18 | Gefangen

»Absolut nichts.«

Eine tiefe Stimme drang zu ihr vor. Sie klang angespannt.

»Ja, hab ich. Wie gesagt, nichts. Ich glaub nicht, dass sie was hat.«

Neeles Kopf schwamm. Ihr war übel und ihre Schulter pochte schmerzhaft. Ihre Zunge stieß gegen etwas. Ein Knebel. Irgendein unangenehmer Stoff, der zwischen ihre Lippen gepresst worden war.

Sie hörte Schritte. Panik schoss durch ihren Körper, doch sie konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Ihre Hände waren hinter ihrem Rücken gefesselt. Etwas schnitt scharf in ihre Haut. Ein Kabelbinder vielleicht. Ihre Füße waren ebenso gefesselt.

Schnaufend versuchte sie sich aufzurichten, doch sofort jagte rasender Schmerz durch ihre Schulter. Sie lag auf ihrem verletzten Arm. Übelkeit ließ kalten Schweiß aus ihren Poren treten. Warum war ihr so übel? Und woher kamen diese rasenden Kopfschmerzen.

Vorsichtig versuchte sie, die Augen zu öffnen. Dunkelheit. Irritiert bewegte sie ihren Kopf. Ihre Schlafmaske, natürlich. Wer auch immer sie gefesselt hatte, hatte ihre Schlafmaske auf ihrem Nachttisch gefunden und gegen sie verwendet.

»Wie oft noch? Sie hat nichts.«

Die Stimme klang näher als vorher. Neele zwang ihre Übelkeit runter. Wo war sie? Der Boden unter ihr war kalt und hart. Kälter als sie es erwarten würde. Waren das Fliesen? Angestrengt tastete sie mit ihren gefesselten Füßen um sich. Ihre Schulter protestierte schmerzhaft, doch sie biss die Zähne zusammen und ignorierte es. Ihre Füße stießen gegen etwas, schoben es ohne Widerstand zur Seite. Es klang blechern.

Erleichtert atmete sie aus. Aller Wahrscheinlichkeit lag sie in ihrem eigenen kleinen Bad, gefesselt und geknebelt, aber am Leben und an einem bekannten Ort. Sie wusste nicht, wie lange sie bewusstlos gewesen war oder wie der Mann in ihre Wohnung gekommen war, aber sie war am Leben. Das war gut.

Sie wusste nicht, wer da in ihrer Wohnung war, doch sie ahnte, dass es etwas mit Hella von Falkenburg zu tun hatte. Sie war nur eine gewöhnliche Frau mit einem gewöhnlichen Leben. Niemand in ihrem normalen Umfeld würde so etwas wie das hier tun. Und der Mann suchte offensichtlich nach etwas.

Unter Schmerzen rollte Neele sich auf den Bauch. Mühsam zog sie ihre Knie an, bis sie in Position war, sich aufzurichten. Ihre Schulter protestierte heftig, doch sie gab nicht nach. Schwer atmend lehnte sie sich gegen die kalte Fliesenwand. Der Raum drehte sich um sie und die Übelkeit wallte wieder auf.

Zitternd lauschte sie in die Dunkelheit. Der Mann war verstummt, aber sie konnte immer noch hören, wie er in ihrem Wohnzimmer hin- und herging. Im Moment schien er sich keine Gedanken um sie zu machen. Das musste sie ausnutzen.

Tief holte sie Luft. Sie war nicht mehr so gelenkig wie früher, aber ihre langen Gliedmaßen zusammen mit ihrem dünnen Körper sollten es ihr trotzdem ermöglich, sich aus dieser Position zu befreien. Sie durfte sich nur nicht von den Schmerzen abhalten lassen.

Vorsichtig rotierte sie ihre Handgelenke. Der Kabelbinder riss ihre Haut auf, doch sie ignorierte es. Verbissen bewegte sie ihre Hände Millimeter um Millimeter, bis nicht mehr ihre Handrücken, sondern ihre Handflächen zueinander zeigten. Jetzt kam der schwere Teil.

Entschlossen biss Neele auf den Knebel ihrem Mund, um sich für den Schmerz zu wappnen. Sie streckte ihre Arme und schob sie unter ihren Hintern. Die Wunde an ihrem linken Arm riss auf und sie konnte spüren, wie warmes Blut ihren Arm runter rann, doch sie ignorierte es. Darum konnte sie sich kümmern, wenn sie hier lebend rausgekommen war.

Mit einem letzten Kraftakt zog sie ihre Füße an sich und dann hatte sie endlich ihre Arme vor ihrem Körper. Bebend ließ sie ihren Kopf gegen die Wand sinken, ehe sie ihre Arme zusammen hob und sich die Schlafmaske von den Augen riss. Sie blinzelte in die Dunkelheit. Ihr kleines Bad hatte kein Fenster und das Licht war aus. Nur unter dem kleinen Schlitz unter der Tür drang Licht hervor.

Sie tastete nach dem Kabelbinder an ihren Füßen. Er war enger als an ihrem Handgelenk und bewegte sich kein Stück, egal wie sehr sie versuchte, mit der vereinten Kraft ihrer Arme und Beine daran zu zerren. Seufzend ließ sie wieder davon ab.

Ihr war kalt. Ihr kleines fensterloses Bad war im Sommer immer eine Oase der Kühle, aber jetzt gerade, nur in Hotpants und Top gekleidet, auf dem Boden sitzend, wünschte sie sich, dass es wärmer wäre.

Ihr Blick wanderte zur Tür. Sie war zu, aber Neele wusste, dass man ihre Badtür nicht von außen abschließen konnte. Sie hatte nur einen Riegel, den man von Innen drehen konnte. Theoretisch könnte sie ihrer kleinen Zelle also entkommen. Praktisch jedoch führte die Tür zum einzigen anderen Zimmer ihrer Wohnung, wo sich gerade der unbekannte Mann aufhielt. Gefesselt würde sie sich niemals an ihm vorbei schleichen können.

Erschöpft schloss sie die Augen. Sie war so darauf konzentriert gewesen, ihre Arme nach vorne zu bringen, dass sie ihre Gesamtsituation hatte ignorieren können. Was brache es ihr, dass ihre Arme jetzt in einer anderen Position waren und sie sehen konnte? Sie war gefangen hier und sobald sie einen Laut von sich gab, würde der Einbrecher wissen, dass sie wach war.

Dabei hatte die Woche so gut angefangen. Sie hatte Markus dazu gebracht, ihre Zweifel ernst zu nehmen und gegen seine Klientin zu ermitteln. Wenn Konstantin nicht für sich kämpfen wollte, würde sie das für ihn tun. Dafür hatte sie sich sogar bei Markus entschuldigt, um ihn dazu zu bringen, ihr zuzuhören. Sie war so zuversichtlich gewesen, las er ihr heute Morgen geschrieben hatte, dass er sich umhören würde, was genau der Angreifer von Sonntag ausgesagt hatte.

Und jetzt saß sie hier auf dem Boden ihres Bads und wusste schon wieder nicht, ob sie die nächste Stunde noch erleben würde. Das zweite Mal innerhalb einer Woche. Stöhnend legte sie ihre Stirn auf ihren Knien ab. Was sollte sie jetzt tun? Sie hatte keine Fluchtmöglichkeit und selbst wenn ihre Arme und Beine nicht gefesselt wären, würde sie es niemals mit einem Mann aufnehmen können. Sie war zwar groß, aber sie machte sich keine Illusionen darüber, dass sie stärker sein könnte als ein ganz durchschnittlicher Mann.

Schwere Schritte näherten sich wieder. Verzweifelt rutschte Neele von der Tür weg in den kleinen Zwischenraum, der zwischen der Toilette und der Wand war. Als ob sie das schützen konnte. Als ob sie sich da verstecken konnte.

Die Tür wurde grob aufgerissen und ein Hüne von Mann trat ein. Das erste, was Neele auffiel, war, dass sie sein Gesicht sehen konnte. Er trug keine Verkleidung, keine Maske, nichts. Eisige Kälte kroch ihr in die Knochen. Sie wusste ganz genau, was das bedeutete.

»Hast wohl versucht, dich zu befreien, hm?« Mit abschätzigem Blick musterte der Mann sie. Seine grauen Augen zeigten keinerlei Mitleid mit ihr.

Ohne auf eine Antwort zu warten, packte er sie an ihrem rechten Arm und zog sie hinter sich her aus dem Bad. Neele unterdrückte einen Aufschrei, als sowohl ihre lädierte Schulter als auch die Wunden, die die Kabelbinder hinterlassen hatten, unter der neuen Belastung schlimmer wurden.

Schwungvoll stieß der Mann sie zu Boden, ehe er sich vor sie auf den Boden hockte. »Hier ist der Deal. Du sagst mir, was du wann mit wem besprochen hast, und ich töte dich schnell und schmerzlos. Oder du weigerst dich zu reden, dann wirst du lernen, was wirkliche Schmerzen sind, und am Ende auch sterben.«

Gegen ihren Willen traten Tränen in Neeles Augen. Er klang so emotionslos und geschäftsmäßig, dass sie wusste, mit absoluter Sicherheit wusste, dass nichts, was sie sagte, ihn dazu bewegen würde, sie nicht zu töten. Sie lag auf dem Rücken und konnte nur stumm zu ihm hinauf starren, während ihr haltlos Tränen über die Wangen liefen.

»Erste Frage. Hast du in irgendwelchen Nachrichten den Namen Hella von Falkenburg geschrieben? SMS, Whatsapp, Email, was auch immer.« Sein Tonfall klang nachlässig, doch Neele sah, wie seine Augen sie aufmerksam musterten.

Schluchzend schüttelte sie den Kopf. »Hab ich nicht. Wirklich nicht.«

Er fuhr sich mit einer Hand durch sein kurzes blondes Haar. »Kein Grund zu flennen, ich glaub dir. Nächste Frage. Teil jemand außer Konstantin deine Verdächtigungen?«

Kurz wanderten Neeles Gedanken zu Markus, der ihr zuletzt endlich Glauben geschenkt hatte. Doch sie konnte ihn nicht noch mit reinziehen. Trotz allem war er ihr bester Freund. Wieder schüttelte sie den Kopf. »Nein!«

Der blonde Mann legte den Kopf schief. »Warum hast du gezögert?«

Neeles Augen wurden groß. »Ich hab nur nachgedacht. Ehrlich! Ich wollte nicht lügen, also hab ich darüber nachgedacht!«

Er beugte sich über sie und packte mit einer Hand ihr Gesicht so hart, dass seine Finger ihre Kiefer auseinander pressten. »Bullshit. Wenn du mit keinem geredet hast, warum hat dein guter Freund Markus Schröder dann heute mit der Polizei telefoniert und Fragen gestellt?«

Entsetzt keuchte Neele auf. Dass dieser Mann davon wusste, konnte nur eines bedeuten: Hella von Falkenburg hatte ebenfalls Freunde bei der Kriminalpolizei. Verzweifelt versuchte sie, sich aus seinem Griff zu winden, doch er rührte sich keinen Millimeter.

»Wie gesagt, Neele«, erklärte er mit einem gefährlichen Lächeln. »Beantworte meine Fragen ehrlich, und ich mach's schmerzlos. Bei der nächsten Lüge wirst du sehen, was Schmerzen sind.«

Panik pumpte Adrenalin durch ihren Körper. Alles in ihr schrie danach, die Hand abzuschütteln und gegen den Mann zu kämpfen. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Er hatte keinerlei Interesse an ihr. Er würde tun, was auch immer er tun musste, um sie zum Reden zu bringen. Ob sie dabei weinte, schrie oder ruhig blieb, es spielte für ihn keine Rolle.

Wimmernd gab sie nach. »Okay, okay. Ich gebe zu, ich hab mit Markus gesprochen. Aber ich glaube nicht, dass er einen ernsthaften Verdacht hat. Wirklich! Er hat es nur gemacht, weil ich ihn so genervt habe. Er weiß nicht wirklich, was los ist.«

Ruckartig ließ er von ihrem Gesicht ab und packte stattdessen ihre gefesselten Hände. Ohne dass sie den geringsten Widerstand leisten konnte, zwang er ihre Arme über ihren Kopf und presste sie auf den harten Holzboden, während er gleichzeitig seine Beine rechts und links von ihrer Hüfte platzierte. »Du sollst doch nicht lügen, Neele. Oder willst du, dass ich dir wehtue?«

Etwas in ihrem Gehirn setzte aus. Als wäre jeder rationale Gedanke plötzlich weggefegt, bäumte Neele sich auf. Mit der Kraft der Verzweiflung rammte sie dem Mann beide Knie in den Magen, während sie gleichzeitig wild an ihren Armen riss. Für einen kurzen Moment schien sie ihn aus der Fassung gebracht zu haben. Der Griff lockerte sich und es gelang ihr, sich auf den Bauch zu rollen.

Doch sofort war seine Hand wieder da, griff ihr in das offene Haar und presste ihr Gesicht auf den Boden, während die andere flach auf ihrem Rücken landete. »Ich verstehe. Du willst nicht reden. Soll mir nur recht sein. Ich hab es immer mehr genossen, wenn sie kämpfen. Und die Chefin hat gesagt, es ist ihr egal, wie ich's mache, Hauptsache, du bist am Ende tot.«

Schreiend wehrte Neele sich gegen die Hände, die sie unbarmherzig zu Boden drückten, doch sie hatte keine Chance. Es war ein Fehler gewesen, sich auf den Bauch zu rollen. Sie hatte keinerlei Möglichkeit mehr, ihn mit ihren gefesselten Armen oder Beinen zu treffen.

»Bitte«, schluchzte sie verängstigt, »bitte lass mich einfach gehen. Ich sag auch nichts. Bitte!«

Er beugte sich weit zu ihr runter, bis sie seinen Atem in ihrem Nacken spüren konnte. »Sorry, Schätzchen, aber du weißt es selbst. Du hast mein Gesicht gesehen. Dich leben zu lassen, war von Anfang an keine Option. Und jetzt halt schön still. Es ist bald vorbei.«

Neue Tränen schossen ihr in die Augen. Sie war absolut unterlegen, ohne jede Hoffnung, dass sie ihn abschütteln konnte. Was auch immer er vorhatte, sie konnte nichts dagegen tun. Neue Übelkeit stieg in ihr auf und ließ sie würgen.

Eine Hand löste sich von ihr, doch der Druck der anderen war immer noch genug, um sie mühelos am Boden zu halten. Verzweifelt verrenkte sie ihren Hals, um sehen zu können, was er tat. Sie erstarrte.

Der Mann hielt plötzlich ein Messer in der Hand. Ein eiskaltes Lächeln lag auf seinen Lippen. »Ah, ich sehe, du bist neugierig. Das hier ist ein spezieller Freund von mir. Mit einer Klinge kann man so viel Schaden am Körper anrichten, ohne dass die Wunden sofort tödlich sind. Ist das nicht aufregend?«

Entsetzt schüttelte sie den Kopf, während der Mann über ihr nachzudenken schien. Als wäre sie eine leere Leinwand wanderte sein Blick über ihren Rücken und ihre Beine, das Messer nachlässig in den Fingern der rechten Hand.

Doch bevor er die Klinge gegen sie richten konnte, schien etwas seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mit einer fließenden Bewegung umrundete er sie und zog sie in eine sitzende Position, während er ihr gleichzeitig das Messer an die Kehle hielt.

Im nächsten Moment ertönte ein dumpfer Schlag gefolgt von dem Geräusch splitternden Holzes. Mit einem Krachen schlug ihre Eingangstür gegen die Wand, halb aus den Angeln gerissen, und gab die Sicht auf Konstantin frei, der mit erhobener Waffe im Türrahmen stand.



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