27 Ausflüchte
Die nächsten Tage schleichen dahin und fühlen sich an wie Ewigkeiten. Eva hört oft das Lied, das Mamoude ihr gezeigt hat. Er selbst meldet sich nicht von sich aus und antwortet auf Evas Nachrichten meist einsilbig und erst nach Stunden. Die übrigen vier Kondome hat Eva in ihre Nachttischschublade gelegt. Sie hofft, dass sie noch Gelegenheit haben wird, sie zu brauchen.
Leonie hatte sie gefragt, was es für Neuigkeiten gibt. Jedoch fällt Eva nichts ein, was sie ihr antworten könnte. Wenn ich ihr erzähle, wie ich mich fühle, wird sie mich nicht verstehen, denkt Eva. Als sie ihr nach einem Tag noch immer nicht geantwortet hat, ruft Leonie sie an. Sie ist in der Küche und hört es nicht, sieht darauf aber ihre Nachrichten.
Hast du vergessen, mir zu antworten oder ist etwas nicht in Ordnung?
Ist Mamoude schon gegangen?
Eva möchte mit nein antworten, stellt dann aber auf einmal fest, dass sie sich dessen gar nicht sicher ist. Vielleicht ist er untergetaucht, versucht sie zu vergessen und baut sich in einem anderen Land gerade ein neues Leben auf. Eva schluckt schwer und antwortet dann auf Leonies Nachricht.
Nein, seine Ausschaffung ist am vierten November. Es bleiben also noch ein paar Tage.
Bei mir ist sonst alles beim Alten, wie sieht es bei dir aus?
Die beiden schreiben sich belanglose Dinge und Eva kichert über den Humor ihrer Freundin und wie lustig sie skurrile Geschichten erzählen kann.
Dann setzen Evas Tage ein. Auf der einen Seite verspürt sie eine grosse Erleichterung, andererseits ist sie auch ein wenig enttäuscht. Nachdem sie mit Mamoude im Asylheim versehentlich ungeschützt Liebe gemacht hat, befürchtete sie wirklich, schwanger zu sein. Mamoude hatte sie wegen ihrer Bedenken ausgelacht. Er war der Meinung, dass wegen eines einzigen Males wohl nichts passieren würde.
Wenn sie Mamoude jetzt aber in den nächsten Tagen sieht, können sie gar nicht Liebe machen. Wenn sie ihm erzählt, dass sie ihre Tage hat... würde er dann trotzdem kommen? Sie möchte wirklich gerne mit ihm Liebe machen, aber das soll nicht der einzige Grund für sie sein, einander zu sehen. Eva stösst einen langen Seufzer aus. Falls er überhaupt noch hier ist. Schnell schiebt sie den Gedanken beiseite.
Sie schreibt Mamoude ständig und versucht, ihn auf jede erdenkliche Art dazu zu bringen, dass sie sich wieder sehen können. Aber Mamoude ist immer zu müde oder zu beschäftigt. Er versucht, Gegenstände, die er nicht braucht oder nicht mitnehmen kann, an Freunde zu verkaufen. Mich kann er doch aber auch nicht mitnehmen, denkt Eva verzweifelt. Ist das nicht Grund genug, mich noch so oft wie möglich sehen zu wollen?
Sie verbirgt ihren Frust und ihre Verzweiflung hinter der Arbeit. Dort wird sie geliebt und wertgeschätzt. Manchmal blickt sie nach der Arbeit zu der kleinen Mauer, auf der Mamoude einmal sass und auf sie wartete. Wenn sie regelmässige Arbeitszeiten hätte, würde sie jeden Tag erwarten, dass er da sitzt und sie überrascht. Aber so kann sie nicht damit rechnen, denn er würde vielleicht Stunden warten nur um dann feststellen zu müssen, dass sie schon längst Feierabend hat. Sie kann sich auch nicht vorstellen, dass Mamoude sie auf diese Weise überraschen würde.
Schliesslich sind ihre Tage vorbei und es sind etwa anderthalb Wochen vergangen, seit sie Mamoude zuletzt gesehen hat. Unerwartet ruft er sie an, während sie am staubsaugen ist. Da sie mit Kopfhörern laut Musik hört und diese auf einmal verstummt, bemerkt sie Mamoudes Anruf trotzdem. Ihr Herz macht einen Satz und schlägt dann schneller. Vor Freude könnte sie auf und ab hüpfen. Sie nimmt Mamoudes Anruf entgegen und bemüht sich, normal, vielleicht sogar etwas reserviert zu wirken.
"Eva? Ich vermisse dich. Bitte komm zu mir."
"Was? Ich...", setzt Eva an doch Mamoude unterbricht sie: "Eva. Ich möchte nicht mit dir diskutieren. Sag mir einfach, wann du kommen kannst."
"Ich arbeite nebenbei auch noch! Ich kann nicht einfach jedes Mal wenn du mich bittest eine Weltreise unternehmen."
Sofort tut ihr diese Übertreibung leid. Denn genau das ist es, was sie Mamoude versprochen hat: Eine Weltreise um ihn zu sehen, wenn es nötig ist. Über diese vergleichsweise kurze Zugfahrt sollte sie sich doch jetzt nicht aufregen. Natürlich muss sie sich nicht herbestellen lassen, aber sie möchte Mamoude doch auch unbedingt sehen!
"Willst du nicht lieber zu mir kommen? Hier sind wir ungestörter", fragt sie Mamoude in sanfterem Tonfall. Mamoude zuliebe ist sie sehr gerne ins Asylheim gegangen. Aber nun kennt sie die Zustände dort und möchte auf den Lärm der betrunkenen Nachbarn in der Nacht und die dreckigen Toiletten gerne verzichten. Ausserdem fühlt sie sich noch immer wie ein Eindringling, der sie ja auch ist. Das Zimmer nicht verlassen zu dürfen, erst abends zu kommen und morgens noch vor Sonnenaufgang wieder zu verschwinden erachtet sie als nicht besonders romantisch.
"Eva..." Mamoude atmet tief durch und lässt sich Zeit, bevor er weiterredet. "Du kennst meine Gründe. Versuch doch bitte, mich zu verstehen und komm einfach. Bitte Eva!"
Vermutlich möchte er sich nicht mehr zu weit von zu Hause entfernen, aus Angst in eine Kontrolle zu geraten, denkt Eva. Sie schluckt ihren Ärger hinunter, denn Mamoude, der nicht arbeitet, könnte viel leichter zu ihr kommen. Aber sie versteht ihn und sagt nichts mehr dazu.
"Na gut. Ich komme."
Sie hofft, dass Mamoude ihr Lächeln hört, sie spürt auf jeden Fall seine Erleichterung am anderen Ende der Leitung. Ich bin ihm offenbar doch nicht egal, stellt sie mit Genugtuung fest. Er möchte mich wirklich noch sehen.
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