V - Der Anfang vom Ende

11.10.2036 Collins' Gebäude - Hauptquartier, New York City

Ich murrte entnervt, als ich schon zum zweiten Mal innerhalb von dieser einen Woche zu Alexander beordert wurde. Dennoch folgte ich dem Gardenmitglied, das mich vor wenigen Sekunden aus meinem Zimmer abgeholt hatte, gehorsam, um keinen unnötigen Ärger zu machen.

"Warte hier, bis er dich hineinruft", wies mich der breite Mann an, bevor er sich umdrehte und verschwand.

Mit diesen Worten ließ er mich verwirrt im Flur der ersten Etage stehen.

Mit einem erzwungenen Ausatmen ließ ich mich an der Wand gegenüber von Alex' Tür hinabgleiten bis ich etwas unsanft auf dem Fußboden aufsaß.

Die deckenhohen Türen wurden von ebenso hohen Bücherregaln links und rechts geschmückt, wobei ich deren Sinn stark anzweifelte. Ich hatte weder Alex noch Alia jemals mit einem Buch gesehen und begann zu hinterfragen, ob diese literarischen Werke überhaupt echt waren.  Sie mussten alt sein, da schon seit fast 10 Jahren kaum noch Bücher gedruckt wurden - der Umwelt zu Liebe, der Technologie zum Profit. Wie aufs Kommando vibrierte mein Handy, um mir mitzuteilen, dass meine Blutgefäße leichte Verengungen aufwiesen.

Seufzend schob ich mein Smartphone zurück in die Hosentasche, nachdem ich die 'Ignorieren'-Option gedrückt hatte. Wie zur Beschwerde pulsierte das digitale Implantat an meinem Handgelenk, dass noch vor Sekunden die Veränderung in meinem Körper in Form von Stress festgestellt hatte. Alex hatte damals darauf bestanden, dass ich eines eingesetzt bekäme, um mein Training anzupassen. Natürlich waren die Werte häufig überirdisch - im Vergleich zu denen von normalen Menschen - aber sie waren ihm dennoch von Nutzen.

Ich konnte mich kaum an meine Kindheit erinnern, was womöglich an der langen Lebenszeit lag. Doch meine 'Jugend', die ich bei den Collins verbracht hatte, war nahezu perfekt gewesen.

Alexander war ein unendlich liebevoller Ziehvater, der immer bemüht war, das Beste für mich und aus mir zu machen. Leider verbrachte er den Großteil seines Lebens im Büro oder in den Trainingsarenen außerhalb der Stadt. Alia kümmerte sich in der Zeit um uns, das Haus, die Garde - um einfach alles. Ob sie jemals wirklich zur Ruhe kamen? Konnte man überhaupt noch zur Ruhe kommen, wenn man ein Vampir war?

Ich beschloss die Gedanken zu ignorieren und auch sonst jegliche andere, welche mal wieder viel zu laut in meinem Kopf herumschwirrten. Hauptsächlich drehten sich diese um den Abend im Club.

Wieso hatte er sich darauf eingelassen? Wieso hatte ich das getan?

"Schluss jetzt!", befahl ich mir leise selber und biss mir aus Reflex strafend auf die Lippe.

Aus Langeweile heraus beschloss ich nun, mich auf meine Umgebung zu konzentrieren. Das hatten mir die Heiler empfohlen, als ich mich ab und an über meine Nervosität und Hyperaktivität beschwert hatte. Als Vampir machte diese Aktion tatsächlich viel Spaß.

Ich fokussierte mich auf meinen Gehörsinn. Am Ende des Flures, in dem ich saß, hörte ich ein Rascheln, hinter einer der Zimmertüren. Wahrscheinlich Alia bei der Büroarbeit. Direkt vor mir vernahm ich laut dieselben Geräusche aus Alex' Arbeitszimmer.

In der Ferne nahm ich Schritte in der Etage über mir wahr. Eine Kaffeemaschine, die durch ihr Piepen die Fertigung des warmen Gebräus ankündigte, leise Klänge eines Pianos und unverständliche Stimmen mischten sich zu dem Wirrwarr.

Ein unverkennbares Schrittmuster ließ mich hochschrecken. Nathan kam die Treppen hoch. Schnell flitzte ich zu einem der Bücherregale neben der Tür und zog das erstbeste Werk heraus.

"Eine viel belesene Frau, wie ich sehe", sagte Nate mit hochgezogener Augenbraue, der wie aus dem nichts neben mir an der Tür lehnte. Er war geflitzt.

Ich gab ihm nur ein ironisches Lächeln und öffnete das Buch.

Also keine Attrappen.

"Fortpflanzungsarten der tropischen Tierarten, also?" Der große Junge nickte zu dem Buchcover und grinste schief.

Mist. Wieso hatte Alex solche Bücher in seinen Regalen?!

Ich verfluchte mich im Inneren für den wahllosen Griff nach dem Buch und biss die Zähne aufeinander. Noch während ich überlegte, wie ich ihm das erklären sollte, drang Alexanders Stimme von Innen zu uns.

"Kommt bitte rein!"

Meine Rettung.

Schnell stellte ich das Buch zurück an seinen Platz im Ökologieabteil und schob mich am belustigten Nathan vorbei durch die Tür in Alex' Arbeitszimmer.

Ich lehnte mich neben der Tür an die Wand und verschränkte beschämt und wütend auf mich selbst die Arme vor der Brust.

"Gut, dass ihr hier seid", begann Alexander und drehte sich in seinem Ledersessel in unsere Richtung. Er sah etwas gestresst aus, wäre er kein Vampir würden seine glatten, schwarzen Haare wahrscheinlich graue Strähnen bekommen.

"Willst du dich nicht setzen?", unterbrach er sich kurz selbst und bedeutete mir, mich auf den freien Stuhl neben Nathan zu setzen, der ihm gegenüber Platz genommen hatte.

Augen zu und durch!

Ich flitzte zu dem gepolsterten Stuhl und setzte mich zu den beiden. Als ich mich zurücklehnte, merkte ich, wie Alexander mich mit seinen Blicken strafte.

"Was?", fragte ich unschuldig und hob abwehrend die Hände in die Luft.

"In meinem Büro wird nicht geflitzt, Kat. Das weißt du doch. Überhaupt sollt ihr das nur auf Langstrecken machen, sonst gewöhnt ihr es euch an und macht es womöglich aus Versehen vor anderen", tadelte er mich.

Die Betonung auf 'anderen', ließ deutlich durchscheinen, dass er sich nicht auf normale Menschen bezog. Ich nickte entschuldigend beim Gedanken an all die harten Jahre Training, die er in uns investiert hatte, damit wir uns vor dem Jäger schützen konnten und ließ meine Hände wieder sinken.

"Wie auch immer," besann er sich kopfschüttelnd wieder dem Thema, "es geht um das Heilmittel."

Schlagartig war ich voll bei der Sache und schnellte in meinem Stuhl nach vorn.

"Hast du den Aufenthaltsort des Urvampirs ausmachen können?", platzte ich heraus.

Wieder bekam ich einen strafenden Blick, woraufhin ich mich zwar langsam zurücklehnte, ihn aber dennoch weiter abwartend ansah.

"Ja, habe ich. Alia geht es nun zunehmend schlechter, das Toxin breitet sich aus", murmelte er besorgt. Fragend zog ich die Augenbrauen zusammen - hatte er endlich nähere Informationen?

"Es handelt sich um Jiaougulan - Lebenskraut. Es muss ihr in Mexiko untergemischt worden sein. Es lässt sie langsam alle Krankheiten durchleben unter denen sie zu menschlichen Zeiten litt - auch wenn sie genesen war. Fleckfieber zum Beispiel."

Ich biss mir betroffen auf die Lippen. Als wir vor kaum drei Jahren die Grenze in die USA gequert hatten, waren fremde Vampire über unsere zweite Kolonne hergefallen und hatten Alia für wenige Stunden in ihrer Gewalt gehabt.  

"Das ist so eine Scheiße", grummelte ich vor mich hin, "So eine Scheiße." Ich hatte damals nichts ab- oder überhaupt mitbekommen, weil ich zusammen mit Alice in der ersten Kolonne gefahren  war - ein paar Stunden eher. 
Seit diesem Tag gab es ständig Spannungen an der Grenze.

Alex senkte den Kopf auf die Hände. Einige seiner Strähnen lösten sich aus seiner gegelten Frisur als er verzweifelt den Kopf schüttelte.

"Ich bin mir sicher, dass sie nicht zufällig Alia erwischt haben. Aiden hatte mit Sicherheit damit zu tun." Er spuckte den Namen seines Bruders aus, als würde er ihm die Zunge verbrennen. Dass mein Ziehonkel keine gute Person war, hatten Alex und Alia mir als Erstes beigebracht. Hochgewachsene, dunkelhaarige Männer mit schneeweißen Augen meiden; es könnte potentiell Aiden sein, der aus Jux und Tollerei jemanden aus der Garde ermorden wollte - oder auch sonst jeden, der ihn falsch ansah.

Mitfühlend verzog Nate neben mir das Gesicht. Die Erinnerungen die mit diesem Namen verbunden waren, schmerzten ihn noch mehr als mich.

"Er wird niemals zur Vernunft kommen." Tiefe Enttäuschung schwang in Alex' Stimme mit. "Und auch Nicholas hat er mittlerweile gegen uns aufgestachelt." Dass Aidens Sohn an dessen Seite stehen würde, war an sich nicht überraschend. Doch tatsächlich hatte es Zeiten gegeben, in denen Nates Cousin regelmäßig Zeit mit ihm verbracht hatte. Bevor alles den Bach runtergegangen war.

Aufeinmal sah Alex tatsächlich alt aus, wie er sich seufzend die Schläfen massierte. "Jedenfalls ist es jetzt dringend. Alia wird immer schwächer und kann sich kaum noch ihren Fähigkeiten bedienen", er warf einen Blick auf mich, "und du hast ebenfalls lang genug darauf gewartet."

Ich lächelte mühsam. Mein Wunsch nach einem menschlichen Dasein hatte von meiner ersten vampirischen Lebensminute an bestanden. Egal, wie oft Nathan meine Verwandlung rechtfertigte, ich war nie einverstanden damit gewesen.

"Nun denn, ihr beide macht euch noch heute auf den Weg zu dem Urvampir", sagte Alex plötzlich.

Das kam unerwartet.

"Was?", stieß Nathan nun neben mir aus. "Hast du keine anderen Leute dafür, Dad? Ist niemand aus der Garde frei?"

"Nein. Durch die Lage in Mexiko ist fast die gesamte Garde an der Grenze, abgesehen von unserem Personenschutz hier. Ihr seid die besten Leute, die ich aktuell zur Verfügung habe. Ihr sollt ja auch gar nicht kämpfen", versuchte er uns zu beruhigen, "im besten Fall zumindest."

Ich war immer noch zu perplex, um einen klaren Gedanken fassen zu können.

"Es sollte nicht weit sein, eine Stunde Fahrt vielleicht. Den Rest könnt ihr im Notfall flitzen", leitete er uns an, während er seinen Autoschlüssel auf den Tisch vor Nate fallen ließ. An ihm glänzte ein schwarzer Schlüsselanhänger - ein Rahmen um ein Bild von Alia. Ihre Liebe beeindruckte mich jedes Mal wieder. Das Bild von meiner Ziehmutter, wie sie neben mir auf dem Bett saß in meinen ersten Nächten, und mir immer wieder von ihrer Beziehung erzählte, wenn ich an die gescheiterte Ehe meiner Eltern gedacht hatte, erschien vor meinem geistigen Auge.

Ich habe nicht gezögert, als er es mir anbat, hallte ihre Stimme in meinem Kopf. Ich war nicht sicher, ob jeder Normalsterbliche zusagen würde, sich beißen zulassen, nachdem sich sein Date als Vampir entpuppt hat. Wobei man Alia als damalige Hexe wohl kaum als 'normalsterblich' bezeichnen konnte.

Kurz blickte ich neben mir auf das Produkt ihrer Liebe. Ein hochgewachsener Junge mit einem definierten Körperbau und bewundernswerten Eigenschaften in seinen Zwanzigern - älter wurden Vampirbabys nämlich äußerlich nie. Nate blickte mich entnervt an.

"Was?", fragte ich, als er mich eindringlicher ansah.

"Hast du zugehört?", schnaubte er. Ich warf einen schuldbewussten Blick zwischen ihm und Alex hin und her.

"Toronto", sagte Alex vorwurfsvoll, "ihr fahrt nach Toronto." Kurz betrachtete er seinen Autoschlüssel, an dem silberne Buchstaben vor rotem Hintergrund das Wort Bugatti formten. Dann zog er ihn kurzerhand von Nate weg und steckte ihn wieder ein. "Fahr du lieber Kat", er lächelte mir zu. 

Ich merkte, wie Nate sich neben mir aufrichtete, doch bevor er zu einem Protest bezüglich meiner Fahrkünste ansetzten konnte, kam ich ihm zuvor: "Kann ich Alice mitnehmen?", fragte ich impulsiv. Ich könnte niemals mehrere Stunden mit Nathan im selben Auto verbringen, ohne den Verstand zu verlieren.

"Und ich Finn?", ergänzte Nathan überrumpelt. Scheinbar hatte er dieselben Gedanken, wie ich.

Alex blies erschöpft Luft aus der Nase aus und lehnte sich zurück. "Nehmt mit, wen ihr wollt, hauptsache ihr findet den Urvampir und kriegt ihn dazu mitzukommen. Danach gebe ich euch weitere Anweisungen und wir kümmern uns um den Vollzug des Rituals. Alia wird den Zauber sprechen, sie beherrscht die Magie am meisten von uns allen."

Es war nicht so, als würden wir anderen überhaupt auch nur ein Fünkchen Magie in uns haben. Alia war als Hybrid aus Hexe und Vampir als Einzige dazu fähig. Neben weiteren normalen Hexen der Garde.

"Wie wird das Ritual genau ablaufen?", hakte ich nach.

Alexander stand wortlos auf und lief zu einem der hohen Bücherregale. Ohne Probleme erreichte er die oberste Reihe und zog ein dunkles Buch hervor.

"Es ist ein Feuerritual. Hierin kannst du nachlesen." Er reichte mir das Buch. "Kurzgefasst brauchen wir das Blut des letzten Urvampires - der am Ende der Zeremonie sterben muss", erklärte Alex kühl.

Perplex nahm ich das Buch entgegen. Einen Urvampir töten?

"Das ist so gut wie unmöglich! Urvampire können nur durch ihre eigene Hand oder durch einen seltenen hölzernen Pfahl sterben", rief ich mein Wissen auf.

"Oder wir reißen ihm das Herz raus", meinte Nathan trocken und zwinkerte mir zu.

Macho.

"Viel Spaß dabei, einen tausend Jahre alten Vampir zu überlisten. Sein Vertrauen wirst du ja wohl kaum gewinnen können - "

"Hey! Hört auf euch zu fetzen, das kann ich nicht gebrauchen. Sucht euch eure Leute und macht euch auf den Weg. Noch heute Abend", unterbrach Alexander uns forsch.

Er nahm wieder in seinem Lederstuhl Platz und wandte sich seinem Computer zu. Die Diskussion war beendet. Ich erhob mich leise, verließ den Raum vor Nathan,und flitzte den Flur hinunter in mein Zimmer. Sofort versank ich in Gedanken.

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28.10.2013 Reithalle - Collins' Trainingsareal

"Das hast du gut gemacht", flüsterte das blonde Mädchen. Kaitlyn konnte sie gut hören, obwohl sie mehrere Meter von ihr entfernt in der leerstehenden Reithalle war, die zum Trainingsareal gehörte. "Du musst dich ganz auf dein Gehör konzentrieren."

"Das ist so cool. Danke, Sofia." Kaitlyn schenkte dem Mädchen ein strahlendes Lächeln. Augenscheinlich bewegten sich ihre Lippen zwar kaum, doch die frischgebackene Vampirin konnte genau hören, wie Sofia ein "Gerngeschehen" wisperte.

"Ich und Noel haben es dir gestern genauso zeigen wollen", der dunkelhaarige Junge schlenderte mit verschränkten Armen auf die Mädchen zu, "du hast dich bei Sofia nur mehr angestrengt." Kaitlyn steckte grinsend die Zunge raus, während der Junge einen Arm um Sofia legte.

"Ich bin einfach die bessere Mentorin, Nate." Sofia sah auf und schenkte ihm ein verführerisches Lächeln.

Oh, ja. Du bist talentiert in vielen Gebieten", flüsterte Nathan in ihr Ohr, als er ihre blonden Haare zurückstrich.

"Hey, Leute", Kaitlyn hob vorsichtig die Hand, "wie kann ich diesen Lausch-Modus wieder ausstellen? Ich will das echt nicht mitkriegen."

Sofia lachte herzlich auf und drückte Nathan einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich wieder Kat zuwandte.





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