XX - A negativ
15.10.2036 Marienville, Pennsylvania
"Lass es sein, Nate!", rief ich mit belegter Stimme, als es zum zweiten Mal an meiner Tür klopfte. Ich hatte mich in mein Bett verkrochen ohne ein letztes Wort mit Lily zu wechseln. Nach meinem kurzen Moment der Schwäche war ich sofort zurück in mein Zimmer gerannt.
Die ganze Welt sollte mich einfach nur in Ruhe lassen.
"Ich bin es, Kaitlyn. Es tut mir leid. Darf ich zu dir reinkommen?", drang Alexanders ruhige Stimme durch die Zimmertür.
Mit zusammengebissenen Zähnen musste ich feststellen, dass mit den zunehmenden Enttäuschungen auch meine menschlich emotionale Seite immer weiter zum Vorschein kam. Schniefend hievte ich mich auf, um die Tür einen Spaltbreit zu öffnen.
Alex stand mit schuldbewusster Miene vor mir. Sein graues Hemd war lose in die blaue Jeans gesteckt und an den Ärmeln zerknittert. Die Haare hingen in langen Strähnen in die leuchtenden Augen. Wie er so vor mir stand, erinnerte er mich erstaunlich an Nate.
Beim Gedanken an ihn zog sich mein Herz sofort schmerzhaft zusammen.
"Nate hat mir erzählt, dass ihr geredet habt", begann er leise, "und auch, dass du von deiner Mutter weißt." Sein Lächeln verschwand wieder. In seinen Augen regte sich etwas, doch ich war nicht sicher, was.
Wut? Angst?
Ohne eine Bewegung blieb ich weiter starr im Türrahmen stehen, während er wohl darauf wartete, dass ich ihn hereinbat. Doch für diese Geste war ich zu verletzt - und vielleicht zu stur.
Alex räusperte sich. "Deine Mutter - sie -" er stockte, "sie hat dich nicht ignoriert."
Ich lachte kühl auf. "Scheinbar ja schon. Wann wolltet ihr mir überhaupt mitteilen, dass sie euch kannte? Über euch Bescheid wusste?"
"Katy, es war so: Deine Mutter war klug und weltoffen, aber wir haben nicht wirklich ausgesprochen, was wir vorhaben. Sie hat Alia von deiner Krankheit erzählt und sie hat natürlich angeboten, dir zu helfen...", begann er zu schildern, doch er konnte mir dabei nicht in die Augen sehen. Ich lehnte mich schnaubend an den Türrahmen.
"Dann - ", Alex geriet erneut ins Stocken und fuhr sich durch die gegelten Haare.
"Was dann?", fragte ich gereizt. Endlich sah er mich wieder an.
"Sie hat mich gebeten, sie zu manipulieren. Sie wollte uns alle vergessen."
Mir fiel erneut die Kinnlade herunter. Meine Kehle fühlte sich wieder zugeschnürt an und ich spürte Tränen in mir aufsteigen.
"Was hast du ihr gesagt?", fragte ich leise und verknotete meine Finger.
"Ich habe sie glauben lassen, du seist an deinem Tumor gestorben."
Alle Worte, die sich in meinen Gedanken überschlugen, verblassten auf einmal. Ich konnte kein Wort herausbringen. Er hatte mich für sie umgebracht.
Doch etwas an seinen Worten ließ mich stutzen. An der Art, wie er sprach. Als müsste er nicht mich, sondern auch sich selbst von dieser Wahrheit überzeugen.
Gottverdammt. Ich wusste nicht mehr, was wahr war und was erlogen. Ich wusste gar nichts mehr.
"Wann wolltet ihr mir das sagen? Dass sie nichts mehr von mir weiß? Ich wollte das Heilmittel anfangs nehmen, um zu ihr zurückzukommen", murmelte ich apathisch.
"Gar nicht", sagte Alexander ohne ein Fünkchen Reue, "wir dachten und hofften, du lässt irgendwann von der Idee ab. Und bis vor Kurzem gab es ja gar keine Chance auf das Heilmittel."
Ich nahm einen tiefen Atemzug, meine gesamte Energie war mit einem Schlag verschwunden. Ich wollte nur noch herumliegen und nichts tun.
"Ich wollte dich beschützen. Es wäre doch nicht besser gewesen, wenn du deiner Mutter beim Altern zusiehst und selbst immer so jung bleibst. Wie hast du dir das vorgestellt? Nachts reißt du eine paar Menschen die Haut auf und morgens kommst du nachhause zum Frühstück? Das wollte auch sie nicht. Die Manipulation war sinnvoll, Katy, bitte versetz' dich in die Lage deiner Mutter."
Ich senkte den Kopf. Seine Punkte waren valide und dennoch wollte ich das nicht wahrhaben. Er beugte sich nach vorne und zog mich in einer Umarmung. Ich versteifte etwas. Sein herber Geruch wärmte mein Herz ein wenig und die Mauer aus Wut fing in mir an zu bröckeln.
"Vielleicht hätte ich mich wenigstens richtig verabschieden wollen", schluchzte ich und drückte mich an seine schützende Schulter.
"Ich weiß, Katy, ich weiß", flüsterte er und streichelte mir über meinen Kopf, "alles wird gut. Deine Mutter hat dich in guter Erinnerung und du bist mit uns zusammen gewachsen und stärker geworden."
Langsam öffnete er die Tür weiter und löste sich von mir. "Du hast viel mit deinen Emotionen zu kämpfen, nicht wahr?" Er schenkte mir ein mitleidiges Lächeln und trocknete meine Tränen mit seinem Hemdärmel. Ich nickte nur und versuchte meine Traurigkeit herunterzuschlucken.
"Das wird bald wieder", murmelte er, "Das liegt bestimmt an dem ganzen Stress und den Veränderungen."
Ich sparte mir die Bemerkung, dass es ganz sicher auch an einer rothaarigen Schönheit nebenan lag.
"Komm, ruh' dich etwas aus", flüsterte Alex lächelnd und nickte zu meinem Bett.
Ich rieb meine wahrscheinlich ohnehin geröteten Augen und folgte seiner Empfehlung. Meine Energie war restlos aufgebraucht und mein Kopf drohte vor Gedanken zu explodieren.
"Nate hat schon mit mir gesprochen", sagte Alexander, als er die Decke über mich zog, "ich wusste nichts von Lilys Morden. Ich hätte euch nie dieser Gefahr ausgesetzte." Seine Worte klangen glaubwürdig. Vielleicht war es aber auch nur seine beruhigende Tonlage, die mich einlullte. "Halt dich lieber fern von ihr. Man kann ihr nicht trauen. Sie kann jeden manipulieren, wenn auch nicht auf die Art, wie man vermuten würde."
Ich nickte anteilnahmslos. Es war mir egal. Gerade war mir alles wieder egal.
Sekunden bevor ich in einen unruhigen Schlaf sank, spürte ich noch Alex warme Hände, die mir väterlich über die Haare strichen.
--------------------------
2013 - ???
Kaitlyn fuhr sich über ihr schütteres Haar, während sie sich in dem spärlichen Badezimmerspiegel begutachtete. Sie trug ein festliches Kleid, etwas altmodisch. Es stand ihr gut und doch konnte sie sich nicht erinnern, es angezogen zu haben.
Sie griff sich an den Kopf als ein scharfer Schmerz ihn durchzuckte. Das war sie seit ihrer Diagnose gewohnt und dennoch überrollte sie die Angst jedes Mal aufs Neue.
"Kaitlyn? Kommst du, Schätzchen?" Die Stimme ihrer Mutter hallte unangenehm in ihrem Kopf und als sie aufblickte, sah sie die Umrisse ihres Badezimmers nur noch verschwommen.
"Ja, Mama."
Es musste an ihren neuen Medikamenten liegen.
---------------------------
16.10.2036 Marienville, Pennsylvania
Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, war die Sonne bereits aufgegangen. Ich hatte lange nicht mehr so gut geschlafen, trotz verwirrender Träume. Ich streckte mich vorsichtig, doch sobald ich mich aufsetzte, kamen die Unsicherheiten zurück, sie prasselten wie Hagelkörner auf mich ein.
Seufzend nahm ich mir vor, mit Alice über meine Lage zu reden. Sie würde wissen, was zu tun war.
In denselben Klamotten wie gestern stapfte ich die Treppe herunter. In all dem Chaos hatte ich noch keinen Moment Ruhe gehabt, um das Haus näher anzusehen. Doch gerade als ich die untere Etage betrat, kam mir Nathan entgegen.
Blitzschnell senkte ich den Blick auf die Holzdielen und lief an ihm vorüber. Nur die Spitzen seiner schwarzen Schuhe tauchten in meinem Augenwinkel auf, als ich starr nach unten blickte. Beinahe kam ich mir lächerlich vor, doch ich konnte mich nicht zu einer Konfrontation überwinden.
"Kat, bitte", murmelte er leise, doch ich hatte keine Kraft, mit ihm zu reden. Ich passierte den Flur und bog rechts in die Küche ein. Beruhigt hörte ich, wie sich seine Schritte entfernten.
Die Küche war auch noch im Stil der frühen 2000er eingerichtet. Schnell schritt ich auf den Kühlschrank neben dem Fenster zu und riss die Tür auf. Etliche Blutkonserven wurden darin gekühlt - wie erwartet.
Glücklich griff ich mir eine Tüte A negativ und biss mit meinen Zähnen ein Loch hinein. Gierig ließ ich die erfrischende Flüssigkeit meinen Hals hinunterlaufen.
Sie vertrieb das Gefühl der Unsicherheit in mir sofort und ersetzte es durch ein angenehm kühles Gefühl von Ruhe.
Ich schlürfte den Blutbeutel wie ein Trinkpäckchen als ich mit einem seligen Lächeln das Haus verließ - zum Glück ohne weiteres Aufeinandertreffen mit Nate.
Stattdessen stieß ich kurz vor der Haustür auf Lily. Heute war tatsächlich mein Glückstag. Auf dieselbe Taktik wie bei Nathan bedacht, senkte ich den Blick und lief an ihr vorüber.
"Hey, Kat", rief sie mir nach, doch ich war nicht in der Stimmung zu reden. Ignorant öffnete ich die Tür und trat in die kühle Morgenluft hinaus.
Doch Lily war nicht Nate. Im Gegensatz zu ihm flitzte sie mir hinterher und drückte mich rücklings an die Hauswand, wobei ich ruckartig meine halbleere Blutkonserve fallenließ.
"Was soll das?", fauchte ich sie an. Meine Ausgeglichenheit wich sofort einer Wut, die mir bitter aufstieß. Ich wollte nicht aus der Fassung gebracht werden.
Wütend sah ich ihr in die Augen. Lily stemmte ihren Unterarm neben mir an die Wand und verkürzte den Abstand zwischen uns auf wenige Zentimeter. "Du kannst nicht so mit mir umspringen. Erst kämpfst du mit mir und jetzt ignorierst du mich?"
Ich blickte auf, direkt in ihre funkelnd roten Augen. Bevor ich mich in ihnen verlieren konnte, nahm ich meinen Mut zusammen und formulierte ruhig, aber deutlich meine Gedanken: "Lass mich in Ruhe."
Ich schlüpfte unter ihrem Arm hindurch und lief davon.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top