XIV - Chicago
(TW: Emetophobie in diesem Absatz)
03.02.1916 Amay, Belgien
Dunkelheit umgab Kaitlyn. Dunkelheit und eisige Kälte.
"Hallo?" Ihre Stimme klang fremd und rau in ihrem Kopf. "Hallo?!"
Panisch versuchte sie sich zu bewegen, doch ihre Gliedmaßen waren mit Gurten festgezurrt, die bei jeder Bewegung unangenehm in ihr Fleisch schnitten.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Neben ihr waren weitere Liegen. Allesamt leer. Und blutverschmiert.
Kaitlyn schnappte erschrocken nach Luft. Erst jetzt bermerkte sie den Geruch.
Der verdammte Geruch nach verottendem Fleisch, nach abgestandener Luft, nach Erbrochenem.
"Oh Gott." Sie würgte einmal und übergab sich ruckartig neben ihre eigene Liege.
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14.10.2036 Gardenville, Ontario
"Da bist du ja", vernahm ich eine vertraute Stimme, als ich am nächsten Morgen das Wohnzimmer hinter Lily betrat. Ich hatte mich nur schwer aus dem Bett quälen können, nachdem mich die ganze Nacht Albträume geplagt hatten.
Ich atmete kurz tief durch und versuchte mich zu konzentrieren.
Mein Blick war voll und ganz auf Lilys blasse Schultern fixiert, die dank des schwarzen Tops freilagen. Ihre Muskeln warfen leichte Schatten auf ihrer Haut, als sie den Arm hob, um sich an die Wand zu stützen. Aus mir nicht erfindlichen Gründen quoll schon wieder dieses kribbelnde Gefühl in meiner Brust auf und ich musste gegen den Drang ankämpfen, meine Finger über diese Schattierungen ihrer Haut streifen zu lassen.
Ich hatte die letzte Nacht immer noch nicht verarbeitet und in meinem Kopf stritten die Gefühle von Reue mit denen von Verlangen. Hauptsächlich dominierte jedoch der Unglaube.
Oh man. Ich war nicht zu fassen.
"Kat?" Erst jetzt realisierte ich, wer mich soeben begrüßt hatte. Meine beste Freundin stand aufrecht an die Wand gelehnt und lud mich grinsend zu einer Umarmung ein. Ungläubig blickte ich sie an, unsicher, ob ich womöglich zu halluzinieren begann.
"Kommst du auch zu mir, oder-" Ohne zu zögern, flitzte ich an Lily vorbei auf sie zu und warf ich mich in ihre Arme.
"Wie geht es dir?", flüsterte ich an ihr Ohr. Ein vertrautes Gefühl machte sich in mir breit, als ich den Duft ihres Kirschshampoos einatmete. Ich verstand nicht ganz, wie sie immer noch danach riechen konnte, in Anbetracht der Tatsache, dass sie nun zwei Tage im Bett einer älteren Dame verbracht hatte. Doch im Moment war es mir völlig egal, ob Alice nach Kirsche oder alter Frau roch - sie war wieder wohl auf.
"Ich bin okay! Die nette Frau hat mich buchstäblich gerettet", sagte sie und löste sich aus der Umarmung, „und Finn natürlich auch." Sicherheitshalber unterzog ich sie dennoch einer ausgiebigen Betrachtung: das kurze schwarze Haar fiel in glänzenden Locken wie immer, ihre war Haltung aufrecht, die Brust selbstbewusst rausgestreckt und die Hände in die Hüften gestemmt. Die Alice, wie ich sie kannte.
Meine beste Freundin strahlte mich an. Immer noch perplex blieb ich neben ihr stehen, ihre Hand fest umklammert.
"Also", ergriff Nathan jetzt ungeduldig das Wort, "wir müssen jetzt wirklich los. Wir werden uns aufteilen. Ich und Finn fahren zu Alex vor. Ihr beide kümmert euch um Chicago."
Erst jetzt bemerkte ich, dass er die ganze Zeit auf dem Sofa gesessen hatte. "Wir nehmen sie mit", sagte er zu Finn gewandt und nickte mit dem Kopf zu Lily, die daraufhin nur ein belustigtes Schnauben von sich gab. Kurz hatte ich auch ihre Anwesenheit vergessen, doch sobald mein Blick wieder auf ihren traf, wurde mir heiß im Gesicht. Sie hob schmunzelnd eine Augenbraue, während sie sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht pustete, die sich unablässig über ihren hohen Wangenknochen kräuselte.
Schweigend stand Nate auf und lief zur Tür ohne mich eines Blickes zu würdigen. Die anderen beiden folgte ihm wortlos. Wahrscheinlich war er immer noch nicht ganz über seinen Genickbruch hinweg gekommen. Das würde zumindest seine überaus kühle Laune erklären.
Ich drehte mich wieder zu Alice und drückte kurz ihre Hand. „Fühlst du dich sicher gut genug dafür? Wir können auch tauschen und ich gehe mit Nate nach Chicago!"
"Quatsch. Ich bin ja wieder vollständig geheilt, also ist alles gut. Versprochen." Sie hob zwei Finger zu einem Schwur. „Ich werde mich noch kurz bei der Dame bedanken und - und unsere Spuren verwischen. Dann können wir direkt los", meinte Alice, als sie ihre Hand aus meiner löste und deutete mit dem Kopf auf die Küche.
Langsam machte sich Freude in mir breit. Endlich würde ich wieder jagen gehen, zusammen mit meiner besten Freundin. Auch, wenn wir keine Menschen anzapfen würden, sondern sie nur auf langweilig Art kollektiv töten - so war ich dennoch ein klein wenig aufgeregt.
"Steig ins Auto", forderte Nathan knapp, als ich schließlich vor die Tür trat. Doch anstatt den anderen beiden zu folgen, blieb ich stehen und hielt ihn am Arm fest. Seine Muskeln spannten unter seinem weißen Longsleeve.
"Alles okay bei dir?", murmelte ich leise und versuchte in dem tiefen Blau seiner Augen eine Emotion zu erahnen. Er schien jedoch geradewegs durch mich durchzublicken.
"Passt schon. Steig einfach ein."
"Was ist los?", fragte ich noch einmal nachdrücklicher. Er antwortete mir sonst nie so knapp. Ein ungutes Gefühl der Vorahnung breitete sich in mir aus.
"Es ist alles gut", erwiderte er nur knapp, machte seinen Arm los und bedeutete mir erneut ins Auto zusteigen.
"Nate, ich kenne dich doch. Was ist denn so schlimm?", flüsterte ich in der Hoffnung, dass er mir endlich sein Problem verraten würde.
"Mein Gott", zischte er, "Vielleicht solltest du nächstes Mal leiser mit unserer Gefangenen rummachen! Damit ich meine Nacht ungestört auf dem Sofa verbringen kann."
Oh, verdammt.
"Wieso bist du wütend?", fauchte ich impulsiv zurück, "Das ist mein Leben und meine Entscheidung!" Ich wusste zwar selber, dass ich es mit Lily verbockt hatte und alles nur komplizierter machte, aber ich würde mich von ihm nicht kleinmachen lassen.
Emanzipation, murmelte ich ein Mantra in Gedanken, um mich nicht von seiner, durchaus dominanten, Präsenz einschüchtern zu lassen.
Nathan funkelte mich an. "Darum geht - . . . Ach, lass es jetzt einfach sein, Kaitlyn. Du weißt nicht, worauf du dich eingelassen hast."
"Alles okay bei euch?" Alice war aus der Tür getreten und stand hinter uns. Wortlos wandte Nathan sich ab und lief zu Fahrerseite des Autos.
"Steigt endlich ein. Wir nehmen euch ein Stück mit."
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Die Verabschiedung war genauso kühl wie unsere knappen Gespräche, als Nathan uns in der Nähe von Pittsburgh rausließ.
Wütend schlug ich die Autotür zu - gerade stark genug, um keine Delle zu hinterlassen, das wollte ich meinem Auto nicht antun. Lily warf mir durch das Fenster einen letzten vielsagenden Blick zu und grinste süffisant. Nathan trat aufs Gaspedal und brauste in meinem schwarzen Tesla davon, woraufhin ich und Alice am Seitenstreifen zurückgelassen wurden.
"Was ist los bei euch, Kat?", fragte Alice mich mit bohrendem Blick, während ich mir die Haare hinters Ohr stricht - um Fassung bemüht.
Wie sollte ich das denn erklären?
Ich schnaufte nur und begann loszulaufen, in der Hoffnung, dass mein Orientierungssinn mich nicht im Stich lassen würde. Ich hatte die letzte halbe Stunde mit geschlossenen Augen verbracht, da mich Nathans bohrende Blicke im Rückspiegel genauso verrückt gemacht hatten, wie Lily ringbesetzte Finger, die sie ständig an ihrer Hose auf und ab hatte wandern lassen. Es waren durchaus attraktive Finger.
Verdammt.
Beim Gedanken, wo diese Finger gestern Nacht waren, stieg mir eine Hitze ins Gesicht und ich bemühte mich, meine Konzentration endlich auf unsere Umgebung zu lenken.
Ich stapfte vorwärts, quer über den Grünstreifen in Richtung Stadt.
"Hey, was soll das?! Da liege ich tagelang ausgeknockt herum und du bringst mich nicht auf den neusten Stand?", fragte Alice vorwurfsvoll und holte auf.
"Wir reden beim Flitzen", meinte ich knapp und rannte los. Ich lehnte mich gegen den Wind, meine Füße trugen mich wie von selbst durch die Stadt.
"Du erinnerst dich doch noch an Lily", rief ich leicht ironisch gegen den Wind an, in der Hoffnung, dass Alice mich mit ihrem Vampirgehör verstehen konnte. Wobei es wahrscheinlich von Vorteil wäre, wenn sie das eine oder andere Detail überhören würde.
"Du meinst die Frau, die mich mit Holzpfählen an den Stuhl geheftet hat? Ja, ich erinnere mich", vernahm ich den sarkastischen Klang ihrer Stimme an meinem Ohr. "Wieso sitzt sie eigentlich ohne Fesseln in unserem Auto? Ohne irgendwelche Vorkehrungen? Und wieso kann sie überhaupt bei uns sitzen, ohne, dass sie einen von euch töten will?
"Ja, also - ", begann ich, "ich habe sie geküsst."
Sehr gut, Kaitlyn. Direkt mit der Tür in Haus.
Schlagartig bremste ich im Industriegebiets von Ford City ab. Wir waren am Ziel angekommen.
"Du hast was?!", überschlug sich die Stimme meiner besten Freundin. Sie stoppte neben mir und drehte mich an der Schulter zu sich. In ihrem Blick lag Unglaube und Skepsis, doch die Neugier funkelte am deutlichsten in ihren blauen Augen.
"Ja. Ist einfach passiert", murmelte ich und sah mich um. Es war praktisch eine riesige Baustelle, umrandet von einzelnen Fabrikhallen. Ich erkannte die Arbeiter sofort: breite Männer, die in klischeehaften Latzhosen ihrer Raucherpause nachgingen. Es waren mehr, als wir brauchen würden.
"Wie kann so etwas einfach passieren?", schnaubte Alice. "Kat, sie hätte mich fast umgebracht."
"Hat sie aber nicht", gab ich nun passiv-aggressiv zurück. War ich wirklich an dem Punkt angekommen, an dem ich mich verpflichtet fühlte, sie zu verteidigen?
Sie schüttelte nur empört den Kopf. "Nur ein Kuss? Oder noch mehr?"
Ich betrachtete schweigend den Asphaltboden. Einige Risse überzogen den grauen Untergrund, Sandkörnchen ließen auf die Bauarbeiten in der Nähe schließen.
"Das kann nicht dein Ernst sein", zischte Alice und drehte sich weg, ihre Locken umwirbelten ihren Hals. Sie legte den Kopf in den Nacken und schien Stoßgebete auszusenden.
"Ich wollte das gar nicht, Alice. Also schon, aber auch nicht. Du weißt ja selber, was für Glück ich in jeglicher Art Beziehung habe - und wie es das letzte Mal ausgegangen ist. Das kann und will ich nicht nochmal!"
Alice schien zu verzweifeln. Sie massierte ihre Schläfen und nahm tiefe Atemzüge. Konnten Vampire Herzinfarkte erleiden?
"Okay. Weil ich eine wunderbare Freundin bin und wir andere Probleme haben, sehe ich darüber hinweg, dass du mir das verschwiegen hast. Ich meine..." Ein Grinsen stahl sich auf ihre Lippen. „Lily sieht ja auch durchaus gut aus."
"Alice!", rügte ich sie, "Bestärke mich doch nicht in meiner Fehlentscheidung. Du musst mir sagen, dass das alles furchtbar dumm und unüberlegt war!" Von ihr konnte niemand eine Moralpredigt erwarten. Manchmal fragte ich mich, wieso ich dennoch immer wieder bei ihr Rat suchte und wie sie mit ihren fragwürdig wilden Ansichten zu meiner besten Freundin geworden war. Gegensätze zogen sich wohl doch an.
Sie zuckte nur kurz mit den Schultern. "Trotzdem will sie uns tot sehen. Ich hoffe nur, dass du nicht vorhast, noch einmal auf Lily hereinzufallen. Womöglich ermordet sie dich beim nächsten Mal", warnte sie mich, die Stirn noch immer in Falten gelegt.
"Danke." Obwohl ihre Worte ein seltsames Gefühl in meiner Magengegend hinterließen, wusste ich, dass das die einzige richtige Handlung sein würde - distanzieren und fernhalten.
"Sie ist eine mordende Killerbraut. Ich rate dir dringend, die Finger von ihr zu lassen", meinte Alice. "Auch, wenn ich weiß, dass du das nicht kannst", setzte sie beim Anblick meines Ausdrucks hinther.
"Lass uns das Opfer erledigen, okay?", murmelte ich matt. Dieses ständige Nachdenken über Lily raubte mir die Energie, von der ich sonst so viel hatte.
"Klar. Holen wir uns die verschwitzen Männer."
Auf Lilys Idee hin hatten wir beschlossen, einfache Arbeiter von dem Industriegelände in eine der Hallen zu führen und für ein Gasleck zu sorgen. Der Klassiker.
"Wir reden später nochmal über alles", versprach ich und verdrängte Lily weit aus meinen Gedanken. Ebenso wie mein Verstand und mein Gewissen.
Alice nickte und flitzte in eine Richtung los. Ich drehte mich mit dem Rücken zu ihr und lief zur anderen Seite.
Zwei Arbeiter saßen auf der Bank vor dem Baggerloch und schienen eine Pause zu machen. Beide waren breit gebaut und trugen beschmutzte graue Shirts unter ihren Latzhosen.
"Hallo, schönes Mädchen", brummte mir einer von ihnen entgegen, als ich mich vor die beiden hinhockte. Penetranter Geruch nach Schweiß stieg mir in die Nase und ich musste mich zusammenreißen, nicht das Gesicht zu verziehen.
Abwechseln fokussierte ich ihre Augen, während ich sie klar und deutlich beeinflusste: "Kommt mit. Geht in dieses Gebäude", ich deutete auf unser gewähltes Lagerhaus hinter mich, "und stellt keine Fragen. Bleibt dort, bis ich wieder zu euch komme." Mein Einfluss wirkte sofort, und das individuelle Leuchten ihrer Augen verschwand.
Ein knappes, emotionsloses Nicken folgte. Dann standen sie auf und führten meinen Befehl aus.
Diesmal verschwendete ich keinerlei Gedanken an den Wert ihrer Leben oder ihre Familien. Es war mir schlichtweg egal. Sie dienten einem Zweck. Meinem Zweck.
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