XXXVII - Reset
27.10.2036 Marienville, Pennsylvania
"Das habt ihr ausgesprochen gut gemacht." Alex lächelte uns zufrieden an, kleine Fältchen bildeten sich um seine müden Augen.
Wir saßen zu sechst im Wohnzimmer der Blockhütte. Ich hatte mich mit Finn und Lily auf das Sofa gefläzt, Alice hatte in einem der großen Sessel Platz genommen und Nate glitzerte neben Alex an den Esstisch gelehnt.
Ich spürte Lilys Herzschlag in meinem Rücken, als ich mich an sie lehnte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus mit meinem.
"Das war gute Teamarbeit", kommentierte Alice und wischte sich über ihren blutigen Mund.
Ich versuchte gerade konzentriert eine Blutkonserve zu meinen Lippen zu führen, doch meine zitternden Finger erschwerten das deutlich. Alice und Lily hatten mir noch in Maryland die letzten Splitter aus der Lunge gezogen, als ich zum Glück schon ohnmächtig gewesen war. Dann waren sie mit mir und Finn zurück hierher geflitzt.
Dieser schlürfte neben mir bereits an einem Blutbeutel, um wieder zu Kräften zu kommen.
"Tut mir leid, dass ich schon so früh raus war", murmelte er, woraufhin ich mir ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
"Ich sage, du hast deinen Job als Lockvogel mit Bravour ausgeführt." Lily klopfte ihm auf die Schulter und er lächelte sie schief an. Aus seinem Zopf hingen wilde Strähnen und seine Kleidung war zerfetzt. Sonst waren alle seine Wunden natürlich perfekt geheilt und er hatte sich von seinem Genickbruch schnell erholt.
"Die eigentliche Heldin war aber Alice. Zum Glück bist du so ein Wurftalent." Meine beste Freundin lächelte verlegen und sah zu Boden.
"Ja, das war wirklich nicht schlecht", pflichtete Lily mir bei. Alice war es gewesen, die Lauren den provisorischen Pfahl direkt ins Herz geschleudert hatte. Sie hatte ein Stuhlbein umfunktioniert und im perfekten Moment aus ihrem Versteck zugeschlagen.
"In einer Woche wird der Vollmond sein und wir werden in der Höhle mit dem Ritual beginnen. Ich hoffe, es wird alles funktionieren. Bis dahin sollten wir uns alle erholen", schilderte Alex uns den weiteren Plan. Er zog die Augenbrauen zusammen und einige seiner blassgrauen Strähnen fielen ihm in die Stirn. Die Sache machte ihm mehr zu schaffen, als er zugab.
"Ich bin sicher, dass es funktionieren wird", motivierte Alice ihn mit einem Lächeln und griff sich eine weitere Blutkonserve vom Tisch.
"Ist Lauren denn noch ohnmächtig?", fragte ich vorsichtig.
"Ja, der Pfahl ist noch in ihrer Brust. Wir holen ihn so knapp wie möglich vorher raus, wir können nicht riskieren, dass sie sich befreit", erklärte Alex und erhob sich, "Ich werde trotzdem nach dem Rechten sehen."
Wortlos fischte Lily ihre Zigaretten aus der Pullovertasche und verließ das Zimmer hinter Alex. Sofort wurde Nate wieder etwas durchsichtiger. Er verzog die Lippen zu einem schmalen Strich und verdrehte die Augen.
"Ich kann nicht glauben, dass ich von ihrer Nähe abhängig bin."
Er grinste. "Sollte Alia nach dem Trank noch ihre vollwertigen Hexenkräfte besitzen, muss sie unbedingt dafür sorgen, dass ich an sie und nicht Lily gekoppelt bin."
Ob Alia wieder zu einer Hexe werden würde, wusste keiner von uns. Das Menschlichkeitsserum wirkte gegen Übernatürlichkeit, aber sie war schließlich zweimal verwandelt worden - in eine Hexe und einen Vampir. Wie der Trank wirkte, würden wir erst erfahren, wenn sie ihn eingenommen hatte.
Ich wollte nicht darüber nachdenken, was geschah, wenn er wirklich beide Verwandlungen aufhob. Dann wäre Alex ein Vampir, sein Sohn ein Geist und seine Frau ein Mensch. Eine furchtbare Kombination.
Ich warf meine Konserve auf den Tisch und stand auf. "Ich gehe kurz nach Alia sehen." Lily nickte und schenkte mir ein kleines Lächeln, das mein Herz wieder höher schlagen ließ. Ich erwiderte es glücklich und verließ das Zimmer.
Ich flitzte über den Parkettfußboden die wenigen Meter den Flur hinab.
Auf mein Klopfen an das Zimmer meiner Adoptiveltern kam keine Reaktion, also öffnte ich leise die Tür und trat ein. Der Raum war völlig verdunkelt, nur schummriges Kerzenlicht ließen mich Alias Umrisse unter der dicken Decke erkennen.
"Hey, Alia", flüsterte ich, unsicher, ob sie schlief.
"Katy!" Ihre Stimme klang müde, aber dennoch erfreut. Sie setzte sich mühsam auf und bedeutet mir mit einer sanften Handbewegung, näher zu kommen. Auf einmal erinnerte sie mich an Sofia. Sie hatte schon immer eine ebenso grazile Art und Weise der Bewegung gehabt.
Und obwohl meine Ziehmutter deutlich geschwächt war, verhielt sie sich so anmutig wie immer.
"Incendo!", flüsterte Alia und die übrigen Kerzen an ihrem Nachttisch erflammten, sodass ich sie besser sehen konnte. Sie wirkte auf einmal alt und zerbrechlich. Ihre Arme waren voller roter Flecken.
"Das Fieber", erklärte Alia, als sie meinen Blick bemerkte, "hab ich mir im 16. Jahrhundert eingefangen. Keine Sorge, du kannst dich nicht anstecken. Das Lebenskraut simuliert die Krankheit nur, ich trage keine tatsächlichen Erreger in mir."
Ich ließ mich neben sie aufs Bett fallen und musterte sie besorgt. Sie war ein blasser Kontrast zu dem dunklen Raum und ihr Gesicht sah aschfahl aus im flackernden Kerzenlicht.
"Hätten sie dir das Kraut nicht einfach-"
Ich suchte nach passenden Worten. „Wieder entnehmen können? In Mexiko?"
Alia lachte und ihre kurzen Haarsträhnen lösten sich aus dem Dutt. "Leider nicht, Katy. Ich habe es als Flüssigkeit injiziert bekommen und es hat sich sofort mit meinem Blut vermengt. Keine Möglichkeit des Extrahierens."
Ich streckte mich und legte mich in die andere Hälfte des Doppelbettes. Alia hob einladend die Decke an und ich kuschelte mich darunter. Sofort fühlte ich mich geborgen. Ihre Wärme und ihr Duft hüllten mich ein und ich spürte, wie ich schläfrig wurde.
Ich musste an meine leibliche Mutter denken und konnte nicht verhindern, dass ich traurig wurde.
"Denkst du, ich darf meine Mom nochmal sehen?", flüsterte ich und blickte an die Decke. Alia streichelte vorsichtig meine Wange. Ihre Finger fühlten sich rau an.
"Oh, Katy. Das wird schwer, aber ich kann dir mit Magie helfen, loszulassen, wenn du möchtest. Ich rede mit Alex, du weißt doch wie er ist. Er wird dir keinen Wunsch abschlagen können." Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu und lachte kurz auf. Sofort verwandelte sich ihr Lachen in ein röchelndes Husten und sie wandte sich von mir ab. Schnell setzte ich mich auf und streichelte ihren Rücken.
"Alles okay?"
Immer noch geschüttelt vom Husten, winkte sie ab.
"Geht . . . schon", brachte sie erstickt hervor. Nach wenigen Sekunden klang der Anfall schließlich ab und sie räusperte sich kurz.
"Wir müssen das Ritual durchziehen", sagte ich mehr zu mir, als zu ihr. Dennoch nickte Alia und tätschelte mir beruhigend die Schulter.
"Das schaffen wir. Und genau deswegen musst du mir jetzt noch ein bisschen Ruhe gönnen. Eine alte Frau muss ihre Kräfte sammeln."
Ihre Aussage schien widersprüchlich, zumal sie sonst aussah, wie eine attraktive junge Dame, der es an nichts fehlte. Doch wie sie dort so neben mir lag, schien sie um Jahrzehnte gealtert zu sein.
Ich lächelte wehmütig und stand auf. "Natürlich. Lass uns wissen, wenn es dir an etwas fehlt."
Alia nickte und ließ sich matt auf ihr Kissen sinken. Als ich das Zimmer verließ, konnte ich nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen traten.
Ich konnte meine Ziehmutter nicht auch noch verlieren.
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31.10.2036 Marienville, Pennsylvania
"Lust auf eine Stärkung?" Finn lehnte im Türrahmen zu meinem Zimmer. Seine Haare waren streng zurückgebunden und er trug ein lockeres graues Shirt über engen Jeans. "Lily versucht alles mit Alia vorzubereiten und wir haben fast keine Konserven mehr. Du weißt ja, wie gut ich allein im Jagen bin."
Ich erhob mich grinsend von meinem Bett und schmiss das alte Buch, in welchem ich bis eben gelesen hatte, auf den Schreibtisch. Ich hatte vor ein paar Tagen ein Bücherregal im Esszimmer entdeckt und seitdem jegliche Werke förmlich verschlungen.
"Klar. Fragen wir Alice, ob sie mitkommen will?"
Finns Miene verdüsterte sich ein wenig. "Naja", druckste er herum, "eigentlich wollte ich nur mit dir gehen."
Ich legte die Stirn in Falten. "Was ist passiert?"
Finn sah auf und hob abwehrend die Hände. "Nein. Nichts. Alles gut. Ich brauche nur. . . deinen Rat."
"Okaaay? Na, dann los." Ich beschloss, vorerst nicht weiter nachzufragen und folgte Finn die Treppen hinab nach draußen. Vor der Haustür hielt ich kurz inne.
"Na, was hörst du?", fragte ich ihn, während ich selber auf mein Gehör achtete. Mehrere Meilen entfernt hielt sich eine Gruppe Menschen auf und etliche Tiere hinterließen im Wald Geräusche. Am deutlichsten erkannte ich jedoch zwei Herzschläge östlich von uns. Anhand ihrer Stärke und Geschwindigkeit stufte ich die Tiere als Rehe ein.
"Da", sagte Finn und deutete in die Richtung, in der auch ich die Rehe vermutete.
Ich lächelte ihn an. "Richtig. Sehr gut. Komm mit!" Wir flitzten leise los. Ich steuerte geradewegs auf den Puls zu und hielt schlagartig davor an. Meine Augen brauchten nur Millisekunden, um sich zu orientieren, da packten meine Hände auch schon reflexartig zu. Ich spürte das Fell des Tieres, als ich seinen Hals griff und ihm das Genick brach.
Neben mir hatte auch Finn sein Reh erlegt. "Sauber", meinte er zufrieden und kniete sich neben das Tier.
Vorsichtig setzte ich mit meinem Fingernagel einen sauberen Schnitt in die Hauptschlagader und kostete das hervorquellende Blut. Es war schön warm und schmeckte köstlich. Tierisches Blut unterschied sich nur in Nuancen von menschlichem. Ich würde es als bitterer beschreiben.
"Also, dann erzähl mal. Was ist mit Alice?" Ich schluckte und sah aufmerksam zu Finn, während ich versuchte, es mir auf dem Moos bequem zu machen.
Er zuckte mit den Schultern und zog seine Zähne aus dem Reh. "Nunja, ich brauche deine Hilfe. Ich schätze, Alice hat dir schon einiges erzählt." Ich forderte ihn nickend zum Weiterreden auf. "Und jetzt. . . Naja, jetzt würde ich gerne mit ihr ausgehen. Aber ich weiß nicht, ob sie sowas will. Oder wie ich es anstellen soll, zumal Alice ja eher weniger wie eine Romantikerin scheint. Vielleicht ja aber doch und sie zeigt es nur nicht. Ich will mich nicht blamieren. Oder nein; ich will nur nichts falsch machen und sie abschrecken oder sowas."
Ich hob eine Hand, um seinen Redefluss zu stoppen. Ich hatte Finn noch nie soviel am Stück erzählen hören. Vor allem nicht über ein derart emotionales Thema.
"Okay, ganz ruhig", begann ich, während Finn sich wieder seiner Nahrungsaufnahme widmete. "Erst einmal: du kannst nichts falsch machen. Alice ist dir praktisch verfallen. Zweitens: sie ist durchaus eine Romantikerin."
Finn hob erstaunt den Kopf und legte die Stirn in Falten. "Sicher? Aber-"
"Ja, ich war auch überrascht. Ob du es glaubst oder nicht, sie hat mir erzählt, dass sie sich genau so etwas wünscht", erzählte ich ihm in Erinnerung an den Spaziergang vor wenigen Wochen, als Alice und ich geredet hatten.
"Wow, okay. Und wie stelle ich das jetzt an?"
Kurz überlegte ich, welchen Rat ich ihm jetzt geben könnte. Ich war nicht sicher, was Alice mochte, doch ich konnte mir auch selbst nicht vorstellen, was für ein Date mich begeistern würde. Meine Gedanken schweiften zu Lily und wie wir bei Kerzenlicht essen gehen könnten. Irgendwie passte die Idee nicht zu uns.
"Ich weiß es nicht", entgegnete ich ehrlich. "Frag sie am besten, was sie will. Damit kannst du nichts falsch machen."
Finn nickte. "Ich wäre eh nicht mutig genug, um sie zu überraschen." Seine Stimme klang plötzlich traurig.
"Sag sowas nicht", setzte ich ihm sofort entgegen.
"Naja, ich weiß, dass mir niemand von euch sowas je vorhalten würde, aber es fühlt sich nicht gut an, immer der schlechteste zu sein. Ich bin schlecht im Lauschen, schlecht im Kämpfen. Ich glaube, ich bin nicht gemacht für sowas."
Zum ersten Mal bekam ich eine Vorstellung davon, wie es ihm wohl die ganze Zeit gehen musste. Ich hatte ihn zwar immer als introvertiert gekannt, aber dass ihn solche Selbstzweifel plagten, hatte ich nicht geahnt. "Dafür bist du der weitaus Klügste von uns. Du kannst wahnsinnig logisch denken, weißt quasi alles und erfasst neue Dinge unfassbar schnell. Nur weil wir verschiedene Stärken haben, sind wir doch nicht unterschiedlich viel wert."
Seine blauen Augen leuchteten zunehmend. "Danke, dass du das sagst, Kat. Das bedeutet mir viel."
Ich lächelte und hielt ihm mein Reh entgegen. Mein Durst war gestillt.
Finn nahm es glücklich entgegen und genoss ein paar weitere Schlucke des Blutes. Ich lehnte mich nach hinten und starrte über mich in die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen bis zu mir drangen.
"Wegen Lily", nuschelte Finn plötzlich. Sofort drehte ich mich wieder zu ihm.
"Ja?"
"Es ist zwar scheiße, wie am Anfang alles gelaufen ist, aber eigentlich bewundere ich sie. Sie ist die Definition der Emanzipation. Ihr beide seid euch eigentlich sehr ähnlich. Ihr wisst, was ihr wollt."
Ich lauschte seinen Worten, unschlüssig, was ich antworten sollten. Ich war nicht sicher, wie viel er von meiner Beziehung zu Lily mitbekommen hatte.
"Ja..", stammelte ich, "Lily und ich verstehen uns auch ziemlich gut."
Schmunzelnd wischte Finn sich das Blut aus den Mundwinkeln und schob das Reh von seinem Schoß.
"Kat, Alice hat mir alles erzählt. Du kennst sie doch."
Ich hielt inne und wartete eine Reaktion ab. Finn hatte die Stirn in Falten gelegt, während er sich mit einer Hand über das Gesicht fuhr.
"Was denkst du darüber?", platzte ich heraus.
"Mh. Am Anfang konnte ich sie natürlich nicht leiden. Dann hat sie dich gerettet und uns geholfen. Um ehrlich zu sein, finde ich sie mittlerweile sogar sehr sympathisch. Auch wenn sie mir noch etwas zu draufgängerisch ist."
Finns Worte beruhigten mich ungemein. Natürlich war mir die Meinung meiner Freunde wichtig, und dass sie so positiv ausfiel, stimmte mich mehr als glücklich.
"Ihr verbringt viel Zeit zusammen", stellte er fest. "Wann hast du zuletzt etwas mit Alice gemacht?"
Ich zog die Beine an. Wie kam er jetzt darauf?
"Ich weiß nicht. Bevor wir in Maryland waren, denke ich."
Der Blick den Finn mir schenkte, sagte mehr als tausend Worte und plötzlich überkam mich ein schlechtes Gewissen.
Aber Alice war schließlich auch nicht auf mich zugekommen, also war das nicht meine Schuld, richtig?
"Ich will dir nichts vorschreiben, Kat, aber vergiss nicht, wo du herkommst."
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