XXII - Zweisamkeit

17.10.2036 Marienville, Pennsylvania

Demotiviert, raffte ich mich auf und zog meine Kleidung an. Dieselbe wie vom Vortag. Die schwarzen Lederboots mit Absätzen natürlich auch. Schließlich musste ich die. zu einer gesellschaftlich akzeptierten Größe, fehlenden Zentimeter irgendwie kompensieren. Gereizt musste ich feststellen, dass sie von den Wanderungen durch den Wald einige Kratzer abbekommen hatten. 

Ich brauchte dringend neue Sachen.

 Kurz betrachtete ich mich im Spiegel und überlegte, ob ich meine Haare in einen Zopf flechten sollte. Entschieden schüttelte ich dann jedoch den Kopf. Ich wollte der alten Elsa-Figur nicht noch mehr ähneln. Obwohl ich sie in meiner Kindheit immer bewundert hatte. Wie cool war es bitte, Eiszapfen aus den Handflächen schießen lassen zu können? Meine Hände sahen banal aus; ringbesetzt und blass. Mein Blick fiel auf mein Lederarmband an meinem rechten Handgelenk. Es war das einzige Accessoire, das ich seitdem ich denke konnte nicht abgelegt hatte. Als wäre es ein Teil von mir. 
Ein lautes Klopfen unterbrach meinen Gedankengang. 

Nate steckte den Kopf zur Tür rein.  "Alles gut?", fragte ich verlegen.

Er nickte kurz. "Hat Alex gestern mit dir geredet?"
Nun war es an mir zu nicken.

"Okay. Gut. Komm dann runter. Er will, dass wir aufbrechen", murmelte er, blieb aber noch unschlüssig im Türrahmen stehen. Ich verschränkte die Arme. Falls er erwartete, dass ich einen Schritt auf ihn zu machen würde, könnte er seine Unendlichkeit hier verbringen.

Nate räusperte sich kurz. "Hör mal, es tut mir leid. Alex hat dir die Gründe zwar sicherlich erklärt, aber du solltest wissen, dass wir dich immer nur beschützen wollen. Okay, Eisprinzessin?"

Dieser vertraute Spitzname brachte mein Herz wieder einmal zum Schmelzen. Ich wandte den Blick von ihm ab zum Fenster, nickte aber leicht.

Seufzend zog Nathan die Tür hinter sich zu und ging. Ich betrachtet noch ein letztes Mal kritisch mein Spiegelbild, bevor ich mich auch auf den Weg nach unten machte. 



"Ihr kennt den Plan ja", meinte Alex nur knapp, als wir alle drei eingetroffen waren. Mein Blick haftete an Lily, deren rote Haarpracht heute in einem lockeren Dutt steckte, aber sie schien mich gar nicht wahrzunehmen. 

"Findet die Archive. Holt das Buch", wiederholte mein Ziehvater nochmal knapp, bevor er zur Tür deute und selbst zurück in sein Büro lief.

Flitzend erreichten wir besagte Archive in wenigen Minuten.

Es war ein großes und düsteres Gebäude inmitten des kleinen Ortes Clarendon. Das Schild an dem einst "Bibliothek" gestanden haben musste, war großteils zerfallen, sodass nur noch einzelne Buchstaben zu erkennen waren.

Hier lebte niemand mehr. Die wenigen Häuser waren völlig verlassen und die ohnehin schlechte Straße inmitten des Ortes hatte mehr Schlaglöcher, als ich zählen konnte.

"Ich -", begann Lily beim Anblick der Bibliothek, "ich warte hier draußen auf euch. Vielleicht suche ich mir ein paar Menschen zum Aussaugen. Sagt Bescheid, wenn ihr glaubt, das Buch zu haben."

Ich wollte hinterfragen, wieso sie nicht mit uns hereinkommen wollte, aber Nathan kam mir zuvor.

"Ist okay", gab er eindeutig zu erleichtert zurück und öffnete die morsche Tür, "geh aber nicht zu weit weg. Du musst dann prüfen, ob wir das richtige Buch finden. Auch, wenn das Suchen sicherlich eine Weile dauern wird."

Mit diesen Worten betrat er das Gebäude, ich zwängte mich hinter ihm hinein.

Die Bibliothek sah auch von innen gespenstisch aus. Was zu erwarten gewesen war - schließlich hatten die meisten Buchhandlungen und Bibliotheken vor einigen Jahren geschlossen. Ohne neue Bücher verloren sie einfach ihren Sinn.

"Komm", forderte Nathan mich flüsternd auf. Ohne zu wissen, warum, stimmte ich ihm ebenfalls flüsternd zu.

Ich sah bequeme Sitzmöbel neben einer großen Treppe, die einst die Besucher zum Hinsetzen und Lesen eingeladen haben mussten. Die vielen Regale, die als ganze Reihen links und rechts von uns standen, waren bis oben hin mit Büchern vollgestopft waren. Es war wie ein Paradies, und ich bemerkte deutlich wie ich mich entspannte.

"Teilen wir uns auf", murmelte ich und lief instinktiv auf die Treppe zu, die zu einer offenen zweiten Etage führte. Erinnerungen an den Einbruch in Lilys Haus wurden wach und ich überprüfte zweimal, ob nicht irgendwo Stolperdraht angebracht war.

Wieso sollten hier Fallen sein, dachte ich kopfschüttelnd und stieg beherzt die Stufen hinauf. Der Geruch von alten Büchern vermischte sich mit dem von leicht modrigem Holz. Dank eines Blickes nach oben lieferte eine tropfende Decke die Erklärung.

Ich flitzte über den hölzernen Boden, aus Angst, dass er einbrechen könnte, wenn ich ihn zu lange belastete und bremste zwischen zwei Bücherregalen ab. Einzelne Leitern waren an sie gelehnt, um die Regalreihen zu erreichen, die bis an die Decke reichten. Sie erinnerten mich an meine Kindheit, wenn ich mit meiner Mutter in Buchhandlungen gegangen war und stundenlang in allen Büchern gelesen hatte, ohne tatsächlich eines zu kaufen. Damals waren Bücher noch teuer gewesen, zu teuer für uns. 

Mein Herz zog sich unangenehm zusammen und ich schüttelte die Erinnerung ab. Für Selbstmitleid war jetzt nicht die Zeit.

"Wonach suche ich eigentlich genau?", flüsterte ich mir selbst zu, während mein Blick über die Buchrücken streifte. Ein Buch - schwarzer Einband, goldene Ornamente, hatte Alex gesagt . Ein Name wäre hilfreich gewesen oder wenigstens eine grobe Ortsangabe. Wenn ich alle Bücher mit schwarzem Einband aus dem Regal ziehen müsste, würde ich niemals fertig werden.

Gebückt begann ich, die unterste Reihe zu durchsuchen. Hardcover in allen möglichen Farben reihten sich aneinander. Das war eindeutig die Kinderbuchabteilung. 

Ich schritt leise weiter. In der nächsten Reihe waren die Regale zum Teil eingebrochen, wahrscheinlich war das feuchte Holz morsch geworden. Die Bücher, die kreuz und quer davor verteilt waren, hatten zerfledderte Rücken oder waren teilweise aufgelöst. 

Ich hoffte inständig, dass unser gesuchtes Buch nicht hier gestanden hatte. 

Plötzlich ließ ein Geräusch mich zusammenzucken.

Ich fuhr ruckartig herum und prallte mit dem Rücken an das Regal hinter mir. Flitzte da jemand?

"Nate?", fragte ich mit zitternder Stimme. Das zischende Geräusch bewegte sich weiter um mich herum.
Was sollte das?
Das ungute Gefühl in meinem Bauch verwandelte sich langsam in ein Kribbeln in meinem Nacken.

Ich flitzte an die hinterste Buchreihe und lehnte mich mit dem Rücken daran. So konnte mich wenigstens niemand von hinten überraschen.

"Nathan?", flüsterte ich nocheinmal. 

Wenn das hier Nate wäre, hätte er schon geantwortet, entwickelten sich Zweifel in meinem Kopf. 

Plötzlich war das Geräusch direkt neben mir und materialisierte sich in Form einer Person. Reflexartig holte ich aus und traf mit der Faust in ihr Gesicht.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top