XVII - Hab' es dir gleich gesagt

14.10.2036 Marienville, Pennsylvania

Ich war vollends überwältigt. Meine Sicht verschwamm langsam und brennend, als ich achtlos über Wurzeln und Äste stapfte. Meine Gedanken überschlugen sich schmerzhaft in meinem Kopf, genauso wie mein Herz in meiner Brust. 

Ich habe meine Familie getötet.

Dieser Satz hallte ständig in meinem Kopf wider.

Ich war so naiv gewesen.
Ich hatte sie zu nah an uns herangelassen.
An mich herangelassen.

Ich hätte ahnen müssen, dass sie etwas gegen uns in der Hand hatte. 

In mir brannte Panik, dass sie auch vom Rest des Rituals erfahren haben könnte.
Dass sie nur darauf wartete, uns umzubringen.

Doch irgendetwas hielt mich davon ab, tatsächlich Angst vor ihr zu haben. Und das störte mich wohl am meisten.

Erschöpft ließ ich mich an einem Baumstamm fallen. Es war erstaunlich, wie solch ein emotionales Debakel einen unersterblichen Vampir mehr Kraft kosten konnte, als meilenweite Reisen oder erbitterte Kämpfe.

 Ich legte den Kopf in den Nacken, als die Tränen unaufhaltsam über meine Wange flossen und starrte die rauschenden Baumkronen hoch über mir an, während ich versuchte mich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen. Schatten tanzten hektisch neben mir auf der grünen Flur und das Zwitschern der Vögel klang, als würden sie mich auslachen.

"So blöd, so verdammt blöd", beschimpfte ich mich selber. Was hatte ich mir gedacht? Wir wollten sie opfern und ich saß verheult am Boden, weil sie es zu verhindern versucht hatte. Lächerlich. L-ä-c-h-e-r-l-i-c-h.

"Hey, Kat", flüsterte Nate neben mir. Er war mir gefolgt. Natürlich war er das. Sofort wendete ich mich ab. Ich wollte nicht, dass er mich so aufgelöst sah.

"Geh weg. Ich brauche keine Ich-habe-es-dir-gleich-gesagt-Rede", murmelte ich und schniefte kurz auf. Meine Augen waren sicherlich auch noch gerötet vom Weinen, sodass ich eindeutig kein Bild absoluter emotionaler Ausgeglichenheit abgab.

"Ich will dich nur trösten, Eisprinzessin", sagte er,während er sich neben mir niederließ, "Ich glaube, ich habe dich seit Jahren nicht mehr so weinen sehen." Ich blickte stur an ihm vorbei in den Wald hinein.
Er hatte recht, es war genau 12 Jahre her.

"Du willst nur deine Vorhersage feiern, die sich bewahrheitet hat", fauchte ich, als erneut einzelne Tränen meine Augen füllten.

Nathan zuckte mit den Schultern. "Was hast du denn erwartet, wie sie sich verhält?", fragte er kühl. „Wir können nur hoffen, dass sie nicht noch mehr weiß." 

Wie ermunternd er doch war.

Trotzig sah ich zu ihm auf. Mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen legte er einen Arm um mich und stützte sein Kinn auf meinem Kopf ab. Nates Berührung sandte ein angenehmes Kribbeln durch meinen gesamten Körper.

Dennoch war es nicht dasselbe Gefühl, das Lilys Berührungen in mir auslösten. 

"Verdammt, Lily", nuschelte ich frustriert.

"Ich versteh' dich", murmelte Nate leise, "Wenn bei Vampiren Emotionen hervordrängen, dann in nur schwer kontrollierbarer Stärke. Du hast schnell gelernt, hattest dich eigentlich immer gut im Griff. Aber bei Lily-"

"Sie hat wahrscheinlich gar keine Emotionen mehr", unterbrach ich ihn forsch. "Ja, okay. Wir leben ihr gegenüber eine Lüge und sie hat einen Haufen Arbeiter als Selbstschutz manipuliert. Aber ich dachte. . . Ich dachte, dass diese Nacht vielleicht-"

Ich war wirklich einfach nur lächerlich.

Ich brauchte meinen Satz nicht zu beenden. "Wird schon, alles gut", flüsterte Nate sanft, "ich pass' schon auf dich auf. Hab ich ja immer."

Nates Worte zauberten mir unweigerlich ein Lächeln ins Gesicht.

Plötzlich zog er meine Handgelenke zu sich und sah mich ernst an. "Du weißt, dass ich immer da sein werde, oder? Auch, wenn es zwischen uns nicht gut laufen mag."

Ich nickte. Vor meiner eigenen Dummheit würde er mich zwar auch nicht bewahren können, aber ich wusste, dass ich auf ihn vertrauen konnte. Immer.
"Wieso bist du so motiviert, mich zu beschützen?", hinterfragte ich zum ersten Mal seine Entschlossenheit.

"Es war ein Versprechen. Aber Kat, hör mal, es tut mir leid, wie das zwischen uns gelaufen ist. Auch die letzten Abende, einfach alles."

"Mir auch. Ich hätte mich nicht zu ihr rausschleichen dürfen." Ein plötzlicher Schwall an Schuldgefühlen überkam mich, der mir einen Schauer über den Rücken jagte.

"Weißt du, wie es Alice geht?", wechselte ich das Thema. 

"Nicht wirklich, du hast mich ja praktisch überfallen", schmunzelte Nate und ich schlug mir wieder die Hände vors Gesicht.

"Sorry", murmelte ich in meine Handfläche, "Aber Alice hat ihre Sache sehr gut gemacht, ohne sie hätte ich es bestimmt nicht geschafft."
Ich nahm mir fest vor, mich später unbedingt noch bei ihr zu bedanken - schließlich hatte ich sie bei unserer Ankunft einfach stehen gelassen, um zu Nate zu stürmen.

Schweigend umarmte dieser mich noch etwas länger und wir verloren uns in der idyllischen Umgebung. Ich hatte lange nicht mehr so eine schöne Natur gesehen oder wahrgenommen.
Die Sinne als Vampir waren für so etwas einfach zu abgestumpft, lediglich geschärft auf Beute und alle lebenden Wesen - was ich als sehr nachteilhaft empfand.

Mein bester Freund musterte mich mit einem besorgten Blick. "Du kannst dich in deinem Zimmer ausruhen, wenn du magst. Es ist im Dachgeschoss, gegenüber von meinem."

"Ich schau' später vorbei", antwortete ich nickend und stand auf, "aber ich muss erst noch . . . raus." 

Nate lächelte verständnisvoll, als ich ihm kurz zuwinkte und dann in Richtung des Waldes losstürmte.

Erst als ich nichts mehr hörte, außer das ruhige Plätschern einer Quelle, hielt ich an. Vor mir glitzerte der schönste See, den ich jemals erblickt hatte. Die umstehenden Bäum spiegelten sich in dem türkisblauen Wasser und aus einem Riss im Felsen zu meiner Linken floss das kleine Rinnsal, welches rhythmische Wellen über den See sandte. Ich betrat vorsichtig den hölzernen Steg, der direkt vor mir zum Wasser führte. Er war an den Stelzen völlig bemoost und auch auf den Planken etwas rutschig.

Ich ließ mich langsam nieder, die Füße nur kurz über der Wasseroberfläche. Ich spürte den Drang meine Stiefel von mir zu schleudern und das kühle Nass um meine schmerzenden Füße spülen zu lassen.

Doch ich riss mich zusammen. Schließlich musste ich eher früher als später zurück, um mit Alex zu reden - um ihm von Lilys Verrat zu erzählen.

Beim Gedanken daran zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Ich hatte geahnt, dass sie nicht auf unserer Seite spielen würde. Wieso auch? Doch jetzt mussten wir in Betracht ziehen, dass sie alles wissen könnte.
Und wir mussten uns selbst schützen.

Trotzdem setzte mir das Ganze mehr zu, als es sollte. Und das alles nur, weil ich mich nicht zurückhalten konnte, ihr bei der erstbesten Gelegenheit meine gesamte Vergangeneheit aufzutischen - und mich ihr an den Hals zu werfen.
Ich seufzte als ich mir der misslichen Lage bewusst wurde, in der ich mich verstrickt fand.

Mein Blick verfing sich in der Bewegung des Wassers vor mir. 

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28.03.2017 Dilley, Texas

Unruhig spielte Kaitlyn mit ihrem Lederarmband. Sie drehte das Holzplättchen zwischen ihren Fingern hin und her, ohne zu bemerken, dass Alia sich zu ihr gesellt hatte.

"Es ist nicht deine Schuld, Katy", wiederholte ihre Ziehmutter die Phrase, die ihr in den vergangenen Wochen ständig eingebläut wurde.

Kaitlyn hatte nicht mehr als ein unbeeindrucktes Schnauben für Alias Worte übrig. Sie ließ von ihrem Armband ab und wendete ihre Aufmerksamkeit wieder Sofias Grab zu. In den letzten Tagen hatte sie mindestens so viel Zeit wie Nathan hier verbracht.

"Kannst du sie nicht zurückholen?", flüsterte Kaitlyn mit brechender Stimme.

Alia zog sie vorsichtig in eine Umarmung. "Ich versuche es, Schatz. Seit wir aus Mexiko zurück sind. Ich weiß nicht, ob ihr Geist überhaupt in der Zwischenwelt ist und uns finden kann."

Kaitlyn schluchzte erneut. Sie wusste nicht, was mehr weh tat: der Gedanke, dass Sofia sie womöglich absichtlich nicht mehr sehen wollte oder der, dass ihre Freundin ganz alleine irgendwo auf der anderen Seite umherirrte.

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14.10.2036 Marienville, Pennsylvania

Ich war nicht sicher, wie lange ich unbewegt den kleinen Wellen zugesehen hatte, doch als ich mich aus meiner Starre riss, war es deutlich kühler und dunkler geworden.

Missmutig hievte ich mich auf und machte mich auf den Rückweg. Ich wusste genau, dass ich mit Alex reden musste, doch ich beschloss, mich erst etwas auszuruhen, als die Hütte wieder in meine Sicht kam.

Meine schmerzenden Füße begrüßten diese Idee genauso sehr wie mein qualmender Kopf. Ich wollte es gar nicht erst riskieren, Lily zu sehen und sprang mit Schwung direkt auf das Dach der Blockhütte.


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