22 Fragen und Analysen

Leonie, kann ich dich anrufen?

Eva schreibt ihrer besten Freundin eine Textnachricht. Da beide nicht gerne telefonieren und nicht allzu komplexe Themen lieber stundenlang in Textnachrichten besprechen, fragt Eva sie vorher. Sie glaubt nicht, Leonie alles in geschriebener Form erklären zu können. Am Telefon wäre es bestimmt leichter.

Ich sitze gerade noch in einer Vorlesung, aber ich rufe dich nachher an. Worum geht es?

Mamoude muss das Land verlassen und ich weiss nicht, was ich tun soll.

Sei froh, dann bist du ihn los.

Schockiert schaut Eva auf Leonies Nachricht. Sie weiss nicht, dass sie mit Mamoude zusammen ist und so oft, wie sie sich über ihn beschwert hat, sollte sie ihre Nachricht eigentlich nicht verwundern. Aber sie weiss auch, dass meine Beschwerden oft übertrieben waren, denkt Eva, und ich seine Aufmerksamkeit stets genoss, noch bevor wir ein Paar wurden. Da sie Leonie nicht antwortet, schreibt diese ihr eine weitere Nachricht.

Tut mir leid, ich weiss, dass du nicht glücklich darüber bist und für ihn ist das sicher auch schwer. Aber du kannst dagegen nicht viel unternehmen.

Ich rufe dich nachher an, du hast recht, darüber sprechen wir wirklich am besten am Telefon.

Um sich abzulenken, hört Eva laut Musik und tanzt dazu auf dem Teppich. Hoffentlich macht sie nicht zu viel Lärm, denkt sie dabei, denn wenn die Nachbarn klingeln... nein, dafür hat Eva heute keine Nerven.
Es sind schon einige Tage vergangen, seit Mamoude ihr von seiner Ausweisung erzählt hat. Durch ewige Gedankenspiralen und Tagebucheinträge hat sie ihren Kopf nicht klarer kriegen können und hofft nun auf Leonies Meinung und Rat. Als ihr Handy klingelt, geht Eva sofort ran, ohne zu überprüfen, ob es tatsächlich Leonie ist.
"Salut Chérie, wie geht es dir?"
"Mamoude? Ehm ja, gut. Und dir?"
"Ja, du wirkst überrascht, dass ich dich anrufe."
"Ja. Nein. Ich... ich bin nicht überrascht, ich habe nur auf einen anderen Anruf gewartet."
Mamoude fragt, ob sie sich bei Eva treffen können. Er möchte ungestört sein. Möchte er sie ungestört stöhnen hören, fragt sich Eva. Keinen unerwarteten Besuch hereinplatzen lassen? Ausschlafen? Sie lächelt, denn eigentlich ist es ja egal.

Mamoude möchte wieder am Mittwoch nach dem Training zu Eva kommen. Sie hält es für reichlich spät, doch auf der anderen Seite ist es ihr ziemlich egal, wenn sie ihn doch nur noch oft genug zu Gesicht bekommt.
Da sie noch immer auf einen Anruf von Leonie wartet, legt Eva schnell wieder auf. Ihr Anruf folgt tatsächlich nur Sekunden später. Nachdem sie mit ihrer Geschichte geendet hat, natürlich in angepasster Form, nicht etwa halb nackt nach hartem Sex, stellt Leonie ihr direkte Fragen. Eva ist dankbar für die Gabe ihrer Freundin, Fragen direkt zu stellen ohne um den heissen Brei zu reden und viel Interpretationsfreiraum zu lassen. Aber manchmal fühlt sie sich durch ihre Fragen auch unwohl.
"Mamoude wohnt also im Asylheim und du hast ihn tatsächlich dort besucht? Ist das überhaupt erlaubt?"
"Nein, ich war auch nur nachts dort, nach Sonnenuntergang. Dann kontrollieren sie nicht mehr", erklärt Eva.
"Wenn es verboten ist, finde ich, solltest du es auch sein lassen", erwidert Leonie. "Hast du mir nicht erzählt, er hätte eine Wohnung, die er sich mit einem Freund teilt? Du bist nie dort gewesen. Was, wenn er dich diesbezüglich angelogen hat?"

Diese Frage hat Eva sich auch schon gestellt.
"Er hat mich oft eingeladen", antwortet sie deshalb. "Aber ich habe mich stets geweigert, zu ihm nach Hause zu gehen. Nicht zuletzt deinetwegen, da du mir immer sagtest, ich dürfe nicht immer jedem Typen blindlings vertrauen."
"Genau, jetzt ist es meine Schuld", sagt Leonie. "Warum gingst du jetzt doch zu ihm? Und dann noch ins Asylheim? Hat dich niemand seltsam angesehen?"
Eva denkt an Tarek und muss lachen.
"Naja. Nein, wie gesagt, es war ja nachts."
"Hast du bei Mamoude übernachtet? Gibt es etwas, das du mir nicht erzählst?", hakt Leonie weiter nach. Eva versichert ihrer Freundin mit schlechtem Gewissen, dass sie stets mit dem letzten Zug nach Hause gefahren ist. Und so stellt sie Frage um Frage, bis sie die Situation wohl besser versteht als Eva selbst.

"Ich glaube nicht, dass untertauchen längerfristig funktionieren wird. Früher oder später landet er in Afrika", sagt Leonie schliesslich. "Es klingt hart, aber ich glaube, du solltest dich mental darauf vorbereiten, dass du ihn nie wieder sehen wirst."
Eva hat Leonie von ihrem Versprechen erzählt, das sie Mamoude gegeben hat. Sie hat gelacht und gesagt, dass das ja sehr romantisch sei. Eva ruft sich ihre Worte in Erinnerung: "Insbesondere hat er dir das Versprechen abgenommen, als du noch völlig ahnungslos warst. Das zeugt nicht gerade von grossem Vertrauen in dich."
Eva seufzt. Leonie versteht nicht, was sie fühlt. Selbst wenn sie ihr alles erzählen würde... Sie war noch nie in einer Beziehung, noch nie wirklich verliebt. Wie sollte sie das verstehen können?
"Wie lange weiss es Mamoude schon? Wie lange hat er es dir vorenthalten?", stellt Leonie eine abschliessende Frage und Eva nimmt sich vor, Mamoude darauf anzusprechen.

Am Dienstag geht Eva am Nachmittag glücklich in ihre Kaffeepause. Da schönes Wetter ist, zieht sie ihre Jacke an und setzt sich draussen auf eine Bank. Sie wärmt ihre kalten Hände an der heissen Kaffeetasse und stellt sich vor, Mamoude würde neben ihr sitzen. Er würde seinen Arm um ihre Schulter legen und ihr den Milchschaum von den Lippen küssen. Eva lächelt und stellt sich romantische Dinge vor, die Mamoude sagen könnte, als ihr Handy sie auf einmal aus ihren Gedanken reisst. Oftmals checkt Eva ihre Nachrichten in der Pause, stellt ihr Handy dann aber gleich wieder aus, damit sie es nicht vergisst. Sie schaut auf das Display und sieht Mamoudes Namen aufleuchten. Sie wollten sich doch erst morgen treffen, schiesst es Eva durch den Kopf. Hoffentlich ist ihm nichts dazwischengekommen, denkt sie, als sie das Telefon abnimmt.
"Eva, ich vermisse dich so sehr. Können wir uns heute schon treffen? Bist du zu Hause? Kann ich zu dir kommen?"

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