XII - Kämpf oder stirb
13.10.2036 Gardenville, Ontario
"Wir müssen noch einen Tag hierbleiben", sagte Nathan, als sich am nächsten Morgen alle im Wohnzimmer eingefunden haben. Alle umfasste hierbei wieder nur mich und Lily.
Die Urvampirin schnaubte genervt und auch ich sah ihn fragend an.
"Die Dame hat herausgefunden, wieso es Alice weiterhin schlecht geht", begann er zu erklären, "sie konnte eine Schwellung in einer ihrer Adern erkennen."
Was? Wie...
„Sie war eine Krankenschwester", ergänzte Nate auf meinen erstaunten Blick hin.
Ich war dennoch nicht weniger verwirrt. Vampire konnten ja wohl kaum an Thrombose erkranken, oder? "Also ein Fremdkörper", beantwortete ich mir nun meine Frage selbst.
Nathan nickte. "Holzsplitter, um genau zu sein." Er warf Lily einen giftigen Blick zu. Diese lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und erwiderte seinen Blick unbeeindruckt.
"Finn kümmert sich darum, sie herauszuholen. Es wird hoffentlich nicht allzu lange dauern, aber es wird sicher nicht angenehm werden. Alice wird ausgelaugt sein, sie braucht diese Zeit." Er sah mich bittend an.
Ich nickte sofort. Meine beste Freundin war mir wesentlich mehr wert, als das Serum.
"Heute ist also Freizeit angesagt?", fragte Lily mit der Stimmlage eines kleinen Kindes im Spielwarenladen und stieß sich von der Wand ab.
Nathan lächelte sie falsch an. "Du gehst nirgendwo allein hin. Denk' gar nicht erst daran."
"Aber die Nachbarin sah so lecker aus." Lily bleckte provokant ihre Zähne.
Ich rollte mit den Augen. "Das passt schon, Nate. Wir können gleich etwas zu essen besorgen. Ich passe auf."
Hilfe, woher war denn die Idee aufeinmal gekommen?
Mein Sprachzentrum schien sich von meinem Verstand getrennt zu haben.
Allerdings hatte ich tatsächlich etwas Hunger und der Plan, ein paar Menschen auszusaugen, klang ziemlich verlockend.
"Nicht zu lange", murmelte Nathan abwesend, "ich möchte dann noch trainieren. Mit dir."
Ein weiterer misstrauischer Blick zu Lily machte mir schnell klar, dass es ein Urvampir-Präventions-Training werden würde. Etwas genervt über seinen permanenten Beschützerinstinkt nickte ich und wandte mich zum Gehen.
Ich warf meine Haare über die Schulter und trat zur Tür hinaus.
Bereits nach wenigen Schritten aus der Tür bemerkte ich Lilys rote Locken aus dem Augenwinkel. "Bist du nicht etwas auffällig? So, als Urvampirin, die sich verstecken muss?"
Sie stieß amüsiert Luft aus. "Vielleicht möchte ich auch entdeckt werden. Es ist nicht so, als könnte ich nicht kämpfen."
Das zweifelte ich nicht an und wollte es auch nicht näher herausfinden.
"Es ist auch nicht so, als könnte ich dir nicht einfach das Herz herausreißen, Kätzchen", setzte sie belustigt hinterher.
Ich schnaubte wütend. Diese Ich-bin-viel-stärker-als-du-Mache ging mir völlig auf die Nerven.
"Dann tu es doch einfach und prahl' nicht immer nur um", fauchte ich sie an.
Schlagartig spürte ich ihre Hand an meinem Rückgrat, ihre Fingernägel drückten sich unangenehm in die oberen Schichten meiner Haut und ich schloss panisch die Augen.
Würde ich wirklich mitten auf der Straße irgendwo im Nirgendwo sterben, weil ich zu frech gewesen war? Sofort sank mein soeben gewonnenes Selbstbewusstsein in sich zusammen.
Bevor ich mir jedoch Gedanken über mein ungeschriebenes Testament machen konnte, ließ Lily von mir ab.
Sie überquerte schnellen Fußes die sowieso unbefahrene Straße und klingelte am Haus gegenüber, das praktisch ein Ebenbild von unserem momentanen Domizil war.
Ich folgte ihr, während ich mich streckte, in der Hoffnung, das unangenehme Gefühl im Rücken loszuwerden.
"Was ist mit dir und Nathan?", fragte Lily, als sie in aller Ruhe durch den Vorgarten spazierte, der so trocken und staubig war, dass er einer Wüste Konkurrenz machen konnte.
"Was soll da sein?", stellte ich mich unwissend, während sie klingelte, und versuchte sofort jeden Gedanken an Sofia zu verdrängen, der in mir aufkeimen wollte. Für einen kurzen Moment drehte die Rothaarige sich um und hob fragend eine Augenbraue. Ihr schiefes Grinsen verriet, dass sie sicherlich genau wusste, was los war. Hatte sie uns belauscht?
Eine Dame mittleren Alters öffnete lächelnd die Tür. Ohne ein weiteres Wort griff Lily sie aus dem Türrahmen und zog sie im Schwitzkasten vor sich. Das erinnerte mich daran, wie Nate mich in der Upper East Side gegriffen hatte.
Seit unserer Reise hatte ich weder Blut gesaugt, noch sonderlich viel rebelliert. Womöglich nahm man sich zurück, wenn man sich ständig neben einer mordwütigen Urvampirin befand.
Beim Anblick von eben deren Reißzähnen in der Pulsader der schockierten Frau, wurde auch ich wieder hungrig. Ich hatte meine Opfer immer mit spürbarer Angst genossen, aber wenn ich die Situation von außen betrachtete, wirkte sie einfach nur brutal und emotionslos. Wie man eben als Vampir sein sollte.
Es dauerte keine 10 Sekunden, bis die Frau blass und leblos zu ihren Füßen zu Boden sackte, sie hatte es nicht geschafft zu schreien. Ich sah in Lilys blutunterlaufene Augen, ein Rinnsal von der roten Flüssigkeit lief ihr Kinn hinunter.
Mein Herz begann heftig zu schlagen, gemeinsam mit einem Kloß, der sich in meinem Hals bildete. Mein Gehirn stritt heftig zwischen den Optionen flüchten oder zu ihr gehen.
Der Durst gewann. Langsam ging ich auf sie zu und bückte mich zu der Frau, die praktisch blutleer war, um ihr auch noch die letzten Milliliter zu entnehmen. Das Blut benetzte meine Lippen und lief warm meinen Hals hinunter. Es fühlte sich an, als würde ich pure Energie trinken. Lily blickte auf mich herab und leckte sich gierig das Blut von den Lippen.
Ich löste mich von der Frau, gewillt nach mehr. "Denkst du, da drinnen ist noch jemand?"
Sie zuckte mit den Schultern und grinste. "Du bist ja doch gar nicht so brav."
Wenn sie wüsste.
"Du weißt ja auch gar nichts über mich", gab ich knapp zurück und richtete mich auf.
Sie hob eine Augenbraue.
"Doch, schon. Dein Körper spricht, Kätzchen. Deine Pupillen weiten sich, wenn du etwas betrachtest, das du willst. Wie gerade, als du die Frau angesehen hast. Du kaust auf deinen Lippen herum, wenn du nachdenkst. Und du streichst deine Haare hinter dein Ohr, wenn du mit mir redest", setzte sie grinsend hinterher, als ich in eben dieser Bewegung innehielt.
Das war gruselig - und mir vorher nie aufgefallen.
"Warst du früher Psychologin oder sowas?", fragte ich erzürnt. Ich wollte nicht, dass sie soviel in mir lesen konnte, während ich nicht das Geringste über sie in Erfahrung hatte bringen können.
Lily schüttelte den Kopf. "Die Übung jahrelangen schweigsamen Herumsitzens." Ihr Blick schweifte ab und ermattete.
Ich beschloss das Thema nach gestern Nacht nicht erneut anzureißen. Womöglich hatte ich auch einfach Angst, sie verstehen zu können. Ich wollte einfach weiterhin Angst und Wut ihr gegenüber spüren. Das wäre auch für das Ritual leichter.
Wobei, spürte ich diese Gefühle überhaupt noch?
"Ich denke nicht, dass jemand da ist", beantwortete sie meine anfangs gestellte Frage, "ich höre nichts."
Ich nickte gedankenversunken und machte mich ans Umkehren. Ich brauchte Abstand.
"Ich geh mir noch etwas mehr holen", rief sie mir hinterher, was ich ohne Reaktion annahm.
"Du musst schneller reagieren", meckerte Nathan mich an. Er stand über mir und reichte seine Hand, um mir beim Aufstehen zu helfen. Er hatte mich nun dutzende Male niedergerungen, meine Schulter war bereits zwei Mal aus dem Gelenk gesprungen.
War er wütend auf mich oder ich einfach nur schwach?
Wir standen auf der großen Rasenfläche vor dem Landhaus und übten das Kämpfen. In regelmäßigen Abständen konnte man ein gequältes Schreien aus der oberen Etage des Hauses wahrnehmen. Finn hatte schnell bemerkt, dass mehrere Splitter in Alice Blutbahn wanderten und völlige Ruhe zur Arbeit gefordert. Es wunderte mich wenig, dass er als ehemaliger Feldarzt diese Arbeit übernehmen wollte. Und trotzdem störte ich mich daran, dass ich meiner besten Freundin nicht selbst helfen konnte.
"Hierauf konzentrieren, Eisprinzessin." Nathan deutete auf sich. Er kam zu mir hinüber und nahm mich vorsichtig in den Schwitzkasten.
"Schau her. In dieser Position musst du reagieren, bevor ich zudrücken kann und mich vorne über werfen. Dafür hast du diese schnellen Reflexe schließlich."
Ich nickte kurz. "Nochmal." Nate lief zu seiner Ausgangsposition zurück.
Er flitzte zu meiner linken Seite, dann um mich herum zu meiner rechten. Ich konnte seine Bewegungen fühlen ohne ihm hinterher zu blicken. Dafür war er ohnehin zu schnell. Gekonnt bückte ich mich unter seiner Faust hindurch, als er vor mir zum Stehen kam und in die Offensive ging.
Ein schneller Hieb in seine Rippen ließ ihn kurz zurücktaumeln. Geblendet von dem minimalen Erfolg vergaß ich, gebückt zu bleiben und richtete mich für einen winzigen Moment auf. Ein Moment, in dem er hinter mich flitzte und mich wieder in den Schitzkasten nahm. Noch bevor ich mich vorne über beugen konnte, um ihn wie besprochen zu werfen, drückte er mir seinen Finger in den Rücken, wo vorhin Lilys gewesen waren.
Reflexartig ging ich ins Hohlkreuz, was er nutzte, um mich rücklings über seine Schulter zu katapultieren.
Die Luft wurde aus meinen Lungen gedrückt, als ich hart bäuchlings auf der Wiese aufkam.
Was für ein Misserfolg.
"Bravo!" Gedämpft vernahm ich Applaus gemeinsam mit Lilys Stimme. Sie lehnte an der Terrassentür, die Beine überkreuzt und klatschte sarkastisch Beifall.
Während ich mich auf den Rücken drehte und um Atem rang, forderte Nate Lily zum Kampf auf: "Versuch' du doch mal dein Glück."
Ob er sich das so gut überlegt hatte?
Lilys Lachen nach zu urteilen, wahrscheinlich nicht.
Ich richtete mich auf und sah im Gras perplex der Szenerie zu, während ich mir den schmerzenden Rücken hielt und um Atem rang.
Nate flitzte um Lily herum, die sich ebenso wenig bewegte, wie ich vorhin. Diesmal stürzte er sich von der Seite auf sie zu, um ihr einen Seitenhieb zu verpassen, dem Lily natürlich gekonnt auswich. Sie war in weniger als einem Wimpernschlag hinter ihn geflitzt und nahm ihn in den Schwitzkasten. Die Urvampirin hatte sichtlich mehr Kraft, aber schien aus Fairness die Hand im Rücken wegzulassen. Somit ließ sie Nate die Chance sich mit ihr vorne über zu beugen.
Doch anstatt auf dem Rücken aufzukommen, zog sie ihre Beine an und landete in der Hocke, sodass Nathan nun aus einfachen Hebelgesetzen über ihre Schulter flog.
Noch in der Bewegung hörte man einen krachenden Knochenbruch. Sie löste ihren Arm von seinem Hals. Genickbruch.
Ich starrte sie perplex an. Dann sprang ich auf und stürzte zu Nate, der sich nicht mehr regte. Er lag blass am Boden, es würde einige Minuten dauern, bis er wieder zu uns zurückkehren könnte.
"War das nötig?", fuhr ich Lily an.
Sie lächelte kühl auf mich hinab. "Er wollte es so." Sie schien ihren Erfolg zu sehr zu genießen, doch selbst ich konnte ein Fünkchen Bewunderung für ihre Kampftechnik nicht unterdrücken.
Schnell besann ich mich, schüttelte genervt den Kopf und streichelte sanft durch Nates schwarzen Locken, die in seine Augen hingen. „Scheiße, Lily. Was soll der Mist?"
"Wo hat er die Narbe her?", überging sie meine Frage mit einem Nicken auf sein Gesicht.
"Straßenkampf. Holzspitze mit irgendeiner Tinktur getränkt. Wahrscheinlich Lebenskraut, wie wir mittlerweile wissen."
Lily schüttelte resigniert den Kopf. "Hätte nicht gedacht, dass er sich in seiner Freizeit geprügelt hat."
"Wir hatten schon immer einige Konflikte mit fremden Clans." Ich schluckte hart.
Bevor ich allerdings tiefer in Gedanken versinken konnte, klatschte Lily in die Hände.
"Komm her", forderte sie mich dann auf und streckte mir ihre Hand entgegen.
Ich ignorierte sie und stand auf, um eine Blutkonserve für Nate aus dem Kühlschrank zu holen. Sie lachte kopfschüttelnd.
"Pass auf." Plötzlich stand sie hinter mir und hatte dieselbe Schwitzkastenposition angewendet, wie Nathan vorher.
Sie war gar nicht so stark, wie erwartet.
Als könnte die Vampirin wieder meine Gedanken lesen, drückte sie für einen kurzen Moment zu. Ein Moment, in dem ich dachte, sie würde ganz einfach in dieser Position mein Genick brechen. Mit einer Hand.
"Das ist nur ein geringer Kraftaufwand, Kätzchen", flüsterte sie dann in mein Ohr und lockerte den Griff wieder.
Ihr Duft stieg mir langsam in die Nase und begann mir das Gefühl angenehmer Benebelung zu geben. Wie damals im Club. Ich schüttelte den Gedanken ab.
"Schau, wenn du zu langsam bist und er seine Hand in deinem Rücken hat", Lily nahm dieselbe Position ein, "dann nutze dein Hohlkreuz aus. Hol mit deinem Bein aus und tritt zu. Im besten Fall direkt aufs Knie. Solltest du aber nur im richtigen Kampf machen, wenn das zersplitter, tut es wirklich kurz weh", erklärte sie mir.
Ich nickte gehorsam und ahmte die Bewegung langsam nach.
"Hast du gesehen, wie ich mich vorhin im Fall gedreht habe, als er mich übergeworfen hat?"
Wieder nickte ich.
"Ich denke zwar nicht, dass du das einfach so hinkriegst, aber vielleicht hast du Zeit es irgendwann zu lernen", flüsterte die Rothaarige, ein Hauch Überheblichkeit schwang wieder in ihrer Stimme mit.
Ich verdrehte die Augen und befreite mich aus ihrem lockeren Griff, um sie ansehen zu können.
Unerwartet legte sie nun von vorne ihre Hände an meinen Hals und übte leichten Druck aus.
"Was jetzt, Kat?", fragte sie mit einem Funkeln in den Augen. Sofort begann mein Herz schneller zu schlagen.
Rasch machte ich mich daran, mich zu befreien.
Die Arme zwischen ihren durchschieben und spreizen, damit sich ihr Griff lockerte - so hatte es Alex uns beigebracht. Wahrscheinlich war diese Anwendung nicht für Urvampire gedacht, denn umso mehr ich gegen Lilys Unterarme drückte, umso stärker wurde der Druck an meinem Hals. Ihre Arme bewegten sich kein Stück. Ich versuchte gar nicht erst einen Handkantenschlag, da der wahrscheinlich noch weniger Effekt haben würde.
Sie lockerte ihren Griff. "Beine, Kätzchen. Deine Beine kannst du immer benutzen."
Ich streckte mein Bein lang und trat sie mit voller Wucht in den Oberschenkel. Sie musste unendlich stabile Knochen haben. Zwar ließ sie nicht los, aber taumelte ein Stück rückwärts, was ihre Hände für einen kurzen Moment lockerte.
Nun griff ich blitzschnell dazwischen und spreizte sie, wie ich es bei Alex gelernt hatte. Tatsächlich konnte ich mich aus ihrem Griff befreien.
Lily lächelte. "Sehr gut", etwas Stolz schwang in ihrer Stimme mit.
Vielleicht solltest du nicht an mir üben, weil ich aus natürlichen Gegebenheiten stärker bin", sagte sie ohne Hohn, "aber wenn dein kleiner Freund wieder aufwacht, dann nutz' das an ihm."
Sie schenkte mir ein letztes Zwinkern und wandte sich wieder ab.
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