2 | Angriffspunkte
»Er hat dir seine Nummer gegeben?« Markus klang genauso ungläubig, wie Neele es erwartet hatte.
»Ja. Für den Fall, dass ich noch Hilfe brauche mit dem Abschleppdienst, hat er gesagt.«
Mit einem Becher Tee in den Händen saß sie auf dem Sofa ihres besten Freundes, während Markus skeptisch auf seine Notizen schaute. Sie hatte am Samstagvormittag sofort angerufen, um von ihrem Erlebnis zu erzählen. Dass Markus sich die Geschichte natürlich nicht einfach anhören würde, sondern das ganze wie ein Zeugengespräch behandeln würde, hätte sie sich denken können. Wenn es um von Falkenburg ging, war Markus stur.
Sie nahm einen Schluck vom heißen Tee und wartete darauf, dass ihr Freund sich endlich wirklich ihr zuwendete. Sie wollte von ihm hören, dass sie nicht in Gefahr war. Dass es kein Problem war, dass ein Mörder ihr seine Nummer gegeben hatte. Dass sie den Vorfall zu den Akten legen konnte und nie wieder mit diesem Mann in Berührung kommen würde.
Markus hingegen war in Gedanken vertieft. Seit von Falkenburg im letzten Sommer den Freispruch bekommen hatte, hatte er sich das Gehirn zermartert, wie er den Fall neu aufrollen konnte. Er wusste, dass er richtig lag. Außer dem Sohn hätte niemand Karl Ferdinand von Falkenburg ermorden können. Die Angestellten hatten alle ein Alibi und die Ehefrau war in München im Theater gesehen worden, hunderte Kilometer südlich vom Anwesen in Brandenburg.
Am schlimmsten an der ganzen Sache war von Falkenburgs Verhalten gewesen. Als hätte er von Anfang an gewusst, dass er den Freispruch kriegen würde. Und dann dieser Satz, den er im Interview nach dem letzten Prozesstag gesagt hatte, direkt an ihn gewendet. »Herr Schröder, ich halte viel von Ihnen und habe ihre Karriere in den letzten zwei Jahren aufmerksam verfolgt, wie sicher jeder andere hier in Deutschland. Vielleicht ist es gut, dass Sie nun zum ersten Mal falsch lagen. Jeder von uns macht Fehler, und je früher wir das lernen, umso mehr können wir wachsen. Ich wünsche Ihnen eine lehrreiche Zukunft. Auf dass Sie stets das Glück haben werden, dass Ihre Fehler nie jemanden unschuldig hinter Gittern bringen.«
Er spürte, wie alleine die Erinnerung an diese arroganten Worte seinen Puls wieder hochtrieben. Er gab sich einen Ruck und legte Stift und Notizbuch weg. »Wie geht es dir jetzt?«
Die Art, wie Neele ihn anlächelte, sagte Markus ganz klar, dass er diese Frage deutlich zu spät gestellt hatte. Er wappnete sich für eine fiese Spitze, doch seine beste Freundin blieb ruhig. »Gut. Es ist ja nichts geschehen.«
Zerknirscht schaute Markus auf seine gefalteten Hände. »Tut mir leid, Neele. Das hätte vermutlich meine erste Frage sein sollen. Ich bin froh, dass er dir nichts getan hat.«
»Danke«, sagte sie schlicht und nahm lächelnd noch einen Schluck aus ihrem Becher. »Ich weiß ja, wie du wirst, wenn es um ihn geht. Ich kann's verstehen.« Mit einem Seufzen stellte sie den Becher weg und zog ihr Handy aus ihrer Handtasche. »Die Frage ist nur, was soll ich jetzt mit seiner Nummer machen?«
Wie vom Blitz getroffen richtete Markus sich auf. Schon als Neele das erste Mal gesagt hatte, dass sie von Falkenburgs Nummer hatte, hatte er ganz wage eine Idee wahrgenommen. Diese Idee hatte jetzt urplötzlich Gestalt angenommen. Vor seinem inneren Auge konnte er die Zukunft ablaufen sehen, wie er alles wieder zurecht rücken würde. »Seine Nummer, Neele! Das ist es! Das ist der Angriffspunkt!«
Noch ehe sie offensichtlich irritiert nachfragen konnte, war Markus aufgesprungen und zu seinem Schreibtisch hinüber gelaufen, wo er in der untersten Schublade zu wühlen begann. »Er hat dir seine Nummer gegeben, weil er dich noch einmal sehen will. Wieso und warum ist da völlig egal. Wir nutzen das! Du triffst dich mit ihm und horchst ihn aus! Ich wette, dass er nur darauf brennt, damit anzugeben, wie er mich ausgetrickst hat!«
Er hörte, wie Neele sich auf dem Sofa zu ihm umdrehte. »Mit ihm treffen? Aushorchen? Hast du sie noch alle? Ich bin froh, dass ich ihm einmal entkommen bin.«
Markus warf ihr über die Schreibtischplatte hinweg einen Blick zu. »Ach, dir passiert doch nichts. Ich habe hier", erklärte er, während er aus einem Gewühl von Kabeln endlich das gesuchte herauszog, »noch meine alte Ausrüstung. Wir verkabeln dich, dann kann ich mithören.« Triumphierend richtete er sich auf und zeigte ihr seine Abhörausrüstung.
»Hast du den Verstand verloren?« Echte Wut klang jetzt aus jedem Wort von Neele raus. »Du willst mich in die Höhle des Löwen schicken mit Mikrofonen und Kabeln und was weiß ich noch am Körper, während du irgendwo in sicherer Entfernung hockst und zuhörst? Du willst ernsthaft, dass ich versuche, einen Mörder auszuspionieren?«
Markus schluckte und ließ die Arme wieder sinken. Wenn sie es so ausdrückte, klang es nicht gut. Doch er wusste, dass sein Plan funktionieren würde. »Du bist dabei absolut sicher, Neele. Ich höre ja jedes Wort. Und wenn ich auch nur den geringsten Verdacht habe, dass er etwas vermutet, hole ich dich da raus.«
»Aha!«, schoss seine Freundin sofort zurück. »Also gibst du zu, dass er drauf kommen könnte, was wir vorhaben! Du gibst zu, dass es nicht ungefährlich ist!«
»Nichts an meinem Job ist ungefährlich!«, erklärte Markus ruhig. Er war sich aller Gefahren nur zu bewusst, aber genau deswegen war er so gut in seinem Job. Er kalkulierte das Risiko vorher und bereitete sich auf alle Situationen vor. Er würde Neele nicht kopflos ins kalte Wasser schmeißen. »Okay, schau mal. Ich sage nicht, dass dir mit absoluter Sicherheit nichts passieren kann. Aber wenn wir uns gemeinsam vorbereiten und alle möglichen Probleme durchdenken, dann ist die Gefahr für dich wirklich gering.«
Als hätte sie resigniert kam Neele zu seinem Schreibtisch hinüber und setzte sich auf die Tischplatte. »Du meinst es also ernst. Okay. Nehmen wir mal an, ich lasse mich darauf ein. Nur angenommen, ich habe nicht zugesagt. Wie stellst du dir das vor? Ich bin nur eine einfache Kellnerin, dich sich mit Minijobs über Wasser hält. Ich bin kein gewiefter Spürhund wie du.«
Markus tat es ihr nach und setzte sich so auf seinen Schreibtisch, dass sie Schulter an Schulter gelehnt aus dem großen Fenster schauen konnten. »Das Ziel ist es nicht, dass du ihn dazu bringst zuzugeben, dass er seinen Vater ermordet hat. Das wird er niemals tun, zumindest nicht vor Fremden. Ich brauche nur einen Angriffspunkt. Irgendetwas, was er fallen lässt, wo ich anschließend selbst nachbohren kann.«
»Und was soll das sein?« Neele klang immer noch skeptisch.
»Wie gesagt, das können wir noch nicht wissen.« Markus rückte ein Stück von ihr ab, um sie ansehen zu können. »Der Freispruch kam vor allem, weil wir nicht nachweisen konnten, dass er am Tag des Mordes im Haus war. Keiner vom Personal hat ihn gesehen. Er hat kein Alibi, aber alle Angestellten haben ausgesagt, dass er an dem Tag nie im Haus war. Aber das Personal war zum Zeitpunkt des Mordes auch gar nicht selbst im Haus! Und das Haus ist groß. Vielleicht gibt es Wege rein, die das Personal nicht kennt. Wenn er irgendetwas in die Richtung fallen lässt, wäre das hilfreich.«
Neele schaute ihm lange in die Augen, dann nickte sie und legte ihre Kopf auf seiner Schulter ab. »Okay. Weil du es bist. Ich weiß, wie sehr dich dieser Fall belastet. Ich treffe mich mit von Falkenburg. Aber nur das eine Mal. Mehr nicht.«
Lächelnd schlang Markus seine Arme um sie. »Danke. Ich meine das ernst. Ich weiß, dass du eigentlich nicht willst, umso mehr bedeutet es mir, dass du mir hilfst.«
Er konnte spüren, wie sie in seinen Armen kicherte. »Ich will nur verhindern, dass du ihn irgendwann blind vor Rache selbst umbringst. Das wäre es noch: der gefeierte Privatdetektiv, der den Mörder tötet, den er nie überführen konnte.«
Markus stieg in das Lachen ein, doch tief in seinem Inneren wusste er, dass sie recht hatte. Mehr als einmal hatte er darüber nachgedacht, seine Pistole aus dem Safe zu nehmen und kurzen Prozess mit von Falkenburg zu machen. Manchmal waren der Justiz die Hände gebunden. Manchmal gab es Verbrechen, bei denen man den Täter kannte, aber nicht genügend Beweise hatte, um vor Gericht einwandfrei die Schuld zu zeigen. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft hatten damals seine Auffassung geteilt. Selbst die Medien waren auf seiner Seite gewesen. Alle wussten, dass der Sohn den Vater ermordet hatte. Aber selbst wenn der Richter das auch geglaubt hatte, die Beweise hatten nicht gereicht.
Seit er vor drei Jahren seinen ersten großen Fall medienwirksam gelöst hatte, hatte Markus sich nie geirrt. Er wusste, wenn jemand ein Mörder war. Und bisher hatte er es immer beweisen können, weil er nie lockerließ. Wenn von Falkenburg verurteilt worden wäre, hätte er sicher lebenslänglich bekommen. Warum also sollte er nicht zur Waffe greifen und das Leben eines Mörders beenden, das sowieso geendet hätte, wenn das Gericht anders entschieden hätte?
Aber natürlich würde er das nicht tun. Am Ende wäre das auch bloß Mord, und das war nicht die Art, wie er seine Karriere beenden wollte.
»Komm«, sagte er leise und klopfte Neele leicht auf den Unterschenkel, »soll ich dir zeigen, wie das Abhörgerät funktioniert? Ich wette, du fühlst dich besser, wenn ich dir das alles erklärt habe.«
»Klar.« Markus kannte seine beste Freundin gut genug, um aus ihrem Tonfall rauszuhören, dass sie nicht wirklich interessiert war, aber er wusste, es würde ihr guttun, mehr über den Plan zu wissen.
Zum ersten Mal seit einem Jahr hatte er das Gefühl, dass er doch noch seine Chance auf Rache bekommen würde. Mit Neele an seiner Seite würde er eine Schwachstelle finden und Konstantin Friedrich von Falkenburg ein für alle Mal als den Mörder überführen, der er war.
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