XI - Nächtliche Begegnung

12.10.2036 Gardenville, Ontario

"Schon wieder nachts draußen unterwegs?"

Beim Klang von Lilys Stimme zuckte ich erneut zusammen und verfluchte mich dafür. Meine Schultern hoben und senkten sich zusammen mit dem tiefen Atemzug, den ich nahm, um irgendwie meine Fassung zu bewahren. Und meine Angst im Zaum zu halten.

"Verfolgst du mich?", fragte ich entnervt und drehte mich zu ihr um.

Lily schenkte mir ein belustigtes Schmunzeln. Sie saß an einem kleinen Tisch und begutachtete mich eindringlich.

"Ich war zuerst hier, Kätzchen." Murrend musste ich einsehen, dass sie recht hatte. "Setz dich", fügte sie hinterher. Es war weniger ein Angebot, als ein Befehl.

Geschlagen setzte ich mich ihr gegenüber auf den hölzernen Gartenstuhl und blickte in die endlose Weite. Außer Feldern war weit und breit nichts unter dem klaren Abendhimmel zu sehen. Es sah idyllisch aus und löste ein melancholisches Gefühl von Ruhe in mir aus.

"Fehlt sie dir?", fragte Lily aus dem Nichts. Wusste sie von Sofia? Ich zog die Augenbrauen zusammen und blickte sie in der Dämmerung an. Zwischen ihren filigranen Fingern steckte eine glühende Zigarette.

"Deine Familie", ergänzte sie ihre Frage nun.

Wo kam das denn auf einmal her?

Ich zuckte mit den Schultern. Vermisste ich meine Mom? Für sie war ich vor über zwanzig Jahren gestorben. In der Zeit waren die Collins meine Familie geworden.

"Nicht wirklich, über die Zeit lässt es nach."

Lily aschte resigniert ab. "Wie waren sie so?"

"War. Einzahl", korrigierte ich sie, "Mein Vater ist abgehauen und hat meine Mom sitzenlassen." Ich konnte die tiefe Abneigung in meiner Stimme nicht verbergen. "Ein krankes Kind war wohl zu viel für ihn."

Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt mit der Urvampirin über meine Lebensgeschichte zu plaudern. Ich musste mich wirklich besser in den Griff bekommen.

Dringend.

Ich fummelte in meiner Blusentasche nach einem Chip. Klein und silbern funkelte er in der Dämmerung. Er war DNA-maßgeschneidert, um möglichst effektive und ungefährliche Highs zu erzeugen - so ersetzte er menschliche Drogen. Früher hatten sie mir damit meine Schmerzen während der Chemotherapie genommen. Ich trug ihn mit mir herum, seit ich verwandelt wurde, ohne zu wissen, warum.

"Also willst du wohl nicht wieder zurück zu ihr, wenn du das Serum genommen hast?", überrumpelte Lily mich auf einmal. Ich ließ den Chip zurück in die Tasche fallen. Wo hatte sie diese Information denn jetzt aufgeschnappt? Und viel wichtiger; wusste sie von dem Ritual?

"Ich- Keine Ahnung. Das war immer mein Plan, aber jetzt ist es fast zwanzig Jahre her. Meine Mutter würde wahrscheinlich einen Herzinfarkt erleiden." Ich zog meine Stirn kraus und legte meine Beine über die Armlehne des Stuhls. "Ich will es für mich nehmen", sagte ich und hoffte inständig, dass Lily keine Ahnung von dem Ablauf des Rituals hatte.

Sie legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch ihrer Zigarette aus. Die kleinen grauen Rauchschwaden streiften sanft über ihre rissigen Lippen bevor sie sich in der Dunkelheit verloren.

"Warum?", fragte sie dann mit belegter Stimme.

"Was soll das Rumgefrage?", fauchte ich und bereute meinen Ton sogleich ängstlich. Womöglich fühlte ich mich auch nur von ihrer Frage auf den Schlips getreten.

Die Urvampirin legte den Kopf schief, nicht in der Absicht mir zu antworten, und blickte mich neugierig an. Rote Augen wanderten an mir auf und ab, keine Emotion in ihren Augen erkennbar. Lily lächelte jedoch nicht so überheblich wie sonst, sondern schien tatsächlich einfach nur eine Antwort von mir zu erwarten.

Ich wandte den Blick ab und spannte meinen Kiefer an.

"Ich hätte tot sein sollen. Hirntumor", meinte ich knapp. "Ich lebe nur wegen Nathan noch. Ewig in jemandes Schuld zu stehen, ist nicht so mein Ding, weißt du?", fragte ich nun sarkastisch.

Ein typischer Schutzmechanismus.

"Also will ich die Dinge wieder so richten, wie sie hätten sein sollen." Ich hatte ein unendliches Leben einfach nicht verdient. Nicht mehr.

"Du willst praktisch sterben?" Nun hob Lily eine Augenbraue. "Witzig, wir arbeiten zusammen, weil ich unbedingt leben und du unbedingt sterben willst."

Witzig? Morbide wohl eher.

Die Rothaarige lehnte sich nach vorne und legte ihre Zigarette im Aschenbecher ab.

"Du weißt, dass ich dich auch jederzeit töten kann, oder? Ich könnte dir hier und jetzt dein Herz herausreißen, Kätzchen. Und danach die deiner Freunde", nun lächelte sie wieder ihr süffisantes Lächeln, "Dafür musst du nicht extra ein Mensch werden."

Ich beugte mich ebenfalls nach vorne, was den Abstand zwischen unseren Gesichtern auf wenige Zentimeter verkürzte. Mein Herz raste, doch ich musste ihr die Stirn bieten. Ihre Augen glühten selbst in der Dunkelheit und glitzerten mich frech an. Wieder einmal nahm ich ihren betörenden Duft wahr.

"Danke für das Angebot, aber darum geht es nicht, du mächtige Urvampirin." Die letzten Worte betonte ich absichtlich ironisch und hob spielerisch die Hände in die Luft. Ich bewegte mich heute Abend wirklich auf dünnem Eis. Womöglich machte mich der Fakt, dass Aiden in den Staaten war, leichtsinnig vor Angst.

Lilys Lächeln verschwand und sie lehnte sich wieder zurück. Wieder legte sie den Kopf schief, woraufhin ihre Locken zur Seite rutschten und ihren Hals entblößten. Einen schönen Hals. Nicht die Schönheit, in die ich gerne meine Zähne versenken wollte - sondern eine Schönheit, die ich noch nicht ganz zuordnen konnte.

Um Gottes Willen, ich brauchte eine Therapie.

"Wie war deine Familie so?", kam ich nun zu unserem eigentlichen Gesprächsthema zurück.

"Was erwartest du? Sie waren eingebildete, egoistische Urvampire. Streng, gefühlskalt, furchtbar", fasste sie zusammen, ohne mich anzusehen.

Ich verkniff mir mein "also, wie du" und nickte nur.

"Sie haben mich eingesperrt, nachdem sie mich verwandelt hatten. Ich habe Jahrhunderte in einem Keller gelebt", Lilys Stimme wurde rau und sie senkte den Blick. "Vielleicht als Spaß, vielleicht als Experiment. Vielleicht auch als Spielzeug für meinen Bruder. Meine Familie ist das Furchtbarste, was mir hätte passieren können." Ihre roten Augen glitzerten gefährlich.

Von einem Bruder hatte ich nichts gewusst, aber beim verachtenden Klang ihrer Stimme beschloss ich, nicht weiter nachzufragen und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Auch der Blick in ihren Augen wirkte nicht wenig einschüchternd.

"Also bist du nicht traurig darüber, dass sie tot sind?", schlussfolgerte ich. Für einen Moment sah Lily mich verwirrt an, nur um dann den Kopf zu schütteln.

"Nein, ganz sicher nicht. Es ist so am Besten für mich."

Ich blickte in den Himmel. Es musste traurig sein, so über seine Familie zu reden.

"Ich habe nur . . . jemanden gehabt, der wie eine Familie für mich war", setzte Lily hinterher und begann mit ihrer Kette zu spielen, "sie hieß Lauren."

"Lauren", wiederholte ich dumpf, während ich den kleinen Rubin zwischen ihren Fingern anstarrte, "wie war sie so?"

"Ich weiß nicht", flüsterte die Urvampirin. Ich zog die Stirn kraus. "Du musst doch wissen wie sie war, wenn sie deine Familie war."

"Weiß ich aber nicht", der Klang ihrer Stimme war schneidend, "ich dachte immer, sie wäre loyal und freundlich, aufmerksam und liebenswürdig- vielleicht etwas naiv, aber eine gute Freundin. Hat sich aber immer als das Gegenteil herausgestellt, sobald ein Mann ins Spiel kam."

Ich zog scharf Luft ein. "Uh, Liebesdrama. Dreiecksbeziehung?"

Lily schenkte mir ein sarkastisches Lächeln. "Nein. Ich war mit ihm zusammen. Sie kannte ihn nicht einmal richtig, wurde aber völlig hysterisch, als ich ihr davon erzählte. Sie hat geschrien, dass es ihr Mann wäre und sie einen wie ihn schon immer heiraten wollte. Keine Ahnung, was in sie gefahren war", setzte sie bei meinem ungläubigen Ausdruck hinterher. "Jedenfalls ist sie völlig ausgeflippt und auf uns losgegangen."

"Und dann?", fragte ich vorsichtig. Ich wollte nicht riskieren zu tief in ihre Privatsphäre einzugreifen oder sie zu verärgern.

"Dann hat sie erst ihn ermordet - und dann ich sie."

"Wow." Das kam unerwartet. Intuitiv lehnte ich mich im Stuhl zurück, um etwas Abstand zwischen uns zu schaffen.

"Ich hab das nicht gerne gemacht, Kat. Es war 'sie oder ich'. Hätte ich sie nicht gepfählt, dann wäre ich jetzt tot. Außerdem lebt sie noch . . . ein bisschen. Ich habe sie nicht verbrannt, wenn ich ihr also irgendwann den Holzpfahl aus der Brust reißen will, muss ich sie nur ein bisschen anfüttern und sie kann wieder an meiner Seite durch die Welt streifen."

"Sie war ein Urvampir", schlussfolgerte ich. Nur Urvampire konnten einen Pfahl im Herz überleben, auch wenn sie äußere Einflüsse zum Wiedererwachen brauchten.

Lily bestätigte meine Vermutung. "Genau. Sie ist in einem Grab in einer Unterwasserhöhle. Unter Nova Scotia." 

"Ich verstehe nicht, was ihr Problem mit dir und dem Typen war."

 "Es gab keines. Nicht wirklich. Lauren hat immer furchtbar besitzergreifend reagiert. Auf alles. Bei Aiden -", sie brach ab.

Aufmerksam richtete ich mich auf. Sie hatte bereits heute Nachmittag erwähnt, dass ihr der Name "Aiden" nicht unbekannt war.

"Wir haben ihn in einem Club kennengelernt", beantwortete Lily meinen forschenden Blick, "Er war mir schon damals unsympathisch. Natürlich hat Lauren sofort gedacht, ich würde ihr die Liebe ihres Lebens schlechtmachen, als ich ihr davon erzählte und ich habe sie nur unter großem Getobe von ihm wegschleifen können."

Ich runzelte die Stirn. "Ganz schön liebesbedürftig, die Gute."

"Ja, das war sie. Naiv, ein bisschen zurückgeblieben und eifersüchtig. Aber an guten Tagen, war sie die beste Freundin, die ich mir hätte wünschen können. Und die einzige." Abrupt stand Lily auf und lief an mir vorüber zur Tür, ihr Duft stieg mir wieder einmal in die Nase.

Perplex hielt ich sie am Arm zurück.

"Warum riechst du immer so", begann ich meine Frage zu stellen, nur um dann am richtigen Adjektiv zu scheitern - gut, betörend, schön?-, "intensiv?"

Intensiv? Wirklich jetzt?

Lily grinste amüsiert und hob eine Augenbraue. Ich bereute meine Frage jetzt schon. Was war nur in mich gefahren?

"Das sind Maiglöckchen. In Kombination mit einer bestimmten Art der Rose. Die, die auch vor meinem Haus wachsen. Erinnerst du dich?"

Die Blumen, in der die Kamera versteckt gewesen war, schossen mir in den Kopf.

"Sie haben eine betörende Wirkung. Einige meiner Freunde und Familie haben so Menschen oder Vampire angelockt, ohne sie manipulieren zu müssen. Sie werden von vielen mit Freude und Reinheit assoziiert. Es kommt ganz auf die Konzentration an und kann wie eine Droge wirken - aber auch tödlich", erklärte sie.

"Eine Droge", meine Gedanken kamen in Bewegung, "verwendet ihr sowas auch in Clubs?"

Lily blickte zu mir hinab und lachte kurz auf. Eine feine Gänsehaut fuhr meinen Nacken hinab. "Du warst wohl vor Kurzem feiern." Sie zwinkerte mir zu.

Ich kniff die Augen zusammen. War sie im Club gewesen?

"Unserer Familie - beziehungsweise jetzt nur noch mir - gehören einige Clubs überall in Amerika und Europa. So kann gute Kundschaft gelockt werden. Vampirische Kundschaft", erklärte sie schulterzuckend.

"Dich hat es also auch getroffen, ja?", fragte die Rothaarige und schmunzelte. "Wie hat es auf dich gewirkt?"

Ein Thema, über das ich lieber stillschweigen sollte.

"Intensiv", murmelte ich nur in Erinnerungen schwelgend.

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