XXXIII - Nova Scotia

23.10.2036 Marienville, Pennsylvania

"Wir sollen also mit einer Urvampirin einen Pfahl irgendwo im Nirgendwo finden, der ihre eigentlich-tote Urvampirfreundin umbringen soll, ja?" Die Zweifel in Finns Stimme spiegelten sich auch in seiner angespannten Miene.

Bevor er weitere Nachfragen stellen konnte, erhob sich Alexander aus seinem Bürostuhl und ergriff das Wort: "Richtig. Lily kennt seinen Aufbewahrungsort und ihr werdet sie begleiten, während ich mit Alice die Stellung halte." Er nickte mir und Finn zu.

Wir hatten uns gestern Abend entschlossen, so schnell wie möglich an den Pfahl zu kommen. Ich hatte noch minutenlang versucht, meinen Ziehvater davon abzubringen, Finn mit uns zu schicken. Nicht, weil ich ihn nicht auch unendlich schätzen würde, sondern weil ich gerne etwas Zeit mit Lily verbringen wollte. Und weil Finn einfach nicht der. . . begabteste Vampir war.

"Finn ist der älteste. Er trägt die Verantwortung", wiederholte Alex, was er zu mir gesagt hatte. Lily hob schmunzelnd eine Augenbraue, verkniff sich jedoch einen bissigen Kommentar.

"Wohin geht es überhaupt?", fragte Finn, noch immer skeptisch und lehnte sich in seinem Stuhl nach vorne.

"Nova Scotia."

"Nova Scotia?", wiederholte er mit aufgehellter Miene. "Wie die Insel, auf der früher diese ganzen abgefahrenen Filme gedreht wurden?"

Lily nickte zufrieden. "Aber wir müssen nicht auf, sondern unter die Insel." 

Ich hob skeptisch die Augenbrauen. Auf einen Tauchgang war ich nicht besonders scharf. Vor allem nicht zu dieser Jahreszeit. 

"Eine Unterwasserhöhle. Ich habe sie dort eingesperrt, weil ich wusste, dass ihre Kräfte geschwächt werden würden und sie sich nicht so leicht regenerieren könnte. Sie beherrschte das Feuer genauso, wie ich", erklärte Lily und ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Ich verspürte den Drang, zu ihr zu gehen und sie in den Arm zu nehmen, doch der Moment verflog, bevor ich weiter darüber nachdenken konnte. 

"Egal, dann los. Ich fahre", bestimmte Lily, was Alex nicht ohne einen letzten zweifelnden Blick akzeptierte.



Lässig drehte Lily einen Autoschlüssel mit rot goldenem Wappen um ihre Finger. "Was?" Sie grinste mich an, während mein Blick immer noch an dem blauen Sportwagen festhing, der in einer Parkbucht der Route 6 stand. 

Ich hob skeptisch die Augenbrauen. "Will ich wissen, wo du ihn herhast?"

"Hey", rief sie empört und entriegelte mit einem Knopfdruck die Türen, "ich habe Geld. Es könnte meiner sein."

"Könnte", betonte ich und ließ mich in die Sportsitze aus Leder fallen. 

"Wieso um alles in der Welt solltest du einen Panamera unbeaufsichtigt am Straßenrand parken? Das Modell ist fast 30 Jahre alt. Ein Oldtimer!" Auf einmal waren auch Finns Lebensgeister geweckt. Er öffnete vorsichtig die Tür, fuhr mit den Fingern über die Rücksitze und nahm einen tiefen Atemzug. 

Lily schmiss sich in den Fahrersitz, ohne ihm zu antworten und ließ den Motor aufheulen. 

"Ist das ein Benziner?", fragte Finn enthusiastisch und nickte sich dann selbst zu. "Ja, 6 Zylinder. Wahnsinn, wo hast du so ein Ding her? Ich dachte sowas gibt es nur noch in Museen?"

Neben mir schüttelte Lily ihre Locken und lachte, als sie auf die Straße einbog. "Ganz ruhig, Großer. So viel hab ich dich ja noch nie am Stück reden hören." 

Schmunzelnd musste ich ihr recht geben. Sie trat das Gaspedal durch und wir flogen förmlich über den Asphalt. Endlich spürte ich wieder dieses angenehme Adrenalin, das ein breites Grinsen auf meine Lippen zauberte. Es fühlte sich wahnsinnig gut an, in die Sitze gedrückt zu werden, während die Bäume an uns vorbeirasten. 

Ich hörte Finn hinter mir noch "Oh Gott ein Benziner. Und dann auch noch im Nationalpark", brummeln, dann schaltete ich ab. Niemand würde uns für einen Gesetzesverstoß jemals zur Verantwortung ziehen können.

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20.10.1650 Graz, Habsburg

Dunkelheit umgab Kaitlyn. Ihr Geist war wach, doch ihr Körper lag starr auf dem harten Holz. Sie konnte sich nicht rühren. 

Es fühlte sich an, als wäre sie versteinert worden. 

Ein Fluch.

Wo war sie überhaupt? 

Sie hatte doch nur ein Nickerchen halten wollen, sich von ihrem Besuch bei den Böhmen erholen. Ihr Geist hatte kein Zeitgefühl mehr.

Das war wohl ihr Segen. 

Ihr Glück, dass sie nicht begreifen konnte, dass sie sich schon seit über 100 Jahren nicht gerührt hatte.

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23.10.2036 Nova Scotia, Kanada

"Ich wusste nicht, dass ich so lange die Luft anhalten kann. Wie cool", sagte ich perplex, während ich mir die Haare auswrang. 

Finn, der neben mir hustend auf dem Boden rollte, schien das nicht so sehr zu faszinieren 

"Was soll auch passieren?", gab Lily völlig unbeeindruckt zurück. "Wenn du ertrinkst, wachst du nach ein paar Minuten sowieso wieder auf."

"Ja", schnaubte ich, "aber unter Wasser. Um wieder und wieder zu ertrinken." 

Der Gedanke daran ließ einen Schauer über meinen Rücken wandern. Ich schüttelte mich kurz und sah mich in der Höhle um. Wir hatten eine Leiter unter Wasser hinaufsteigen müssen, und ich war wirklich dankbar gewesen, dem immensen Druck zu entkommen als wir endlich wieder trockenen Boden unter den Füßen hatten. 

"Nie wieder", röchelte Finn und richtete sich langsam auf. 

"Das war doch nur knapp eine Minute", sagte ich amüsiert, während ich ihm ein paar mal auf den Rücken klopfte.

"Und? Meine Vampirkräfte liegen eher in den psychischen als physischen Ebenen", brummte er. Finn hustete noch zweimal kräftig, dann ließ er sich von mir aufhelfen. 

"Wo sind wir?", murmelte ich beim Anblick der tropfenden Felsenwände um mich herum, in denen unzählige Zeichen und Buchstaben eingeritzt waren. 

"Im spezial-angefertigten Grab meiner Ex-Bestie", erwiderte Lily, die bereits vor einer Wand hockte und sie mit den Händen abtastete. 

"Hier drin hat Lauren mehrere Jahrzehnte verbracht?" Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. 

"Sie hatte es verdient", meinte Lily nur schulterzuckend, ohne sich umzudrehen.

"Niemand hat das hier verdient." Ich ließ meinen Blick über die feuchten Felsen schweifen und versuchte, nicht auf das bedrohende Rauschen des Meeres zu achten, das uns von allen Seiten umschloss.

"Du bist echt ein Moralapostel, weißt du das?", zischte Lily, während sie sich weiter umsah. 

Normalerweise war ich tatsächlich gefühlskälter, doch die Vorstellung, dass jemand in einer Art Wachkoma fast 100 Jahre unter Wasser verbringen musste, gruselte mich. Ich schnaubte nur kopfschüttelnd und lehnte mich an einen Stein. Als Lily keine Reaktion zeigte, setzte ich ein leises "Zicke" hinterher. 

Ich zuckte schlagartig zurück, als sie auf einmal losfitzte und nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt stoppte. "Du wirst schon wieder frech", flüsterte sie. 

Lily biss die Zähne zusammen und senkte ihren Blick. Doch leider versperrte mein Ausschnitt, der in dem zu engen Trägertop wenig Raum für Vorstellung ließ, die Sicht auf den steinigen Boden. 

"Verdammt", presste Lily hervor, als sie mir wieder in die Augen sah. Ich saß ganz still, aus Angst etwas Falsches zu tun. Auch, wenn ich nicht wusste, was falsch war. Die Art wie sie mich ansah, wie ihre Blicke glühend über mich wanderten, fühlte sich kein bisschen falsch an.

Ihre Hand fand den Weg zu meinem Hals und strich sanft über ihn, hinauf zu meinen Lippen. Sie fuhr konzentriert die Konturen entlang, während ich kaum zu atmen wagte. 

"Leute, ich bin noch hier", quietschte Finn angewidert aus einer Ecke. Tatsächlich hatte ich ihn schon völlig vergessen. Verdammt.

"Natürlich, entschuldige." Lily zwinkerte mir zu bevor sie von mir abließ. Ich räusperte mich und versuchte, mich wieder auf unsere Mission zu konzentrieren. 

Höhle. Lauren. Pfahl. 

"Während ihr euch anschmachtet, habe ich etwas gefunden." Finn winkte uns zu sich herüber, während ich mir meine schweißnassen Handinnenflächen an der Hose abwischte. 

"Genau das ist es. Jetzt erkenne ich das Symbol wieder. Woher wusstest du das?" Lily hockte sich neben ihn und begann ein Stück Stein aus der Wand zu ziehen. 

"Hier verlaufen überall Risse in den Felsen, doch diese hier bilden das einzig geometrisch perfekte Quadrat rund um die Symbole", erklärte Finn, als sei es das offensichtlichste der Welt. 

Schmunzelnd griff Lily in den Hohlraum. Der Pfahl, den sie hervorzog, war aus dunklem Holz, beinahe Schwarz. An seinem stumpfen Ende waren Ornamente und Zahlen eingraviert. Und obwohl er so banal schien, veränderte sich die Atmosphäre schlagartig. 

Düster. 
Unheilvoll.

"Wow!" Ich stieß Luft aus, von der ich nicht bemerkt hatte, sie eingehalten zu haben.
"Einen Schritt näher zu Laurens Tod."

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