6 Warten

Und es war wie im Märchen. Das Feuerwerk, der Geruch des Grases, in dem wir lagen, mein erster richtiger Kuss...

Es klingelt an der Tür. Schnell speichert Eva ihren Tagebucheintrag und klappt den Laptop zu. Ernsthaft, fragt sich sich in Gedanken, wie im Märchen? Den Eintrag werde ich noch einmal überarbeiten müssen, sonst kotze ich, wenn ich das in zwei Monaten durchlese.
Trotzdem lächelt Eva und fühlt sich beschwingt, als sie Leonie die Tür öffnet. In ein paar Tagen wird ihre Freundin für vier Monate ins Ausland ziehen und Eva hat sie vorher zu einem Essen ihrer Wahl eingeladen.
"Hallo Weltreisende! Schon alles gepackt?"
"Haha Weltreisende", lacht Leonie. "Von wegen. Ich reise doch nur bis Belgien."
"Belgien... liegt in der Welt", sagt Eva schulterzuckend, doch Leonie blickt sie argwöhnisch an.
"Was hat dieses Lächeln zu bedeuten?"

"Nichts. Ich freue mich nur, dich noch ein letztes Mal sehen zu dürfen, bevor du abhaust."
Leonies argwöhnischer Blick ruht noch immer auf ihr.
"Uuuund..." Eva zeigt theatralisch auf den Berg Gemüse auf dem Tisch und seufzt lächelnd. "Ich frage mich, womit ich verdient habe, dass du dir ausgerechnet Ratatouille wünschst!"
"Es gibt doch auch Gemüsemischungen aus der Tiefkühltruhe", merkt Leonie trocken an.
"Du spinnst wohl! Wenn ich schon ein Abschiedsessen für meine beste Freundin koche, dann mache ich das richtig!"
"Ich werde dich unterstützen, in dem ich für uns Tee koche", antwortet Leonie zwinkernd.

In Eva sprudelt es, doch sie weiss nicht, wie sie Leonie erzählen soll, was sie getan hat. Während diese Wasser aufsetzt, beginnt Evas Handy zu vibrieren. Oh nein! Doch nicht jetzt, denkt sich Eva. Panisch klemmt sie sich das Handy zwischen die Beine um die Vibration zu dämpfen und hackt das Gemüse laut auf ihrem Holzbrett.
"Vibriert da etwas? Ist das mein Handy?", fragt Leonie laut und greift nach ihrer Tasche. Eva schüttelt rot angelaufen den Kopf: "Nein, es ist meins."
Sie holt das Handy unter dem Tisch hervor und legt es auf den Tisch.
"Mamoude?" Leonie hebt eine Augenbraue. "Seit wann ruft der dich denn an? Er sollte doch wissen, dass du nicht gerne telefonierst."
"Ehm...ja", stammelt Eva. "Deswegen gehe ich ja auch nicht ran." Das Handy verstummt.

"Vielleicht war es dringend?", merkt Leonie an.
"Bestimmt nicht. Ansonsten ruft er bestimmt noch einmal an oder schreibt mir."
Ich kann ihr nicht davon erzählen, glaubt Eva. In ein paar Tagen ist Leonie im Ausland und was mache ich dann? Ich kann auf ihre moralische Unterstützung nicht zählen. Ich muss da alleine durch. Ausserdem, redet sie sich ein, wissen wir doch gar nicht, was wir jetzt sind. Das war ein Kuss, na und? Niemand sagt, dass etwas daraus wird.

Eva spürt Leonies skeptischen Blick und merkt, dass sie aufgehört hat, das Gemüse zu schneiden.
"Ich habe dich gefragt, ob du Schwarztee möchtest."
"Oh ehm... Ja gerne. Tut mir leid, Leonie."
"Du hast ihn doch nicht kürzlich gesehen und mir nichts davon erzählt, oder?" Eva findet es unangenehm, dass Leonie immer zu wissen scheint, was in ihr vorgeht.
"Wen?", fragt sie deshalb betont unschuldig.
"Das fragst du auch noch?"
"Mamoude..." Eva hält kurz inne um ihre Gedanken zu sortieren und überlegt, was sie Leonie erzählt.

"Naja, also doch... Aber es war... nicht so speziell."
Leonie stellt die Tassen Tee auf den Tisch und setzt sich Eva gegenüber hin.
"Wann?"
"Donnerstag. Es ist noch nicht so lange her."
"Und was habt ihr gemacht?", hackt Leonie neugierig nach.
"Da war dieses Fest am See. Wir waren mit seinen Freunden unterwegs und haben ein Bier getrunken. Und danach gab es ein Feuerwerk."
"Oh, wie romantisch!", spottet Leonie und hält sich mit gespieltem Entzücken die Hände an die Wangen bevor sie loslacht.
"Oh je", sagt sie dann. "Naja, für ihn muss das wohl wirklich romantisch gewesen sein. Ich hoffe nur, du hast dich nicht zu sehr gelangweilt. Oder er hat versucht dich bei seinen Freunden als deine Freundin vorzustellen. Stell dir vor, in was für peinliche Situationen er dich bringen könnte."
"Nichts dergleichen", erwidert Eva. "Er kennt mich doch, und er will mich ja nicht in unangenehme Situationen bringen. So etwas nennt man Respekt."
Leonie verdreht die Augen: "Respektvoll wäre es, wenn er dich nicht anruft und vor allem wenn er respektiert, dass du nichts von ihm willst."

Eva merkt, dass ihre Worte nach hinten losgegangen sind. Doch nun, da Leonie sich über Mamoude aufregt, hält sie es für keine gute Idee mehr, ihr von dem Kuss und... von den Berührungen zu erzählen. Sie soll nicht denken, sagt sich Eva, dass er mich letzten Endes dazu gedrängt hat.
Für den Rest des Abends wechseln die beiden das Thema und Eva ist froh darüber. Sie ist sich sicher, dass das zwischen Mamoude und ihr ohnehin bloss eine einmalige Sache war. Wir sind zu verschieden und kommen aus anderen Welten, denkt sie sich. Ich hätte ihm meine Zuneigung gar nicht erst zeigen sollen.

***

Abends kann Eva nicht einschlafen. Sie ärgert sich darüber, den Anruf nicht entgegen genommen zu haben. Und weshalb hatte Mamoude ihr danach nicht geschrieben?
Am nächsten Morgen fühlt sie sich müde und ausgelaugt. Seit letzter Nacht weiss sie nur, dass sie Mamoude unbedingt wieder sehen möchte. Sie entschliesst sich dazu, ihm eine Nachricht zu schreiben.

Hey. Tut mir leid, dass ich gestern nicht zurückgerufen habe. Ich war beschäftigt.

Du warst bei deinen Eltern, oder?

Was? Nein, war ich nicht.

Mamoude weiss, dass Evas Eltern nichts von ihm wissen. Sie hat ihnen nichts von ihm erzählt, da sie sich sicher ist, dass sie in ihm einen radikalen Kriminellen sehen würden. Sie bedauert die Vorurteile ihrer Eltern und wünscht sich, sie hätte den Mut, ihnen das Gegenteil zu beweisen.

Chérie, lüg mich nicht an. Du kannst es ruhig sagen.

Ich war nicht bei meinen Eltern.

Eva entschliesst sich dazu, Mamoude nicht mehr zu schreiben. Wenn sie ihm sagen würde, dass Leonie bei ihr war, würde er erraten, weshalb sie nicht abgenommen hat. Sie möchte ihn nicht verletzen, denn er hatte es nicht verdient, dass man über ihn schweigt. Stattdessen fragt sie Mamoude, was er heute macht.

Ich habe noch nichts geplant, Chérie. Vielleicht werde ich am Abend an den See gehen.

Dann können wir uns ja vorher treffen. Wenn du möchtest.

Klar, warum nicht.

"Klar, warum nicht?", äfft Eva Mamoudes Nachricht genervt nach. Das hätte ja kaum begeisterter klingen können. Sie verabreden sich gegen 15:00 Uhr auf dem Platz über dem Bahnhof, dort, wo sie sich das erste Mal versehentlich geküsst haben.

***

Eva schaut auf die Uhr. Sie haben bereits vor einer Viertelstunde abgemacht und sie fragt sich, wo Mamoude bleibt. Sie checkt ihre Nachrichten, doch Mamoude hatte ihr nicht geschrieben. Deshalb beschliesst sie, ihn anzurufen.
"Hallo?", meldet sich Mamoude.
"Wo bist du? Wir haben doch abgemacht."
"Ja, ich weiss. Ich bin noch zu Hause. Aber ich laufe jetzt zum Bahnhof und nehme den Zug in zehn Minuten. Ich bin bald da. Warte auf mich."

Genervt legt Eva auf. Sie schlendert zu einem Bücherladen und kauft ein Taschenbuch um sich die Wartezeit zu verkürzen. Unser erstes Treffen nach unserem ersten Kuss und er verspätet sich, ärgert sich Eva. Wuttränen sammeln sich in ihren Augen, aber sie blinzelt sie weg. Sie setzt sich auf eine sonnige Bank und beginnt zu lesen. Ihr Handy hat sie auf laut gestellt und neben sich gelegt, damit sie mitkriegt, wenn Mamoude sie anruft sobald er da ist.
Vierzig Minuten vergehen, ohne dass Mamoude sich gemeldet hat. Eva ruft ihn erneut an.
"Hallo?"
"Wo steckst du?", fragt Eva genervt.
"Ganz ruhig, ich habe den Zug verpasst. Ich habe einen Freund getroffen."
"Schön", sagt Eva sarkastisch, "wann bist du da? Du weisst schon, dass ich hier auf dich warte? Ich hätte auch besseres zu tun."
"Chérie, ich komme. Hab nur Geduld. Es war nicht meine Schuld, okay?"
"Wann bist du hier?"

Eva merkt, dass sie sich wütend anhört, dabei hat sie in Wirklichkeit tatsächlich nichts besseres zu tun und geniesst es sogar, auf der Bank ihr neues Buch zu lesen.
"Um 17:30 Uhr. Versprochen, Chérie."
Da Mamoude jedoch auch um 17:40 noch nicht erschienen ist, beschliesst Eva, ihre Eltern anzurufen. Sie ist enttäuscht und versteht nicht, weshalb Mamoude sie so lange hinhält. Wenn er sie nicht sehen wollte, hätte er ihr das doch einfach sagen können. Eva ist sich sicher, dass ein Besuch bei ihren Eltern sie ablenken wird.

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