VIII - Rauch
12.10.2036 Motel, Toronto
Ich wälzte mich zum hundertsten Mal auf die andere Seite der Couch. Ich konnte einfach nicht einschlafen.
Womöglich lag das zu großen Teilen an der Präsenz einer Urvampirin, nur wenige Meter neben mir. Lediglich eine Wand trennte Lilys Schlafzimmer von dem Wohnzimmer, in welchem Alice und ich schliefen. Finn und Nate hatten sich in einem anderen Motelzimmer eingerichtet.
Nachdem es angefangen hatte zu schneien, hatten wir beschlossen, hier zu übernachten, damit ich nicht nachts in einem Schneesturm nachhause fahren musste. Es war beinahe ausgebucht gewesen, weshalb wir nur noch zwei Einzelzimmer bekommen hatten. Natürlich hatte ich Alice den Vortritt auf dem eigentlichen Schlafsofa gelassen.
Nun lag ich auf der harten Couch des Motelzimmers und versuchte, wenn auch leicht hypnotisch, auf mein Gehör zu achten, um frühestmöglich zu erkennen, falls unsere rothaarige Begleiterin mich im Schlaf erwürgen wollte.
Entnervt stand ich auf und schlich auf Zehenspitzen zu unserem winzigen Balkon. Er hatte einen Zugang von unserer Seite und der des Schlafzimmers. Sporadisch war er nur mit einem kleinen Tisch und zwei Stühlen eingerichtet, ein Aschenbecher als seine einzige Dekoration.
Leise öffnete ich die Tür, darauf bedacht Alice nicht zu wecken. Doch die Silhouette ihres Oberkörpers hob und senkte sich regelmäßig in der Dunkelheit, das Indiz dafür, dass sie tief in ihrem regenerierenden Schlaf steckte.
"Nächtliche Ausflüge?" Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Lily saß auf dem Geländer des Balkons und ließ die Füße über dem Abgrund baumeln.
Ich wich zurück. Das Bild von meiner besten Freundin mit Pfählen in den Gliedmaßen und Finn, wie er beinahe von ihr aufgeschlitzt wurde, schlich sich vor mein inneres Auge. Auch Alice' Schmerzenslaute waren noch sehr präsent in meinem Kopf.
"Was tust du hier?", flüsterte ich harsch.
"Du musst keine Angst vor mir haben", ignorierte sie meine Frage. Las sie wieder meine Gedanken oder sprach meine Körperhaltung für sich?
Ich erkannte das glühende Ende einer Zigarette zwischen ihren Fingern, als sie mich zu sich winkte. Ich stieß verzweifelt Luft aus und trat einige Schritte näher zu ihr. Ein süßlicher Duft vermischte sich mit dem des Rauches.
Vorsichtig lehnte ich mich neben sie an das Geländer. Die nächtliche Stadt war wunderschön. Ich ließ meinen Blick über die vielen Lichter in der Dunkelheit schweifen, während ich meine Unterarme abstützte und die Kälte genoss. Mein Atem bildetet kleine Wölkchen vor meinem Mund.
Die Nacht war meine liebste Tageszeit.
"Ist es nicht witzig, wie ich hier hinunterfallen könnte, ohne mir auch nur das geringste anzutun?", wisperte Lily mit einem Blick auf die befahrene Straße, die sich knappe hundert Meter unter uns befand. Sie legte den Kopf in den Nacken und blies Rauch aus. "Oder, wie ich tausende Zigaretten rauchen könnte, ohne meiner Lunge langfristig zu schaden?"
Wie lange sie wohl in dem Keller isoliert gewesen war?
Ich zog die Brauen zusammen und blickte sie verwirrt an. Worauf wollte sie hinaus?
Mein Blick blieb in der Dunkelheit an ihrem Profil hängen. Man konnte ihre Anwesenheit nicht anders, als "episch" beschreiben. Ihr roten Locken glänzten sanft im Mondlicht, auch ihre markanten Gesichtszüge wurden ausgeleuchtet. Hohe Wangenknochen neben dunkelroten Augen formten ein einziges Meisterwerk an Gesicht. Sie trug dunkle Shorts mit einem knappen Sport-BH. Soviel zur vampirischen Körpertemperatur.
Ihr Blick hing am Nachtleben der Stadt fest.
"Hier", flüsterte Lily und hielt mir die Zigarette hin, "vielleicht lebt man erst richtig, wenn man so etwas tut", fügte sie mit Blick auf die Straße unter uns hinzu.
Beeinflusst von ihren Worten griff ich danach und nahm einen tiefen Zug. Der Rauch kitzelte unangenehm in meinem Hals - ich hatte seit vielen Jahren nicht mehr an einer Zigarette gezogen.
Beim Ausblick auf die weite, verschneite Stadt verspürte auch ich plötzlich die Lust, einfach aus dem zehnten Stock zu springen und einen Aufprallkrater auf den Straßen Torontos zu hinterlassen.
Besitzt Lily die Fähigkeit mich zu manipulieren?, schoss mir durch den Kopf.
Ich war nicht sicher, ob Urvampire das konnten, aber auf einmal verspürte ich den Drang, Abstand zwischen uns zu bringen.
Versucht, meine Panik zu verbergen, reichte ich ihr die Zigarette zurück und wandte mich ab.
Sie machte mich jetzt schon wahnsinnig.
Die restliche Nacht ging schleichend vorbei, meine Gedanken hielten mich wach. Sie fuhren buchstäblich Karussell in meinem Kopf.
Hauptsächlich hinterfragte ich Lilys Motive, mit uns mitzukommen. Ich war mir sicher, dass sie meine Lüge durchschauen konnte und ihre eigenen Spielchen mit uns trieb. Auch, wenn sie den gesamten Abend kein Wort gesagt hatte und uns wie ein treues Hündchen gefolgt war, so hatte sie trotzdem die Präsenz eines wilden Wolfs.
Das beeindruckte mich fast so sehr, wie es mich einschüchterte.
Oh man.
Ich wälzte mich auf meine andere Seite. Alice schnarchte leise und monoton auf dem gegenüberliegenden Schlafsofa.
Wie sollten wir Lily umbringen können, wenn sie solche Fähigkeiten hatte und soviel stärker war? Nachdem sie einen Jäger überlebt hatte, würde sie sich wohl kaum freiwillig ermorden lassen.
Und wieso hatte sie solch eine Anziehungskraft? Konnte sie Gedankenlesen und Vampire manipulieren? Oder war das einfach nur ihr Charme?
Sollte sie Gedankenlesen können, hoffte ich sehr, dass sie meine gerade ignorierte, da wir sonst alle enorm aufgeschmissen wären. Und ich blamiert.
Ein leichter Eisengeschmack drang an meine Zunge. Ich hatte mir unbemerkt die Lippe aufgebissen - so wie immer, wenn ich maßlos überfordert war.
Ich drehte mich zurück auf den Rücken.
Ich war nie zuvor einem Urvampir begegnet und konnte nicht beurteilen, ob sie alle so eindrucksvoll gewesen waren. Dennoch musste ich Lily neben der Bewunderung auch eine gute Menge Skepsis entgegenbringen und hoffen, dass sie uns nicht in den Rücken fallen würde. Auch, wenn sie das wahrscheinlich vorhatte.
Überwältigt von all meinen Gedanken und Emotionen fiel ich irgendwann in einen unruhigen Schlaf. Meine letzten Überlegungen kreisten nun um Nate und wie es ihm wohl gehen mochte.
------------
20.01.2017 San Fernando - Mexiko
"Du musst ganz leise sein und lauschen", wies das blonde Mädchen an. "Dann überraschen wir sie, Katy. Keine Angst, wir kriegen Noel unversehrt da raus."
Kaitlyn schenkte ihr ein Lächeln und betrat das hölzerne Gebäude. Obwohl ihr Herz raste und ihre Handinnenflächen feucht wurden vor Angst, setzte sie sicher einen Schritt vor den anderen. Die Hütte war klein, nur zwei Türen gingen von dem schmalen Flur ab.
"Hörst du etwas, Sofia?", fragte Kaitlyn ihre Begleiterin und deutete auf die beiden Türen. Diese nickte und gab ihr ein Zeichen, achtsam zu sein.
Dann trat sie an die rechte Tür und zählte lautlos herunter. Sobald sie die 0 erreicht hatte, trat sie sie mit Schwung ein, Kaitlyn war ihr dicht auf den Fersen.
"Noel", flüsterte Kaitlyn sofort, als sie den Raum betrat und ihr Herz hüpfte. Ihr Freund war gefesselt am Boden und sah zu ihr auf. Sofort rannte sie zu ihm. Die Vampirin hatte nur Augen für ihn, nicht für den Mann, der neben der Tür stand und sie argwöhnisch beobachtete.
"Hallo, ihr zwei", grüßte er kühl, als Kaitlyn die Fesseln ihres Freundes zeriss und vorsichtig sein Gesicht abtastete. Seine blauen Augen musterten sie eindringlich.
"Aiden. Ein Wunder, dass du selber hier bist", murmelte Sofia verächtlich und trat zu Kaitlyn.
"Ja, um Ehrengäste kümmere ich mich immer selber."
Kaitlyn hatte Noel endlich befreit und reichte ihm eine Hand. Dieser nahm sie an und stand auf. Doch anstatt sie loszulassen, griff er noch ihre andere Hand und drehte sie auf dem Rücken zusammen.
"Noel", rief Kaitlyn perplex, "Noel, was machst du denn?"
"Oh, Noel", Aiden trat vor sie und blickte sie aus leeren Augen an, "Noel hat mir geholfen, gleich zwei von euch herzulocken."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top