XXI - Rat
16.10.2036 Marienville, Pennsylvania
"Ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll. Wie ich mich verhalten soll. Was ich überhaupt machen soll."
Ich balancierte zwischen etlichen eingegangenen Rosensträuchern auf dem kleinen Bordstein vorm Haus. Alice lief neben mir auf dem Fußweg. Wir hatten uns entschieden, bei einem Spaziergang zu plaudern, nachdem ich vorhin völlig aufgelöst in ihr Zimmer gestürmt war. Lily raubte mir ständig den letzten Nerv.
"Früher warst du talentierter", lenkte mich meine beste Freundin lachend ab und deutete auf meine Balancierübung. Ich musste grinsen und geriet beinahe ins Straucheln.
"Ich bin nicht sicher, wie elegant ich heute noch auf dem Balken wäre", meinte ich in Erinnerung an meine Jahre im Turnverein. Als ich zunehmend schwächer geworden war, war der Sport für mich flachgefallen. Nachdem ich verwandelt worden war, hatte ich ihn dann ganz aus den Augen verloren - nur ab und zu hatte ich in unseren Trainingsarealen üben können.
"Alex würde dir sicherlich eine ganze Gymnastikausrüstung kaufen, wenn du nur wolltest."
Ich lächelte wehmütig. Tatsächlich traute ich ihm das zu, er war ein wahnsinnig fürsorglicher Ziehvater. Ein kleiner Stich in meinem Herzen erinnerte mich an gestern Abend.
"Alice, meine Mutter hat mich vergessen", sagte ich leise und starrte auf meine Füße, die in ihrer Bewegung innegehalten hatten.
"Ach, Kat, das glaube ich nicht, es ist doch gar nicht so lange-"
"Alex hat sie manipuliert, mich zu vergessen", unterbrach ich sie und blieb stehen. Ich versuchte, in ihrem Blick zu erkennen, ob sie auch davon gewusst hatte. Ob sie mich auch belogen hatte.
Zu meiner Erleichterung spiegelten sich in ihren blauen Augen Verwirrung und Unglaube.
"Zumindest hat Alex sie denken lassen, ich sei an meinem Tumor verendet. Scheinbar wollte sie das so. Aber irgendetwas an der Sache kommt mir einfach seltsam vor."
Alice verzog mitleidig das Gesicht. "Das ist bestimmt nur der Unglaube. Hör mal, ich sage das nur ungern, aber ich habe so etwas schon gedacht - oder gehofft."
Ich legte die Stirn in Falten und sah sie fassungslos an. Schnell setzte sie eine Erklärung hinterher: "Angenommen deine Mutter wusste, dass du eine Vampirin und ausgebildet wirst. Stell es dir nur einmal vor: Du kommst zurück nachhause, siehst aus wie 21, kerngesund und mit Reißzähnen, die sich regelmäßig in Halsschlagadern bohren. Dir gegenüber steht deine Mom, mittlerweile über sechzig und hat mit der ganzen Sache abgeschlossen."
Ich hatte es noch nie so betrachtet. Betrachten wollen. Die Worte meiner besten Freundin ergaben schon wieder so erstaunlich viel Sinn, dass ich am liebsten auf den Boden aufstampfen und weinen würde.
"Und jetzt stell dir das zweite Szenario vor, sie wüsste nicht, dass du ein Vampir bist. Sie würde einen Herzinfarkt kriegen, dich in diesem jungen Alter zu sehen. Wahrscheinlich würde sie dich für eine Halluzination halten und an ihrem Verstand zweifeln. Für sie müsstest auch du langsam auf vierzig zu gehen", fuhr meine beste Freundin weiter fort, "Es ist das Beste so, Katy."
Ich atmete enttäuscht aus. "Ich habe das alles nie so gesehen. Ich habe auch überhaupt nie betrachtet, wie viel Zeit schon vergangen ist."
Alice lachte und nahm meine Hand. "Ja, die Jahre fliegen als Vampir. Gefühlt bin ich Alia erst vor guten zwanzig Jahren begegnet, dabei sind es fast hundert. Ich meine, wie krank ist das? Hundert Jahre? Das ist mehr als eine durchschnittliche Lebensspanne."
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. "Zeit ist sowieso ein unpraktisches Konzept als Vampir." Wir führten unseren Spaziergang fort und begannen, weiter den Waldweg entlangzulaufen.
"Wo haben sie dich gefunden eigentlich genau gefunden?", versuchte ich vorsichtig überzuleiten.
"In Belgien. In den Dreißigern."
"Hast du wirklich keine Erinnerung mehr an damals?", fragte ich mutiger und Alice schüttelte den Kopf.
"Manipulation wird nur durch den Tod des betreffenden Vampirs aufgehoben, nicht durch Verwandlungen. Übernatürliche Einflüsse sind an den Erschaffer gebunden", erinnerte sie mich und ich verzog enttäuscht die Lippen.
"Was denkst du, warum hast du sie dir nehmen lassen?"
"Ich habe immer wieder darüber nachgedacht. Es war kurz nach dem Krieg, vielleicht habe ich etwas Schlimmes erlebt. Die Frauen waren ja meistens daheim, aber vielleicht war ich ja eine Arzthelferin im Lazarett oder sowas", überlegte meine beste Freundin.
Ich sah sie fragend von der Seite an. "Du hast doch medizinisch gar kein Talent", lachte ich, "das ist schließlich Finns Gebiet."
Sie zuckte mit den Schultern. "Das stimmt schon, aber vielleicht habe ich auch einfach meine Talente mit den Erinnerungen verloren", sie seufzte, "Aber womöglich hatte ich auch einfach nur ein privates Trauma. Und wohl offensichtlich keine Familie, sonst hätte mich Alia niemals gefunden und ich wäre niemals mit ihnen gegangen."
Der Gedanken daran, nichts über meine eigene Vergangenheit zu wissen, würde mich ständig nervös machen. Da ich sowieso ständig alles überdachte, würde ich mich in gesponnen Theorien über meine Vergangenheit verlieren.
"Sieh' mal", unterbrach Alice meinen beginnenden Gedankengang und zeigte auf einen kleinen Spielplatz wenige Meter vor uns. Wir waren ziellos einen Wanderpfad entlang gelaufen.
Ich flitzte los und ließ mich in die Schaukel sinken, die neben einer weiteren über dem Kiesboden baumelte. Der Spielplatz schien nicht allzu oft benutzt zu werden, was bei der Lage aber auch nicht verwunderlich war. Alice nahm in der Schaukel neben mir Platz.
Langsam stieß ich mich ab und begann zu Schaukeln. In wenigen Schwüngen gewann ich an Höhe und konnte mir ein Kichern nicht verkneifen. Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzte, in unsere kleine Schaukel im Garten hinter Mamas Haus. Lediglich der knarrende Ast, der immer unter meinem Gewicht geächzt hatte, fehlte, um meine Melancholie zu maximieren.
Ich stoppte meine Bewegungen und schaukelte ruhiger vor mich hin.
"Finn und ich", begann meine beste Freundin, "ich glaube, das könnte, was werden."
Ich musste lächeln. "Ich kann es immer noch nicht glauben - ihr bandelt an und du erzählst mir nichts davon."
"Ich hab es dir ja erzählt. Es hat sich schließlich kein besserer Moment ergeben. Ich hoffe jedenfalls, dass wir das ganze Procedere durchmachen." Fragend sah ich zu ihr hinüber.
"Naja, mit einem Date und langem Kennenlernen und so - ganz altmodisch eben."
Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. "Meine beste Freundin, die hoffnungslose Romantikerin. Sonst legst du auf sowas doch auch keinen Wert."
"Vielleicht ist gerade das der Grund. Finn soll nicht nur eine dieser kurzfristigen Bekanntschaften sein. Klar, ich liebe meine Freiheit, aber ich möchte versuchen, etwas Tiefgründiges mit ihm aufzubauen. Und wenn es nicht funktioniert, dann bin ich froh, so einen guten Freund zu haben." Das leichte Lächeln, das Alice' Lippen umspielte und ihre Augen zum Leuchten brachte, ließ auch mich strahlen.
"Ich freu' mich für dich. Ehrlich."
Ich blickte wieder gen Himmel und schaukelte weiter.
"Lily hat sich entschuldigt", platzte aus mir heraus.
"Aha. Kat, willst du sie jetzt in einem besseren Licht darstellen?" Alice sah mich ungläubig an. "Für mich oder für dich?"
Betroffen blickte ich zu Boden. Berechtigte Frage.
"Du musst sie nicht vor mir rechtfertigen, weißt du? Sie hat mich buchstäblich gefoltert und uns verraten. Mir bedeutet sie gar nichts, aber dir -"
Nun war ich es, die sie fragend ansah. "Es -", setzte sie grinsend an, "es ist ziemlich auffällig."
Ich seufzte. "Oh man. Ich weiß doch auch nicht."
Lily war grausam und skrupellos. Keine Frage. Aber wieso schlug mein Herz beim Gedanken an sie trotzdem schneller?
Ich stieß angespannt Luft aus und griff fester um die Ketten der Schaukel. "Sie hat mir auch beigebracht, besser zu kämpfen."
Wieso suchte ich ständig das Gute in ihr?
"Ja und sie hat dich auch deutlich abgewiesen", ließ Alice meine Hoffnungen wieder zerplatzen.
Sie kicherte leise. "Kat, du musst mir keine 'Pro-Contra-Liste' zu Lily schreiben. Ich weiß, dass sie Scheiße gebaut hat und wahrscheinlich noch öfter bauen wird. Aber im Grunde seid ihr nicht so verschieden." Fassungslos starrte ich sie an.
"Ich meine, Mordlust, Ehrgeiz, Impulsivität und eine gewisse emotionale Kälte zeichnen euch beide aus. Wobei sie natürlich nochmal die Steigerung von dir ist, da du in letzter Zeit eher ein emotionales Wrack bist."
Ich schüttelte meinen Kopf. "Trotzdem. Nein. Ich will niemanden mögen, der dir wehgetan hat, Ally. Außerdem macht sie mich irre. Ich fühle so viele Emotionen in ihrer Nähe und habe auch seit langem mal wieder Albträume gehabt."
Die Verzweiflung trat in meiner krächzenden Stimme deutlich hervor.
"Das ist tatsächlich seltsam. Hör mal, ich verstehe dich. Aber sie es mal so; sie hat sich wenigstens bei mir für unser Kennenlernen entschuldigt - und niemanden von uns im Schlaf ermordet."
"Du bist immer so positiv", murmelte ich mit weinerlicher Stimme, "und pragmatisch."
Alice legte den Kopf in den Nacken und genoss das Licht der strahlenden Sonne. "Was hast du denn mit ihr vor? Ich meine One-Night-Stand-Lily hat uns verraten und du hast sie noch nicht umgebracht", erklärte sie belustigt, "das muss ja was heißen."
"Eben das weiß ich ja nicht. Ich glaube, ich bin verweichlicht", jammerte ich. Ich hatte seit ich ihr begegnet war tatsächlich niemanden mehr mit Freude ermordet - vor allem nicht sie, und sie hatte es ja wohl am meisten verdient. Alice lachte und einige dunkle Löckchen fielen ihr in die Stirn.
"Pass auf, du weißt nicht, ob sie dich nicht jeden Moment umbringen würde. Ich weiß, 'wo die Liebe hinfällt' und sowas -"
"Liebe?", ich lachte abschätzig, "Alice, ich weiß, du bist frisch verliebt und die Welt ist rosarot - aber Lily und ich waren Fuckbuddies. Das ist alles."
Nur ein One-Night-Stand. Das musste auch ich mir immer wieder sagen.
Alice blickte mich hochgezogenen Augenbrauen an. Sie schien durchaus zu merken, was in mir vorging.
"Sicher?"
Nein. Nicht sicher.
Eine laute Vibration von Alice Smartwatch rettete mich vor einer Antwort. Sie warf einen flüchtigen Blick darauf und sprang in einer flüssigen Bewegung von der Schaukel ab. "Alex will, dass wir zurückkommen."
"Wieso sagt er das dir und nicht mir?"
"Ich bin wohl aktuell die Zurechnungsfähigere von uns beiden."
"Ihr müsst nochmal los. Direkt morgen", überfiel Alex mich schon, als ich das Haus betrat. Nathan lehnte hinter ihm am Tisch - von Alia und Finn war nichts zu sehen - und Lily stand mit Sicherheitsabstand zu Nate am Tresen.
"Was? Wer? Wohin?", fragte ich überfordert und ließ Alice an mir vorbei in den Vorraum treten.
"Die Bibliothek in Clarendon", antwortete Nate an Alex' Stelle und stieß sich vom Tisch ab. "Wir brauchen ein bestimmtes Buch aus den Archiven. Das Vollmondwerk. Es enthält die Sprüche, die Alia für die Gewinnung des Serums braucht."
Sie sprachen vor Lily über das Serum? Wahrscheinlich hatten sie ihr eine Geschichte darüber aufgetischt, die in keinem Wörtchen den Fakt enthielt, dass sie draufgehen würde.
"In den Archiven stehen Aufzeichnungen von etlichen Hexen", setzte Alex hinterher, "folgt einfach der Route 6, ihr könnt es nicht verfehlen. Das gesuchte Buch hat einen schwarzen Einband und goldene Ornamente - mit leeren Seiten."
Alice Ausdruck spiegelte meine Zweifel wider. "Wie-"
"Sie sind nur für Hexen lesbar." Lily stützte sich grinsend am Tisch ab.
"Deswegen kommt sie auch mit", setzte Nate ausdruckslos hinterher - nicht erfreut, aber dennoch nicht mehr allzu abwertend.
"Ich habe mich freiwillig dazu bereit erklärt", sagte Lily in einem überschwänglich freundlichen Ton und lief an mir vorbei zur Tür hinaus. Sie trug wieder den hautengen Anzug, den sie auch bei unserem ersten Zusammentreffen getragen hatte. Mein Blick blieb für wenige Sekunden an ihrer attraktiven Rückansicht hängen. Dann schüttelte ich mich kurz und macht mich auf den Weg in mein Zimmer. Der grinsende Blick von Alice, die im Türrahmen lehnte, entging mir nicht.
Ich konnte nicht schlafen. Unruhig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere ohne zur Ruhe zu kommen. Als ich Geräusche an meiner Tür hörte, schreckte ich schließlich auf.
Meine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit und erkannten eine kurvige Gestalt im Türrahmen.
Müde setzte ich mich aufrecht hin, als Lily sich gegenüber an mein Bettende niederließ. Wortlos griff sie über sich und öffnete das Fenster. Kühle Nachtluft strömte herein, gemeinsam mit dem Geräusch von zirpenden Grillen. Sie schob ihre Beine unter die Decke, ihre kühlen Schienbeine streiften meine Oberschenkel.
Ich folgte ihren Bewegungen wie hypnotisiert. Warum kam sie schon wieder zu mir? Wir hatten seit dem Vorfall gestern nicht wirklich gesprochen und auch jetzt herrschte unangenehmes Schweigen.
"Tut mir leid für gestern", brachte ich als Erstes heraus. Wieso entschuldigte ich mich auch noch? Hatte ich denn gar keine Kontrolle mehr über mein Sprachzentrum? Sie winkte ab und flippte ihre Zigarettenschachtel auf und fischte eine heraus.
"Mir tut es leid", nuschelte sie, die Zigarette bewegte sich mit ihren Lippen, "aber du hast einen guten Schlag."
Lily packte die Schachtel wieder in die Tasche ihres großen Hoodies und zog stattdessen ein Feuerzeug hervor.
"Ich hab gehört, was passiert ist - mit deiner Mom und sowas", flüsterte sie und legte die entzündete Kippe an den Mund. Ich antwortete nicht.
Lily beugte sich vor und reichte mir die Zigarette.
Ich nahm sie ihr aus der Hand. "Scheiße halt", versuchte ich die Sache betont locker abzuspeisen und zuckte ich mit den Schultern. Einen beruhigend tiefen Atemzug später legte ich den Kopf in den Nacken und blies den Rauch aus.
"Und Nathan?"
"Was soll mit ihm sein?", fragte ich gelassen. Worauf spielte sie an?
"Ich hab euch nur streiten gehört vorhin. Ich dachte -", begann sie und fuhr sich durch die Haare.
Ich nahm einen weiteren Zug von der Zigarette bevor ich sie zurückreichte.
"Ich -, Ihr -", stammelte Lily weiter.
"Jaaa?"
"Ich dachte, ihr wärt zusammen." Sie hielt die Kippe in der Luft zwischen ihrem Zeige- und Mittelfinger. Kleine Rauchschwaden stiegen auf und waberten zum Fenster hinaus.
"Meinst du das ernst?" Wieder musste ich kurz auflachen.
In ihren roten Augen lag ein ehrlich verwirrter Ausdruck. Ich schüttelte den Kopf und richtete mich auf.
"Wir sind beste Freunde. Mehr nicht. Wie Geschwister." Noch während ich die Worte aussprach, merkte ich, dass sie stimmten. Der Kuss im Club war ein vernebelter Ausrutscher gewesen. Das war's.
Lily zog noch einmal an der Kippe, bevor sie sie aus dem offenen Fenster warf.
Meine Augen hingen kurz an ihren fest, wanderten dann über ihre markante Nase hin zu ihren wunderschönen Lippen.
Ich rutschte ein Stück zurück, schaffte Sicherheitsabstand und kuschelte mich wieder unter die Decke.
Lily räusperte sich. "Dann schlaf schön, Kätzchen." Sie erhob sich vorsichtig.
"Du auch, Lily."
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