag um 3. Ich werde vor deinem Haus auf dich warten."
Irritiert blickte ich ihn an, während er keine Spur seines selbstsicheren Lächelns einbüßte. "Wie kommst du auf die Idee, dass ich etwas mit dir machen will?" Anzumerken wäre, dass dies nun an dieser Stelle das längste Gespräch war, das ich jemals mit einem Fremden geführt hatte.
"Sonst hättest du doch nicht geantwortet." Lukas zuckte seine Schultern. "Außerdem bist du die erste von diesen Landeiern hier, mit der ich gesprochen habe." Wie schmeichelhaft.
Eigentlich war das die Stelle, an der ich hätte aufstehen sollen, um mich nicht weiter von diesem eingebildeten Kerl belästigen zu lassen. Dummerweise stand mir noch eine halbe Stunde Fahrt bevor und jetzt war mit Sicherheit nirgends mehr ein anderer Sitzplatz frei. Stehen war mit meinem unterirdischen Gleichgewichtssinn leider auch keine Option.
Glücklicherweise schien das nun jedoch alles gewesen zu sein, womit Lukas mich belästigen wollte, denn er schwieg die restliche Fahrt. Erst als der Bus hielt und ich aussteigen wollte, wurde mir klar, dass er eingeschlafen war. Eigentlich hätte ich ihn ja weiterschlafen lassen, nur kam ich nun mal nicht an ihm vorbei, so lange er nicht aufgestanden war. Der Bus leerte sich zunehmen, während ich an seiner Schulter rüttelte, bis er blinzelnd seine blau-grau-grünen Augen öffnete.
"Ich muss hier raus."
Verwirrt blickte er sich um, fuhr mit der Hand einmal über seine Augen, bevor er mich wieder anguckte. "Wo sind wir?"
"Bei meinem Gymnasium, wenn du dich also etwas beeilen würdest..." Lukas blinzelte wieder, bevor er feststellte, dass er hier ebenfalls raus müsse. Anscheinend sollte ich in vorerst nicht los werden.
Kurz bevor Alois die Türen schloss, huschten wir hinaus.
In der Menge an Schülern, die aus Bussen in die Bushaltestelle strömten, ging Lukas verloren, worüber ich ganz froh war. Aus diesem Grund sah ich ihn nicht mehr, bis es zur vierten Stunde läutete. Gerade hatte die Biologiestunde geendet, weshalb Luise, Melanie und ich gemeinsam zu dem Raum eilten, in dem unser Matheunterricht stattfand. Direkt vor der noch verschlossenen Tür jenes Klassenzimmers lehnte eine Gestalt an der Wand, die ich erst auf den zweiten Blick als Lukas identifizierte.
Auch er schien mich zu bemerken, als er von einem Stapel Unterlagen, die er auf dem Arm balancierte, aufblickte. Er stieß sich von der Wand ab und schlenderte auf mich zu, woraufhin mein Mund ganz trocken wurde. Er würde jetzt doch wohl nicht mit mir reden wollen? Ich meinte, ich hatte ihm nichts zu sagen, Smalltalk lag mir nicht und auf die unangenehme Stille konnte ich getrost verzichten.
Glücklicherweise kam ihm jedoch mein Mathelehrer zuvor, der in diesem Augenblick mit klimpernden Schlüsseln um die Ecke bog. Nachdem das Klassenzimmer aufgeschlossen war, rannte ich fast auf meinen Platz, der sicher neben Luise und Melanie lag. Hier hatte Lukas gar keine Möglichkeit, mich anzusprechen.
Vorerst stand er sowieso neben dem etwas korpulenteren Herren neben dem Pult, während dieser ihn dafür verfluchte, zwei Wochen nach Schulbeginn hier anzukommen, wodurch das für ihn zusätzliche Arbeit bedeutete. Ich saß in der zweiten Reihe, deswegen konnte ich das Gespräch zwischen den beiden bestens verfolgen.
"Gut, dann nehmen Sie das hier, stellen sich vor und setzen sich am besten dort auf den freien Platz." Mein Lehrer deutete auf den Platz hinter mir, was für eine Überraschung. Das Schicksal schien es heute nicht gut mit mir zu meinen. Wobei, wann tat es das überhaupt?
"Ähm, okay", begann Lukas, wobei er sich an den Kurs, der noch damit beschäftigt war, verschiedenste Utensilien aus den Taschen zu kramen, wandte. "Mein Name ist Lukas, ich werde in genau 23 Tagen 17 und komme aus einem Berliner Vorort, den sowieso keiner kennt. Seit Samstag wohne ich jetzt in so nem Kaff hier um die Ecke, den Namen weiß ich ehrlich gesagt grad nicht mehr." Sein herausfordernder Blick in meine Richtung entging mir natürlich nicht. Er wartete darauf, dass ich ihm sagte, wie unser Dorf hieß. Diesen Gefallen würde ich ihm jedoch nicht tun.
Dies schien er nach kurzem schweigen zu begreifen, weshalb er sich auf seinen Platz begeben wollte, wurde jedoch von dem Lehrer aufgehalten, als dieser grunzte: "Und wieso sind sie umgezogen?" Es war offensichtlich, dass er noch immer etwas genervt war, weil ein neuer Schüler während des laufenden Schuljahrs mehr Papierkram bedeutete.
"Ich verrate ihnen etwas; in ein paar Tagen kommt auch noch mein Bruder in genau diesen Kurs. Dann haben sie gleich doppelte Arbeit." Ohne eine Auskunft über den Grund seines Umzugs zu geben, setzte er sich hinter mich. Ein paar Schüler kicherten.
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