VII - Lily

11.10.2036 Urvampiranwesen, Toronto

"Er muss hier sein", beharrte ich. Finn und ich hatten uns an vielen weiteren Fallen vorbei manövriert und standen nun inmitten der Eingangshalle in der unteren Ebene. Ich balancierte mein Gewicht auf der schmalen Holzplanke, von der ich sicher war, dass sie mit keinem Mechanismus verbunden war.

"Das bezweifele ich nicht", antwortete Finn, "Niemand würde ein Haus so verminen, um dann nicht hier zu sein."

Wir hatten unser Schweigen aufgegeben, nachdem lautstark Äxte, Holzpfeile und andere Unannehmlichkeiten an uns vorbei ins Mobiliar gerauscht waren.

"Kat, denk nach. Wenn du ein gesuchter Vampir wärst, wo würdest du dich verstecken?" Angestrengt sah er sich um.

"Unter der Erde", antwortete ich schnell, "irgendwo in einem Untergrundkomplex."

Suchend sah ich mich nach einem Keller um. Auch hier würden uns wahrscheinlich keine glitzernden Pfeile den Weg auf den Eingang weisen.

Ohne mich zu bewegen, ließ ich meinen Blick weiter schweifen. Gänge und Räume zweigten zu allen Seiten von der Halle ab. Ein Springbrunnen zierte seine Mitte, aus welchem vor nur wenigen Minuten eine ätzende Flüssigkeit auf uns hinab geregnet war. Verbunden mit einem Mechanismus unter einer Bodendiele. Gewichtgesteuert. Der Raum war ein einziges Minenfeld.

Ich musste widerwillig zugeben, dass die Einrichtung eigentlich wunderschön war. Vor meinem inneren Auge tollten Kinder durch die große Halle und eine glückliche Familie aß am großen Glastisch zu unserer Linken. Der Gedanke, dass hier jedoch lediglich Urvampire ihre Opfer verschleppt haben, zerstörte die Illusion in Sekunden.

Auch in diesem Zimmer hingen Landschaftsgemälde an der Wand. Das größte von ihnen hing links von der Treppe, direkt über einem kleinen Schachtisch. Ohne Stühle.

"Schau mal", raunte ich, "ein Schachtisch mit begonnenem Spiel ohne Stühle."

"Vielleicht mussten sie fliehen, als sie gerade eine Partie begonnen hatten" überlegte Finn, "als der Jäger herkam."

Ich sah ihn ungläubig an. "Und die Stühle haben sie ins Handgepäck geschoben?", fragte ich ironisch.

Kopfschüttelnd lief ich auf den Tisch zu, in langsamen Bewegungen und darauf bedacht, dieselben Dielen zu verwenden, die wir schon vorhin benutzt hatten. Jederzeit bereit, wegzuflitzen, falls mich wieder irgendetwas attackieren wollte.

Ohne eine Berührung inspizierte ich den Tisch. Um die Figuren herum hatten sich kleine blasse Wölbungen gezogen. Leim?

"Die Figuren sind festgeklebt", murmelte ich zu mir selbst. Ein Blick auf den Fußboden bestätigte meinen Verdacht. Winzige Schleifspuren ließen sich am Boden erahnen.

"Hier muss der Eingang sein."

Finn näherte sich mir langsam. "Wenn wir den Tisch bewegen, fliegt uns bestimmt eine Rasierklinge in die Halsschlagader."

"Glaube ich kaum", meinte ich skeptisch. "Die Urvampire müssen hier sicher öfter heraus und wieder rein und das geht nur durch diese Bewegung. Sie würden sich ja keine eigene Falle stellen", versuchte ich mich hoffnungsvoll an einer glaubwürdigen Erklärung.

Von Hoffnung und Adrenalin geflutet begann ich, den Tisch den Schleifspuren entlangzubewegen. Knirschend folgten die Tischbeine meiner vorgegebenen Richtung.

"Und jetzt?", fragte Finn, als das Möbelstück das Ende der Spuren erreicht hatte.

"Geh zur Seite", befahl ich ihm, als ich mich daran machte, das große Gemälde des Meeres vorsichtig zur Seite zu bewegen. Volltreffer.

Eine lange Treppe ging dahinter in die Dunkelheit hinab. Vorsichtig erklomm ich die erste Stufe gemeinsam mit Finn, das Bild rutschte hinter uns wieder vor den Eingang und ließ uns in der Dunkelheit zurück.

Kühle, feuchte Luft drang mir aus dem Keller in die Nase und ich konnte die gewölbte Form des Ganges wahrnehmen, als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten.

Ungehalten machte ich einen Schritt vorwärts. "Nein!", sagte der blonde Junge streng und hielt mich an der Schulter zurück, "Das wird genauso sein, wie in der Eingangshalle. Einige Treppen lösen Fallen aus."

Enttäuscht musste ich zugeben, dass er recht hatte.

Bevor ich überlegen konnte, wie wir diese Treppe hinabsteigen konnten, ohne durchbohrt zu werden, ließ ein markerschütternder Schrei mich zusammenzucken.

"Alice!", riefen wir wie aus einem Munde. Das gequälte Geräusch, das eindeutig von meiner besten Freundin gekommen war, hallte uns aus der unergründlichen Dunkelheit entgegen.

Mein Herz raste und ich konnte nur schwer dem Drang widerstehen, einfach die Treppe hinunterzurennen. Finn schien das zu bemerken.

"Kaitlyn warte. Vielleicht ist das eine Falle", versuchte er mich zu beruhigen. Es gelang ihm nicht.

"Wie? Wie sollte er Alice Stimme kennen und imitieren können?", überschlug sich meine Stimme beinahe. "Scheiße, wir müssen darunter." Ich hüpfte panisch von einem Fuß auf den anderen.

"Was willst du überhaupt anrichten, wenn da unten der Urvampir seine Basis und Alice hat? Mensch, Kat. Wir sollten zurückgehen und Hilfe holen. Oder nach Nathan schauen", Finn raufte sich die Haare, "ich weiß doch auch nicht."

Auf keinen Fall würde ich dieses Gebäude ohne Alice verlassen. Mein Entschluss war gefasst, als ich dem Vampir neben mir ein wütendes "Nein. Ich gehe darunter, ob du mitkommst oder nicht", an den Kopf schleuderte.

Finn atmete tief durch. "Okay. Gut. Wir rennen", sagte er dann kurzentschlossen. Entgeistert sah ich ihn an. "Wie soll das gehen? Was ist, wenn einige Fallen, den Gang zum Einsturz bringen, um uns den Ausweg zu versperren?", äußerte ich meine Zweifel. Einerseits wollte ich dringend zu Alice - andererseits nicht noch Finns Leben aufs Spiel setzen.

"Wir rennen gleichzeitig. So kann keiner von uns zurückbleiben. Wenn Alice auf einem anderen Weg darunter gekommen ist, werden wir auch auf diesem Weg wieder hinauskommen können."

Ich legte eine Hand an die Stirn und schloss die Augen.

"Wir müssen genau gleich schnell sein, damit keiner von uns verletzt wird", überlegte ich.

Finn nickte zustimmend und reichte mir seine Hand.

"Auf drei, okay?" Er lächelte mir aufmunternd zu. Ich nahm einen letzten tiefen Atemzug und ergriff sie. Seine Hand war größer als meine und gab eine beruhigende Wärme ab. Finn drückte meine ein letztes Mal fest, bevor er begann runterzuzählen.

"Drei", begann er.

"Zwei", ich beugte mich nach vorne. Das Adrenalin kribbelte in meinen Venen.

"Eins."

Ich hielt reflexartig die Luft an, als wir uns in einem großen Schritt nach vorne stürzten. In Vampirgeschwindigkeit berührten wir nur ungefähr jede zehnte Treppenstufe, während um uns herum die Welt zu zerfallen begann.

Pfeile zischten, der Boden gab an einigen Stellen nach, Steinchen bröckelten von der Decke des alten Tunnels, der einzustürzen drohte.

Nur nicht stehenbleiben, wiederholte ich in meinem Kopf.

"Stehenbleiben!", rief Finn konträr dazu neben mir.

Was?

Reflexartig begann ich zu bremsen. Wir kamen nur Zentimeter vor der Steinmauer des Kellers zum Stehen, während hinter uns die letzten Steine der Treppendecke hinabrollten. Sie war gänzlich eingestürzt. Es gab nun kein Zurück mehr.

"Gut, dass du so schnell reagiert hast", murmelte ich etwas perplex und sah mich um.

Schnell suchte ich nach möglichen Gefahren im Raum. Es sah aus, wie in einem ganz normalen Weinkeller. Der Raum wurde von einigen steinernen Stützen gehalten, winzige Fenster an der Wand ließen schummriges Licht einfallen.

Konzentriert auf die Umgebung bemerkte ich erst gar nicht, dass ich noch immer Finns Hand hielt.

Vorsichtig ließ ich sie los und musterte ihn. Es schien ihm gutzugehen, abgesehen von seiner gänzlich verstaubten Kleidung fiel mir nichts an ihm auf.

"Hier unten sollte der Boden nicht mehr präpariert sein", meinte Finn, "Unter dem Kiesboden ist es schwer, sich die gefahrlosen Stellen zu merken und wenn der Urvampir wirklich dauerhaft hier unten war, würde er sich das nicht selbst antun. Außerdem war die Treppe wahrscheinlich schon das knallende Finale. Die hätte kein Jäger überlebt."

Ich nickte und hoffte inständig, dass er recht hatte.

"Kat!", konnte ich nun undeutlich Alice Stimme erahnen. Ohne mich Umzublicken begann ich in die Richtung zulaufen, aus der ich ihren Schrei vermutete. Verstört musste ich schnell feststellen, dass der Komplex mehr einem Gefängnis, als einem Weinkeller ähnelte. Ich passierte mehrere Zellen, in denen Skelette auf dem Boden lagen - ihre Handgelenke noch immer in Ketten gelegt.

Ich schüttelte mich und rannte weiter, Finns Schritte knirschten hinter mir im Kies.

Am Ende des Ganges aus Gittertrakten angekommen, begann ich leises Schluchzen zu vernehmen.

Wenige Schritte weiter betraten wir einen neuen, größeren Raum, in dessen Mitte Nathan kopfüber von der Decke baumelte. Er schien ohnmächtig zu sein. Sein Kopf war rot angelaufen, was sein Gesicht zu einem Kontrast zu seiner hellen Narbe machte.

Knapp neben ihm war Alice an einen großen Stuhl gefesselt. Holzpfeile durchbohrten ihre Hände und Oberschenkel, um sie an Ort und Stelle zu halten.

"Alice", hauchte ich und stürzte auf das blasse Mädchen zu. Vorsichtig hob ich ihren Kopf an, um in ihre glanzlosen Augen zu sehen. Finn stand neben mir und machte sich daran, Nathan von der Decke zu lösen, während ich mich sofort darum kümmerte, die Holzpfähle aus den Händen meiner Freundin zu ziehen,

"Hinter dir", flüsterte Alice plötzlich matt. Sofort fuhr ich herum. Eine weibliche Person befand sich am Eingang des Raumes und lehnte an dessen Gemäuer. Rote Haare wallten wie Flammen bis an ihre Hüften, ihr Augen leuchteten in der gleichen Farbe. Sie trug einen Anzug gespickt mit jeglicher Ausrüstung an Vampirwaffen, der sich hauteng an ihren Körper schmiegte. Sie müsste in unserem Menschenalter sein.

"Sieh' mal an, wer sich endlich zu uns gesellt." Ihre Stimme dominierte den gesamten Raum. "Nachdem ihr fast die gesamte obere Etage eingerissen habt, habt ihr auch zu uns gefunden." Sie lachte rau, eisige Kälte ging von ihr aus. Sie schien wie ein lebender Kontrast zwischen Feuer und Eis.

Ich verharrte in meiner Bewegung, während Finn Nathan auf den Boden ablegte und sich daran machte, Alice zu befreien.

"Wie heißt du?", war das Erste, das mir in den Kopf kam. Was für eine unwichtige Frage-

"Versuchst du dich an Smalltalk, Kat?" Die Rothaarige schmunzelte. Verwundert stellte ich fest, dass sie meinen Namen kannte.

"Ich bin Lily Everleigh. Eure meistgesuchte Urvampirin." Lily vollführte eine gekünstelte Verbeugung, bevor sie auf uns zu schritt.

Ein Mädchen? Wieso hatte ich in meiner Vorstellung fest mit einem skrupellosen alten Mann gerechnet?

Finn riss geräuschvoll den letzten Pfahl aus Alice' rechtem Oberschenkel. Sie schrie unterdrückt auf und biss die Zähne zusammen. Finn wirbelte kurzentschlossen herum und schleuderte den Holzpflock auf Lily. Mit einem amüsierten Lächeln griff sie diesen unbemüht aus der Luft. In weniger als einem Wimpernschlag flitzte sie mit dem Pfahl hinter Finn und nahm ihn in den Schwitzkasten.

Sofort hob dieser die Arme, doch die Urvampirin hatte bereits die Spitze des Holzes in seinen Hals geschoben. Blut trat in einem kleinen Rinnsal aus und lief seinen Oberkörper hinab.

Panisch blickte ich mich um. Alice saß ermattet in ihrem Stuhl, Nathan lag immer noch auf dem Boden.

"Du bist die einzige Kampffähige, Kaitlyn", las Lily meine Gedanken. "Also, versuch es gar nicht erst. Ich weiß, warum ihr hier seid, also lass uns zur Sache kommen. Was springt für mich dabei raus?"

Sie ging ein paar Schritte rückwärts und übte mehr Druck auf den Pfahl aus.

Was sollte ich tun? Was konnte ich tun? Woher wusste sie, wer wir waren?

Für sie sprang tatsächlich nichts dabei raus, sie würde sogar sterben müssen. Was könnte ein Urvampir haben wollen?

"Sicherheit", sagte ich nun schlagartig, "unsere Garde kann dich schützten und dich verstecken. Vor dem Jäger. Als Zeichen unserer Dankbarkeit. Alexander ist ein guter Mann."

Das entsprach der Wahrheit, doch würde sie von dieser Sicherheit wahrscheinlich nicht allzu viel Gebrauch machen können, so ganz ohne Herz.

Sie legte den Kopf schief und schien ihre Optionen zu überdenken.

"Nun gut", sagte sie dann und stieß Finn von sich, der instinktiv an seine Wunde griff, "Ich komme mit euch."

Ich konnte nicht anders, als eine Augenbraue zu heben. Dafür, dass sie beinahe meine Gedanken lesen konnte, kaufte sie mir diese Lüge ziemlich leicht ab. Zu leicht.

"Wartet einen Augenblick", befahl sie und hockte sich neben Nathan. Sie griff an ihren Waffengürtel und zog ein kleines Fläschchen aus einer Tasche. Eine klare Flüssigkeit schaukelte darin umher. Drei Tropfen träufelte sie in Nates Mund, woraufhin diesen leichte Zuckungen durchliefen. Wenige Sekunden später schlug er benommen die Augen auf.

"Okay, gehen wir", sprach Lily nun und schritt mit schnellem Gang voran. Perplex schloss ich mich ihr an, ohne mich noch einmal umzublicken.

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