XXXI - Ehrlichkeit

12.08.1343  Graz, Habsburg

Kaitlyn knickste vor den zwei Herren, bemüht, das Kratzen ihres Unterrocks an der Hüfte zu ignorieren. 

"Aus dem Hofe Garcia", erklärte sie knapp und lächelte unterwürfig. Die beiden Männer, ganz in dunkler Tracht gekleidet, musterten sie abschätzig. 

"Welcher Naturkraft bemächtigt?", brummte der Hagere unter seinem Schnauzer. Kaitlyn erschauerte. "Keiner, mein Herr. Nur eine einfache Magd."

Sie verabscheute das Zittern in ihrer Stimme. 

"Unfug!", brüllte jener Mann, nicht ohne seinen Dolch zu zücken. "Sprich die Wahrheit, Weib!" 

Trotz der eiskalten Angst, die Kaitlyn überrollte, straffte sie die Schultern und sah in seine blutunterlaufenen Augen. 

"Ich bin nur eine einfache Magd", wiederholte sie. 

Der Mann Schritt auf sie zu, seine Klinge bohrte sich erbarmungslos in ihren Bauch. "Die Wahrheit! Auf der Stelle!"

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22.10.2036 Marienville, Pennsylvania

Panisch richtete ich mich auf. Ich saß schweißnass in meinem Bett. Neben mir hob und senkte sich Lilys Oberkörper regelmäßig, sie schien noch tief zu schlafen.

"Nur ein Albtraum", versuchte ich mich leise zu besänftigen, "Es war ein Albtraum. Alles ist gut." 

Ich wusste auch genau, was für eine Botschaft mein Unterbewusstsein mir hier senden wollte: Sag es ihr.

Ich nahm einen tiefen Atemzug und bereitete mich darauf vor, ihr alles zu sagen. Jetzt. Nach unserem Moment in der Badewanne waren wir gestern zusammen ins Bett gegangen - unter den verwunderten Blicken von Alice, die uns zusammen aus dem Bad hatte kommen sehen. Wir hatten kaum geredet, aber das war auch nicht nötig gewesen. Wir verstanden uns ohne Worte. 

Jetzt lag ich hier neben Lily, während sie friedlich schlief und dabei so bildhübsch aussah. Ich war nicht sicher, was ich wollte. 

Nein, falsch - mittlerweile war ich sicher, was ich wollte. Aber ich konnte es nicht wollen. Durfte es nicht wollen.

Denn das Einzige, was ich sicher wusste, war, dass sie bald sterben würde. Für Alia. Für mich.

Auch wenn ich ungern ein Vampir war, so egoistisch konnte ich nicht sein. Die Lage zwischen uns war zwar unausgesprochen, aber sie hatte mir zweimal mein Leben gerettet. Ich sollte sie wenigstens über das Ende ihres aufklären.

"Guten Morgen, Kätzchen", brummte Lily unter mir. Sie war aufgewacht, ohne dass ich etwas bemerkt hatte, und sah mir jetzt blinzelnd entgegen. Ich versuchte gar nicht erst, ihrem Blick standzuhalten und rollte mich auf die Seite. Vorsichtig zog ich mit den Fingerspitzen kleine Kreise über ihrem Rippenbogen und räusperte mich. 

Ich war nicht sicher, ob es Scham war oder Angst, die ich verspürte, doch das Gefühl brannte unangenehm in meinem Magen. 

"Alles in Ordnung?"

Na dann mal los.

"Für das Menschlichkeitsserum-" Ich schluckte. "Wir brauchen.., also du-"

Ich hörte auf zu reden, als Lily mein Gesicht zu sich drehte und amüsiert eine Augenbraue hob. "Dein Blut und dann musst du..", versuchte ich fortzusetzen.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, den ich mit größter Mühe zu ignorieren versuchte. Ich sollte keine Trauer empfinden. Vielleicht Angst, weil wir zusammen geschlafen hatten und ich ihr verheimlicht hatte, dass sie sterben würde, aber keine Trauer.

"Süß", unterbrach sie mich und streichelte meine Wange, "dass du es mir erzählst. Ich hab mich schon gefragt, wer es übernimmt. Oder ob ihr es überhaupt vorhattet."

Ich legte die Stirn in Falten. "Du wusstest es?"

Eine Flut an Emotionen überschwemmte mich. Ich war nicht sicher, was ich von dieser Entwicklung halten sollte. Wieso war sie dann noch hier?

"Kat, ich bin vielfach älter als du und weiß von dem Ablauf des Rituals. Aiden hat mir auch dieses Detail nicht verheimlicht. Und spätestens in den Aufzeichnungen aus den Archiven hätte es jeder begriffen, der die Zeilen lesen kann."

Lily hob ihren Zeigefinger und fuhr die Konturen meiner Wangenknochen nach. Es kribbelte sanft auf meiner Haut.

"Wieso bist du überhaupt mitgekommen?", flüsterte ich dann, obwohl mir die Antwort schon klar war. 

"Aiden hat einen Gegenzug gefordert", murmelte Lily leise ohne mir in die Augen zu sehen, "und ich wollte einfach noch ein bisschen Spaß." 

"Also wolltest du uns umbringen?" Irgendwie versetzte mir der Gedanke einen Stich, obwohl es nur logisch war. 

"Kat", sie seufzte und nahm meine Hand, "ihr wolltet mich doch genauso töten."

Widerstrebend musste ich einsehen, dass sie recht hatte. 

"Ich hätte Aiden damit zwar einen Gefallen getan, aber ich hätte ihn trotzdem erledigt. Ich hätte es nicht für ihn getan." 

Ich rutschte ein Stück von ihr ab. Die Situation war mehr als verzwickt. Wir hatten uns kennengelernt mit dem Vorsatz, den jeweils anderen zu töten. Ihr Tod war unerlässlich für Alias Weiterleben. Wir beide konnte nicht funktionieren, doch ich konnte mich auch nicht mehr wehren. Die letzten Tage hatten mir mehr als deutlich gezeigt, dass ich das nicht schaffen würde. 

 "Lily, wir beide", setzte ich an, doch Lily  schüttelte abweisend den Kopf. 

"Nein, bitte", sagte sie leise und senkte den Blick, "bitte, sprich nichts aus von dem, was du zu glauben denkst." 

Ich setzte mich auf, um sie ansehen zu können. In ihren Augen lag weiterhin ein Funkeln, doch es wirkte traurig. Verloren.

"Wieso nicht?"

Lily richtete sich ebenfalls auf und legte ihren Kopf auf die Knie ab.  

Ich berührte sie vorsichtig an der Schulter. "Das ist aussichtslos", gab sie leise von sich, doch mir war das nicht genug. 

Als sie Anstalten machte aufzustehen, hielt ich sie am Arm zurück. "Nein, du wirst nicht schon wieder weglaufen. Ich habe so lange gegen das hier", ich deutete zwischen uns hin und her, "angekämpft. Ich habe einen Haufen riskiert und bereut, aber ich habe es mir eingestanden. Und es eingesehen."

Lily konnte mich immer noch nicht ansehen. "Nein", kam nur leise über ihre Lippen. 

"Doch, Lily! Auch, wenn ich es nicht ausspreche, weißt du es genauso gut wie ich. Du fühlst es ganz genauso!" 

"Hör auf!", fuhr sie mich an und riss sich los. "Du weißt gar nichts, Kat. Nichts." Ihre roten Augen glitzerten gefährlich und in ihren Fingerspitzen loderten kleine Flammen auf. Ich zuckte zurück.

"Lily", stammelte ich und deutete zu ihrer Hand. Perplex schüttelte sie die züngelnde Glut aus und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. 

Wir schwiegen einen Moment, in dem ich weiter versuchte, zu verstehen, was gerade passiert war.

"Du willst es also wirklich, mh?" Lilys Stimme klang provokant. "Buchstäblich mit dem Teufel spielen?" Sie ließ erneut Flammen in ihrer Hand entstehen, doch diesmal waren sie kontrolliert. 

Ich schluckte und nickte langsam. 

"Komm her. Dann musst du mich anhören." Wortlos ließ sie sich wieder aufs Bett sinken und verknotete ihre Hände.

"1442 in Frankreich. Ich war seit etwa 400 Jahren bei ihnen. Und jeder Tag war derselbe seit wir verwandelt worden waren."

Ich vermutete, dass Lily von ihrer Familie sprach und sah sie aufmerksam an. Sie hielt inne und starrte weiter auf ihre langen Finger, die sich umeinander verkrampften.

"Ihr Sohn, er-", ihre Stimme brach kurz, "er hat mich jede Nacht um drei Uhr in meinem Zimmer aufgesucht. Du musst wissen, ich war in Amerika die erste weibliche Vampirin neben seiner Muttter zu der Zeit. Sie haben mich durch Zufall gefunden und mit sich genommen und er hat seine Spiele mit mir gespielt. Abgefuckte Spiele."

Ihre Augen glitzerten und plötzlich verspürte ich den Drang, sie in den Arm zu nehmen. Ich riss mich geradeso zusammen.

"Er hat gesagt, er würde mir helfen, meine Kräfte zu erlernen und kontrollieren. Wann immer er konnte, hat er mich - mich angefasst", sie spuckte die Worte aus, "unsittlich. Ich habe nie etwas gesagt, nie. Über verdammte 400 Jahre nicht. Bis er in diesem Jahr zu weit ging."

Lily stand auf und strich ihre Haare hinter ihr linkes Ohr. "Ich habe mich gewehrt. Er hat die Geschichte gedreht und es dastehen lassen, als wenn ich ein undankbares und aggressives Balg wäre. Das mochten seine Eltern natürlich nicht, er war schließlich ihr Liebling. Also gab es Strafe für mich. Einen Tag nichts zu essen, dann eine Woche oder einen Monat. Immer im Keller bleiben, niemals die Sonne sehen."

Als wäre die Erinnerung lebendig geworden, schüttelte sie sich kurz und blickte sehnsüchtig in das Sonnenlicht, das durch das Dachfenster auf mein Bett fiel.

"Natürlich kam er weiterhin jede Nacht zu mir. Jede verdammte Nacht", sie schnaubte wütend, "bis ich dem ganzen vor vierhundert Jahren ein Ende gesetzt habe. Ich habe ihm das Genick gebrochen, als er sich wieder über mich hermachen wollte. Dann bin ich nach oben und habe seine Eltern auch ermordet. Mit dem Pfahl."

Ich legte meine Hand auf ihre. "Das tut mir wahnsinnig leid", flüsterte ich. Ekel wallte in mir auf, gegenüber einem Mann, den ich nie kennengelernt habe. Dennoch hasste ich ihn dafür, dass er sich an ihr vergriffen hatte. Die Kontrolle über ihren Körper an sich gerissen hatte. "Es muss schrecklich gewesen sein."

"Lass es mich dir zeigen", flüsterte Lily. 

Ich blickte sie unsicher an. "Wie?"

Sie nahm meine Hand zwischen ihre beiden und flüsterte etwas. Es dauerte einen Bruchteil einer Sekunde, bis sich auf meinem Handgelenk ein winziges Symbol erkennen ließ. Es sah aus, wie ein Muttermal in Form von zwei gekreuzte Linien und brannte ein wenig, fühlte sich an, als würde man mit Räucherstäbchen auf meiner Haut zeichnen.

"Was machst du da?", fragte ich leise.

"Schließ die Augen", wies sie mich stattdessen an und ich tat, wie befohlen. Vor meinem inneren Auge rauschten Bilder vorbei, sie setzten sich mit ihren Erzählungen zusammen. Ein Kellergewölbe, dunkel und kalt, und ein blonder Mann mit bösartigem Lächeln. Plötzlich verspürte ich Angst, wahrhaftige und lebhafte Angst, als würde er auf mich zukommen. Die Angst wechselte zusammen mit den Bildern zu Ekel als ich seine Hand buchstäblich an meinen intimsten Zonen spürte.

Ich riss die Augen auf und rutschte von ihr weg. "Was-", brachte ich heraus, während mein Körper sich unwillkürlich schüttelte, um das Gefühl seiner Hände loszuwerden. "Wie?"

Lily musterte mich traurig und und streichelte über das kleine Kreuz. "Es ist ein Brudermal. Wir teilen dieselben Emotionen oder Gedanken, wenn du es zulässt, solange dieses Symbol auf deiner Hand ist. Es entsteht durch ein kleines Feuerritual"

Sie ergriff eben jene markierte Hand und wenige Worte später, sah sie wieder aus wie vorher.

"Ich wusste nicht, dass es sowas gibt. Deine Fähigkeit ist das Feuer, oder?"

Sie schmunzelte. "Das hat aber lange gedauert." 

Ich zuckte mit den Schultern. "Ich habe nie gelernt, dass Urvampire Elemente kontrollieren können." 

"Die ersten Vampire waren ein riesiges Ungleichgewicht in der Natur, geschaffen durch ein Missgeschick der Hexen. Und da Hexen bekanntlich ihre Natur lieben, haben sie einen Ausgleich geschaffen. Die erste Generation der Vampire haben die Elemente der Natur in sich vereint bekommen und die zweite wurden Halbelementler. Also Vampire, die statt aller Luft- oder Wasserphänomene zum Beispiel nur Nebel kontrollieren konnten. Es sollte sie zügeln und in Schach halten, aber sie machten es sich bald zu nutzen."

Gebannt hörte ich ihr zu, während ich versuchte, all diese Informationen zu verbinden.

"Am Anfang hab ich mich ständig verbrannt, sobald ich etwas emotional geworden bin. Aber mittlerweile", Lily ließ Flammen in ihrer Handinnenfläche züngeln, "kann ich es sehr gut."

"Wow", gab ich nur leise von mir, "was konnte deine Familie?"

"Sie waren allesamt Wasserelementler. Eine wirkliche Ironie des Schicksals, wir hätten kaum verschiedener sein können." 

"Aber wie können alle tot sein? Es gab doch sicher einige Urvampire?", fragte ich interessiert weiter. 

"Naja, so grausam das klingen mag, aber die meisten sind an ihren Elementen bereits kurz nach der Verwandlung gestorben. Lebendig verbrannt, unendlich hoch in die Luft geschleudert oder von Fluten davon gespült. Sie sind sicherlich nicht alle tot, aber definitiv verschollen. Andere wollten nicht mit dieser Bürde leben und haben sich absichtlich das Leben genommen."

Ein Schauer lief mir über den Rücken. Eine Generation von Urvampiren, die Wasser, Luft, Feuer und Erde in sich getragen hatte und daran verendet war. Eine zweite Generation, die abgespeckte Varianten dieser Elemente kontrollieren mussten. Ich war erstaunt, wie wenig ich tatsächlich gewusst hatte. 

Lily räusperte sich und sah mir in die Augen. "Also, das war meine Geschichte. Oder ein Teil davon. Was ist mit dir?" 


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