VI - Minenfeld
11.10.2036 Collins' Gebäude - Garage, New York City
Geräuschvoll ließ ich den Motor des schwarzen Sportwagens an, der in der Tiefgarage unter Alexanders Anwesen geparkt war. Ich streichelte geistesabwesend das Lenkrad meines Teslas, den Alex mir vor guten drei Jahren geschenkt hatte. 'Für zwanzig Jahre als Teil der Familie.' Das vertraute Gefühl des Leders an meinen Fingern vertrieb die aufkeimenden Sorgen in mir ein wenig. Bereits seitdem ich heute nachmittag meine Sachen in meine Sporttasche geworfen hatte, kreiselten meine Gedanken um diesen ominösen Urvampir - und wie wir ihn nur überlisten sollten.
Ich rollte aus der Parklücke und ließ die Fenster herunter.
"Wollt ihr zu Fuß gehen?", fuhr ich meine drei Begleiter, die neben dem Auto standen, wie kleine Kinder, die auf den Bus warteten an.
Nathan riss sich als erster aus seiner Trance los und öffnete die Beifahrertür, die daraufhin nach oben klappte. Während sich auch die anderen beiden Vampire herein bequemten, begann ich am Bordcomputer sowohl Musik, als auch unsere Route auszuwählen.
Kurz blickte ich auf, um den Rückspiegel angemessen einzustellen. Alice hatte hinter mir Platz genommen und rutschte unruhig in dem Ledersitz hin und her, um sich bequem einrichten zu können.
Ihre ohnehin kurzen Locken hatte sie in einen noch kleineren Zopf geflochten, der sie unschuldig wie ein kleines Mädchen wirken ließ. Lediglich ihre blauen Augen flammten vor Tatendrang.
Als ich ihr von unserem Plan erzählt hatte, war sie nicht sehr erfreut gewesen, da sie eigentlich für ihre Abschlussprüfungen im Studium lernen musste, aber ich hatte sie überzeugen können. Meine beste Freundin hatte wohl mittlerweile alle kreativen Studiengänge der Welt belegt gehabt, da sie jedes Mal, wenn sie einen schaffte, an einem anderen College einen neuen begann. Nur für Naturwissenschaften hatte sie sich noch nicht begeistern können, trotz ihres grünen Daumens.
"Ich werd' schlafen, sprecht mich nicht an, wenn es kein Notfall ist", stellte Alice sofort klar und kuschelte sich in ihr pinkes Nackenhörnchen. "Fahr ja vorsichtig, Kat."
Finn hatte neben ihr bereits Kopfhörer aufgesetzt und starrte geschäftig auf seinen cremefarbenen Laptop. Auch seine blonden Haare waren in einen kleinen Zopf gebunden, wodurch er einen unabsichtlichen Partnerlook mit Alice kreiert hatte.
Ich riss den Blick vom Rückspiegel weg und trat das Gaspedal zu einem kurzen Kickdown durch. Ein heulendes Motorengeräusch hallte in der Garage auf.
Obwohl es sich nur um ein Soundmodul handelte, da alle unserer Autos mit Wasserstoff betrieben wurden, drang ein tiefes Knattern durch den gesamten Untergrundkomplex. Erst vor wenigen Tagen hatte Alex auch den letzten Dieselmotor durch eine Brennstoffzelle ersetzten lassen, um den aktuellen Gesetzen zu entsprechen.
Wir rauschten schnell aus der Garage hinaus auf die Hauptstraße.
Ich fasst mir ein Herz und sprach an, was mir im Kopf umherschwirrte.
"Was ist mit deinem Onkel und Alex eigentlich genau passiert?", wollte ich von Nathan wissen, was ich schon ewig versuchte aus Alex herauszukriegen.
Nate hatte die Arme verschränkt, die Kapuze seines schwarzen Hoodies tief ins Gesicht gezogen und starrte aus dem Fenster. Manchmal fragte ich mich, ob er überhaupt farbige Kleidung besaß.
"Familiendesaster. Er hat mir genauso viel gesagt wie dir, Kat. Ich weiß nicht, wieso sie den Kontakt zwischen mir und Nicholas überhaupt zugelassen haben. Letztendlich ist es sowieso egal."
Seine Stimme klang belegt. "Irgendetwas hat einen Keil zwischen die beiden getrieben und jede Versöhnung ist gescheitert. Und seitdem fliehen wir", grummelte er.
"Einen ziemlich großen Keil", murmelte ich sarkastisch. Nathan schwieg. Aus ihm würde ich nichts mehr herausbekommen, seine Laune war mal wieder im Keller.
Ich bog von der Straße ab und fuhr auf den Highway hinauf. Sofort beschleunigte ich. Diese Fahrt wollte ich einfach nur hinter mich bringen.
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11.10.2036 Ward's Island, Toronto
Kieselsteine knirschten unter den Autoreifen, als ich langsam in die Auffahrt des pompösen Anwesens einfuhr. Das Navi hatte uns in den letzten Minuten durch ein strahlendes Reichenviertel geführt, das an Vermögen und Pracht förmlich überquoll.
Ebenso wie diese Villa hier. Architektonisch war der symmetrische Klotz von Gebäude zwar kein Meisterwerk, doch der Vorgarten, der von etlichen Marmorspringbrunnen geziert wurde, sowie die multiplen Sportwagen-Cabrios, die unter einem großen Carport geparkt waren, sprachen des Reichtums Bände.
Die Sonnenstrahlen wurden von den strahlend weißen Wänden des wenig liebevoll gestalteten Hauses reflektiert und zwangen mich dazu meinen Blick von ihm abzuwenden, falls ich nicht vorhatte, noch vor dem eigentlichen Flammenritual zu erblinden.
Ich wurde langsamer und machte mich daran, unser Auto neben den anderen unter dem Carport rückwärts einzuparken.
War das dreist?
Ein schwarzer Lockenkopf hüpfte im Abbild meines Rückspiegels hin und her und bereitete mir Schwierigkeiten unser Auto ohne Karosserieschaden abstellen zu können.
Nachdem wir nun vor weniger als einer Stunde die kanadische Grenze überquert hatten, war auch Alice aus ihrem tranceartigen Schlaf aufgewacht und hatte kaum noch stillsitzen können. Gespannt zappelte sie jetzt auf ihrem Sitz umher und wollte scheinbar nichts sehnlicher, als die Tür aufreißen und sich Hals über Kopf in die teure Massivholztür der Villa zu werfen, die den Blick auf das Interieur der Urvampirfamilie verwehrte.
"Wir sind da", gab ich den überflüssigen Hinweis für die anderen, aus dem Auto auszusteigen, als es mir doch gelungen war, unseren Wagen sicher zu parken - wobei Alice förmlich aus dem Auto stürzte, noch bevor ich die Warnung vor möglichen ausgelegten Fallen oder Warnsystemen aussprechen konnte. Die anderen beiden folgten ihr wortlos. Seufzend zog ich den Zündschlüssel.
"Sollten wir nicht unseren Plan besprechen?", rief ich verzweifelt meiner besten Freundin durch ihre geöffnete Tür hinterher, ohne eine Antwort zu erwarten.
Misstrauisch stapfte diese nun ohne jegliche Vorsicht mitten durch den Vorgarten der hier Residierenden. Mit jedem unüberlegten Schritt sank mein Kopf tiefer auf das Lenkrad, das mir in meiner Verzweiflung die einzige Stütze war.
Was sollte das nur werden?
"Kommst du?" Nathan hatte sich auf die Fahrerseite gesellt und öffnete mir die Tür, ganz gentleman-like. Ich stieg aus, darauf bedacht, ihm nicht viel Beachtung zu schenken, und lief geradewegs an ihm vorbei auf die Tür zu.
Nun vergaß ich jegliche Vorsicht.
Ein süßer Duft stieg mir in die Nase, als ich vor der hölzernen Tür stehen blieb.
"Was ist der Plan? Willst du einfach anklopfen und ihn um sein Blut bitten?", fragte Finn mit hochgezogenen Augenbrauen. Er hatte sich neben mich gestellt und deutete auf den Klingelknopf. Nathan stand dicht hinter ihm. Seit dem Abend im Club hatte ich Finn nicht mehr gesehen, aber nach Alice' Erzählungen hatte er sich sehr für sein Verhalten geschämt und nun beschlossen, wieder ein Musterschüler zu sein. Womöglich lag das zu großen Teilen an dem Ärger, den er von Alexander kassiert hatte, zumal Finn der älteste war und die Verantwortung für uns trug - wobei Nate und ich auch nicht ungeschoren davon gekommen waren.
"Ja", sagte ich nun knapp, "vielleicht wird er uns verstehen."
Alice tauchte nun auf meiner anderen Seite auf. "Ich habe keine Fallen oder ähnliches entdeckt", stellte sie klar.
"Wenn sie welche gehabt hätten, wärst du ja auch vollends hineingelaufen", murmelte Nate und verdrehte die Augen.
Meine beste Freundin schnaubte und schritt vorwärts, um die Klingel zu betätigen. Von innen drang eine dumpfe Melodie durch die Tür. Betreten standen wir einige Sekunden davor, ohne das etwas geschah.
"Hätte mich auch gewundert, wenn sie hier gewesen wären. Wenn du einer der letzten deiner Spezies bist, wohnst du nicht in einer riesigen Villa ohne jegliche Schutzvorkehrungen", meinte Finn verbittert.
Ich blickte enttäuscht zu Boden. Natürlich hätte es mich gewundert, wenn einmal alles glattgelaufen wäre.
"Ich glaube schon, dass sie hier sind." Nathans Worte ließen einen kurzen Hoffnungsschimmer in mir aufflammen. Der große Junge deutete mit einem Nicken auf das Blumenbeet, dass die Eingangstür an ihren Seiten zierte. Verwirrt hockte ich mich neben diese.
In einer der edlen, dunklen Rosen, war ein kleines rotes Blinken zu erkennen. "Eine Kamera?", flüsterte ich, "er muss wissen, dass wir hier sind."
"Und hat offensichtlich keine Lust uns zu treffen", murrte Finn ergänzend.
Ich nahm einen tiefen Atemzug und richtete mich auf.
"Egal, wir müssen da rein", sagte ich bestimmt und lief ein paar Schritte rückwärts, um Anlauf zu nehmen. Ich hoffte auf ein Fenster in dem abgeschrägten Dach.
Schnell stürmte ich vorwärts und stieß mich vom Boden ab. Verhältnismäßig sanft berührten meine Füße die dunklen Dachziegel. Ganz im Gegensatz zu Finn, der mir gefolgt war und wenig elegant neben mir aufprallte.
"Die anderen beiden versuchen durch einen anderen Eingang hereinzukommen", erklärte er mir leise.
Ich nickte nur. Gebückt schlichen wir vorwärts, auf ein großes Dachfenster zu.
"Das können wir nicht eintreten, ohne dass sie uns hören", murmelte ich meinem Begleiter zu.
"Du musst irgendwie für geräuschvolle Ablenkung sorgen", überlegte Finn.
"Was schlägst du vor?", fragte ich, verwundert über seine Kooperationsbereitschaft, nachdem er sich den Großteil der Zeit so ablehnend verhalten hatte.
"Er weiß sowieso, dass wir hier sind. Die einzige Chance, die wir haben, ist ihn durch sein Unwissen über unseren Eingang zu überlisten. Ich denke nicht, dass er vorhat, mit uns zu kooperieren. Es wäre also gut, wenn du unten vorm Haupteingang irgendeinen Lärm erzeugst."
Ich stimmte wortlos zu, machte mich daran, wieder in den Vorgarten zu gelangen, und sprang vom Dach hinab. Ohne mich lange umzublicken, wusste ich, wo ich hingehen musste. Zielstrebig steuerte ich die zwei glänzend roten Sportwagen an, die neben unserem unter dem Carport standen.
"Oh man, das tut mir so leid", wisperte ich mir selbst zu. Ich kniff die Augen zusammen, um das Leiden nicht mit ansehen zu müssen, als ich ausholte und mit all meiner Kraft auf die Motorhaube des Cabrios einschlug. Sein Heck hob sich unter dem Druck meiner Fäuste auf der Haube an.
Die eingedellte Karosserie erfüllte ihren Zweck. Ein ohrenbetäubender Alarm löste aus, der von dem Cabrio ausging.
Spätestens jetzt hatten wir uns unseren Frieden mit dem Urvampir verspielt. Schnell flitzte ich wieder zu Finn hoch, dessen Kopf bereits aus dem zerstörten Fenster ragte. Hecktisch winkte er mir zu, woraufhin ich mich federleicht durch das Fenster hineingleiten ließ. Ein übermäßig blumiger Geruch nach Waschmittel vermischte sich mit dem von Desinfektionsmittel in meiner Nase und ich musste mich bemühen, nicht laut zu niesen.
Wir befanden uns in einer Art Abstellraum, der Holzboden knackte leidend unter unseren Bewegungen. Überall stapelten sich Kisten, eingestaubte Bücher und Putzutensilien.
Mit einem Kopfnicken bedeutete mir Finn, ihm zu folgen. Reden war ab sofort keine gute Idee mehr, da natürlich auch ein Urvampir ein ausgeprägtes Gehör hatte. Wir traten auf einen kleinen Gang hinaus und lauschten. Abgesehen von dem regelmäßigen Piepen des Autoalarms war nichts zuhören.
Gegenüber der Abstellkammer waren weitere Türen, rechts von uns ein bodentiefes Fenster. Ich wandte mich nach links und schlich zum Ende des Ganges, bis an ein Geländer. Es bildete kreisförmig eine Abgrenzung zur darunter liegenden, offenen Etage. Der Gang lief somit ebenfalls einmal im Kreis bis zu einer Treppe auf meiner rechten Seite. Der Teppich unter meinen Füßen hatte wahrscheinlich schon etliche Jahre gedient und war aus einem abgelaufenen rot, die Wände wiederum glänzten weiß hinter impressionistischen Gemälden.
Finn lief an mir vorbei auf die breite Treppe zu. Eine große Standuhr zierte den Treppenabsatz. Noch bevor ich reagieren konnte, passierte mein Begleiter die Uhr, die an ihrem Fuß einen durchsichtigen Draht zum Geländer gespannte hatte.
Sein Fuß löste einen Mechanismus aus, die Uhr klappte geräuschvoll nach unten und ein Holzpfahl schoss heraus, wo sich normalerweise ein Kuckuck befand. Haarscharf flog er an Finns Kopf vorbei und bohrte sich wenige Zentimeter unter meinen Füßen in den Holzboden.
Mein Herz raste - ich wagte nicht zu atmen. Wie angewurzelt blieben wir beide stehen. Seine Lippen formten die Worte "Sei vorsichtig."
Ich schenkte ihm ein ironisches Was-du-nicht-sagst-Lächeln, bevor ich mich langsam daran machte, ihm zu folgen. Scheinbar hatte der Urvampir mit Besuch gerechnet.
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