XXXII - Plan B
22.10.2036 Marienville, Pennsylvania
Lily sah mich erwartungsvoll an, doch ich war nicht sicher, was ich tun sollte. Sie hatte sich mir geöffnet, die Hintergründe ihres Handelns und die Traumata ihrer Vergangenheit einfach offengelegt. Und obwohl sie nichts sagte, hatte ich das Gefühl, dass es jetzt an mir war, zu erklären.
Ich atmete tief durch. "Nathan er - er hatte eine Freundin. Sofia. Sie war auch für mich eine wahnsinnig gute Freundin", setzte ich stockend an. Wenn ich ihr das erzählte, würde es kein Zurück mehr geben. Ich hatte lange nicht mehr darüber gesprochen, geschweige dann an die ganze Geschichte gedacht. Doch Lily und ich befanden uns auf wackeligem Fundament, das ich nur durch Ehrlichkeit festigen konnte.
"Eines Tages, da kam Aiden zu uns nach Mexiko und er nahm eine Geisel. Mein Ex-Freund. Also damals noch mein Freund. Er war rin Verräter der Garde, der sich Aidens Clan angeschlossen hatte und sein geheimer Verbündeter wurde. Natürlich wäre Alex nie auf so etwas hereingefallen. Aiden hat spezifisch mir die Nachricht zukommen lassen. Ich wäre wahrscheinlich allein losgezogen und gestorben, wenn Sofia mich nicht gesehen hätte. Sie hat sich nicht davon abbringen lassen, mich zu begleiten - und hat beim Versuch mich zu beschützen, mit ihrem Leben gezahlt."
Lily sah mich immer noch aufmerksam an. Ich konnte keine Abscheu oder Schrecken in ihrem Blick erkennen. Nur Mitgefühl.
"Weil ich so dumm war, auf meinen verräterischen Ex-Freund hereinzufallen, hat Aiden Nates Freundin ermordet."
Jetzt ergriff Lily meine Hand.
"Ich sage nicht, dass es nicht deine Schuld ist", sagte sie ruhig. Perplex sah ich auf. Das hatte noch niemand zu mir gesagt. "Weil ich weiß, dass du es ständig zu hören bekommst, aber nicht glaubst."
Vorsichtig küsste Lily meine Fingerspitzen und sah mich eindringlich an. "Natürlich: wärst du nicht gegangen, wäre sie noch am Leben." Ich nickte. Zwar taten ihre Worte weh, aber es war gut, endlich ausgesprochen zu hören, was ich seit Jahren dachte.
"Dennoch hat sie sich für dich geopfert. Freiwillig. Sie muss dich sehr gemocht haben. Und es war niemals deine Absicht, sie überhaupt mitzunehmen. Also sei nicht so hart zu dir selbst."
Lily schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln. Ich atmete tief ein, versucht, mir ihre Wort zu Herzen zu nehmen und erwiderte es vorsichtig.
"Danke. Dass du mir sagst, was du wirklich denkst. Keine Floskeln. Sondern was Echtes."
Ihr Lächeln verschwand.
"Manchmal weiß ich nicht mehr, was echt ist. Dann habe ich das Gefühl, völlig durchzudrehen", flüsterte sie.
Ich stutzte. "Wie meinst du das?"
"Urvampire sind die mächtigsten Wesen, wenn es um Beeinflussung geht. Wir können jedes verdammte Wesen der Welt manipulieren, einige leichter als andere. Auch uns selbst."
Ich hielt inne. Die Offenbarung, dass sie auch andere Vampire beeinflussen konnte, kam nicht überraschend. Ihr letzter Satz hingegen schon.
"Du kannst dich selbst manipulieren?"
"Ja. Es ist schwer, aber es funktioniert, wenn du dir etwas fest genug einredest. Am besten noch mit Hilfe von außen; also Menschen, die deine erlogene Geschichte für dich wiederholen und als richtig darstellen. Dann wird es zu deiner Wahrheit." Lilys Blick schweifte ab. "Eine gefährliche Gabe."
Wahnsinn. Intrusive Gedanken konnte man sich als Urvampir wohl nicht leisten.
"Was kannst du noch so?", fragte ich fasziniert. Mein Interesse war geweckt. Lilys roten Augen glitzerten als sie mir ihr Lachen schenkte.
"Alles, Kätzchen." Lily beugte sich vor und streifte sanft meine Lippen. "Alles, um dich glücklich zu machen zumindest." Unwillkürlich musste ich lächeln.
Die Urvampirin lehnte sich wieder zurück und sah mich ernst an.
"Nunja, ich kann alles, was du kannst. Aber ich bin stärker und schneller", erklärte sie, nicht ohne mir ein überhebliches Zwinkern zu schenken. "Außerdem kann ich das Feuer kontrollieren. Jedes Wesen manipulieren, ein wenig Magie anwenden und Gedanken lesen."
"Wusste ich es doch", entfuhr es mir. Verunsichert rutschte ich von ihr ab. "Woran denke ich gerade?"
Angestrengt versuchte ich, mir ein pinkes Kätzchen vorzustellen. Eine kleine, flauschige Katze mit buntem Fell, die friedlich schlummerte.
Lily lachte neben mir. "An Blut?", mutmaßte sie.
Ich legte die Stirn in Falten.
"Hä?", war das einzige, was ich herausbrachte.
"Lass es mich dir erklären." Lily sah mir in die Augen und nahm meine Hände, woraufhin sofort ein Schauer über meinen Rücken lief.
"Ich würde irre werden, würde ich ständig jeden Gedanken hören. Ich höre nur diejenigen, die mit tiefen Emotionen verbunden sind. Und am besten auch direkt an mich gerichtet. So hab ich zum Beispiel mitbekommen, dass du bei Aiden in Gefahr warst. Du hast sofort an mich gedacht und hattest Angst. Natürlich hast du Sekunden später auch nach mir gerufen, aber das ist das Prinzip."
Das klang plausibel, erklärte aber nicht, wieso sie auch in Gardenville andauernd in meinen Kopf zu blicken schien. Ich äußerte meine Überlegungen.
"Wie konntest du aber auch sonst so viel in mir lesen? Ich habe das Gefühl, dass du ständig weißt, was in mir vorgeht!"
Lily lachte leise. "Das ist auch so. Du bist ein verdammt offenes Buch für mich, Kätzchen. Dafür müsste ich keine Vampirin sein."
Schmollend schob ich die Unterlippe vor. Ab sofort musste ich meine Emotionen wohl besser im Griff haben.
"Du denkst gerade darüber nach, wie du deine Gedanken vor mir verstecken kannst."
Abrupt blickte ich auf. "Was? Wie? Ich hab doch gar nichts gefühlt?"
"Das war auch geraten", Lily streichelte sanft meine Wange, "aber ich werde deine Gedanken ignorieren, wenn du das möchtest. Ich will nicht, dass du mich als Bedrohung siehst. Ich blende sie aus. Versprochen."
"Nein", ich lächelte sie beinahe schüchtern an, "nein, ich glaube das ist okay. Ich möchte das mit dir teilen."
Eine unbekannte Wärme erfasste mein Herz, während Lily mich ansah. Sie beugte sich vor, kam mir noch viel näher, obwohl wir allein durch unseren Blickkontakt bereits zu verschmelzen schienen. Der Gedanke, dass wir auch Emotionen und Gedanken teilen konnten überwältigte mich. Es fühlte sich an, als würde sie ein Teil von mir werden, ohne den ich nicht mehr sein konnte.
"Es geht einfach nicht mehr. Ich kann das jetzt nicht mehr. Bitte, versteht das." Mit flehendem Blick sah ich Alex entgegen. Der Stoff seiner Bürostühle kratzte unangenehm an meinen Oberschenkeln, als ich nervös darauf hin und her rutschte.
"Du weißt, dass ich dir niemals etwas nehmen oder verbieten würde, das dir Glück beschert", begann Alex und sah von seinem Tablet auf, "aber Alia braucht das Heilmittel." Er hatte meine Bitte erstaunlich gut aufgenommen, obwohl das die Lage um einiges verkomplizierte.
Ich raufte mir die Haare und zog meine Beine auf dem Stuhl an, der mir den einzigen Halt bat, während der Rest der Welt versuchte, mir den Boden unter den Füßen wegzureißen.
"Ich weiß", murmelte ich, "ich weiß, ich will es ihr ja auch unter allen Umständen ermöglichen. Aber Lily hat mich gerettet. Das schulde ich ihr."
Natürlich schob ich die Schuld vor.
Als wäre nur die Schuld für meinen Sinneswandel verantwortlich.
Als hätte ich ein Gewissen bekommen.
"Ja, das sehe ich auch so", brummte Alex zum Glück, "sie hat dich und Alice gerettet."
Nathan lehnte sich flimmernd am Tisch an. Noch immer faszinierte mich seine fluoreszierende Gestalt. "Was ist, wenn wir-", begann er, doch ein scharfer Seitenblick von Alex ließ ihn verstummen. Entschuldigend hob er die Hände.
Ich richtete mich wieder auf. "Wenn wir was?", bohrte ich nach, woraufhin Alex vehement den Kopf schüttelte. "Nein. Das wird zu gefährlich", richtete er sich an Nate, "glaub mir, ich habe es in Betracht gezogen."
"Worum geht es überhaupt?", fragte ich nun harsch und sprang auf. Ich hasste diese offensichtliche Geheimnistuerei.
"Lauren", sagte Nate kurz angebunden. Beim Klang ihres Namens schaltete es auch bei mir. Eine zweite Urvampirin. Eine zweite Option.
"Denkt ihr wirklich, dass sie zu Aiden gehört hat?"
Hektisch zwirbelte ich meine Haarsträhne um meinen Zeigefinger, während ich darauf wartete, dass mir endlich jemand Erklärungen lieferte.
"Das denken sowohl ich als auch Lily. Sie hat Lauren schließlich gepfählt, ja. Aber sie nicht entzündet", erwiderte Alex. "Somit war sie natürlich nicht irreversibel tot. Aiden brauchte jemanden an seiner Seite - eine Hexe war ihm natürlich nicht genug, und was eignet sich da besser, als eine Urvampirin - das mächtigste Wesen unserer Welt?"
Alex seufzte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
"Die Lage mit Lauren ist mehr als angespannt, besonders da Aiden tot ist. Sollten wir sie wirklich finden wollen, müssten wir sie gefangen nehmen und hierher bringen. Das ist praktisch unmöglich, keiner von uns kann einen offensiven Kampf gegen sie gewinnen." Alex' Worte zerstörten meine Hoffnung Stück für Stück. Wie eisiges Wasser, das eine Sandburg umspülte bis sie Stück für sich in sich zusammenfiel.
"Doch." Nathans Stimme ließ mich aufblicken, "Lily kann es. Sie hat es schonmal geschafft."
Alex schüttelte schnaubend den Kopf. "Ja, vor über 100 Jahren. Keiner weiß, wie die Machtverhältnisse mittlerweile wohl liegen. Das ist nicht sicher genug."
"Doch", beharrte ich mit zusammengebissenen Zähne, "doch sie kann das. Sie kämpft gut. Und Lauren hat bis vor kurzer Zeit quasi im Koma gelegen. Nicht wahr, Nate?"
Zähneknirschend nickte seine blasse Gestalt. Er fasste sich mit einer Hand ans Herz, als würde sein von Aiden zerfetzter Brustkorb wieder schmerzen.
Konnten Geister Phantomschmerz empfinden?
"Katy, könntest du bitte aufhören in meinem Büro umherzutigern", unterbrach Alex kurz das Gespräch, "das macht mich irre."
Sofort hielt ich in meiner Bewegung inne. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich in den letzten Minuten angefangen hatte, wie eine Verrückte im Kreis zu laufen. "Sorry."
"Ich verstehe ja, dass du verzweifelt bist, Katy. Ich bin es auch", gestand Alex, "aber es könnte euer Leben kosten gegen Lauren zu kämpfen. Ich bin aktuell nicht scharf darauf, noch ein Kind zu verlieren." Er lächelte Nate traurig zu.
Shit.
Er hatte recht. Doch ich konnte jetzt nicht aufgeben. Jetzt, wo es endlich eine Chance gab. Auf eine Zukunft.
Eine Zukunft mit Lily.
"Ich verstehe dich auch, aber lieber sterbe ich im Kampf, als dass ich Lily opfere, indem ich herumsitze. Außerdem war Aiden zuerst in den Staaten. Er ist in dein Territorium eingedrungen", redete ich auf meinen Ziehvater ein.
"Alex, wenn Alia sie orten kann, sollten wir es versuchen", wandte sich auch Nate ihm zu. Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Ich wusste, dass es nicht selbstverständlich war, dass er für Lily die Initiative ergriff. "Alia kann sie sicher finden."
"Bringt euch nicht für mich in Gefahr." Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Lily lehnte in der offenen Terrassentür. Ich war nicht sicher, wie lange schon, doch scheinbar hatte sie genug vom Gespräch gehört.
"Aber-", begann ich, doch sie unterbrach mich mit einem strengen Blick.
"Urvampire sterben durch den Pfahl-" Sie räusperte sich. "Oder durch ihre eigene Hand. Und Lauren wird sich sicher nicht selbst umbringen. Ich kann kooperieren."
Ich schüttelte den Kopf immer schneller, als mir klar wurde, worauf sie jetzt hinaus wollte.
"Nein", sagte auch Nate entschieden, "nein, du hast Kat das Leben gerettet. Wir stehen in deiner Schuld." Ich nickte bekräftigend, während Lily zart lächelte.
"In keinem Fall würden wir akzeptieren, dass du dich für diese Sache selbst opferst. Kann man Lauren nicht noch anders ermorden? Gibt es kein Schlupfloch?", wandte ich mich an Alex, der sofort den Kopf schüttelte.
"Nichts, wovon ich wüsste."
"Und wo ist dieser Pfahl?", fragte Nate und sah zu Lily. Das Licht, das durch die Terrassentür fiel, ließ ihn leicht golden funkeln und ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Er sah so unwirklich aus.
"Ich habe ihn damals bei Lauren in der Gruft gelassen. Versteckt natürlich-"
Alexander rieb sich die Schläfen und starrte in den Wald hinaus. "Vermutlich wird Lauren uns so oder so angreifen wollen", murmelte er, "Dann können wir genauso gut versuchen, ihr zuvorzukommen."
Ich sprang auf und fiel ihm in die Arme. "Danke, Alex! Danke, danke, danke."
Er lachte und ich spürte die Vibration sanft in seinem Brustkorb. "Aber", begann er Bedingungen einzuwenden, "ihr werdet euch um alles kümmern. Den Pfahl holen. Jede freie Minute trainiern. Einen Plan entwickeln und mir vorstellen. Ich werde soviel Zeit wie möglich bei Alia verbringen und auf sie achten. Der Lokalisierungszauber wird kräftezehrend."
Nate und ich nickten fleißig. Ich hätte alles getan, was er mir auftrug, um Lily zu retten. Ich verstand nicht ganz, wann mein Widerstand so zu bröckeln begonnen hatte, aber in mir wollte kein winziger Teil mehr Abstand von Lily. Ich wollte sie beschützen. Mein spontanen Sinneswandel konnte ich mir dabei nicht erklären, doch das war mir auch völlig egal.
"Ich habe eine Kette, die ursprünglich Lauren gehört hat." Lily deutet auf den Rubin um ihren Hals. "Damit sollte es klappen."
"Alia wird sich bestimmt noch heute darum kümmern, Lauren aufzuspüren. Ich hoffe, sie hat die Kraft dazu." Alex' Ausdruck wurde matt und mich überkam ein schlechtes Gewissen, meine schwache Ziehmutter zu solcher Arbeit aufzufordern.
"Sie schafft das", sprach Nate uns Mut zu, "dann werden wir Lauren aufsuchen, sie mitnehmen und dann opfern. Im besten Fall."
Etwas veränderte sich in Alex Miene, doch ich traute mich nicht, ihn nach seiner Meinung zu fragen, nachdem er mir bereits ein Zugeständnis gemacht hatte.
"Gut. Fangt an. Erklärt den anderen euren Plan und arbeitet mit Lily zusammen. Das wird kein Zuckerschlecken."
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