15 | Zerstört

Für eine gefühlte Ewigkeit blieb Neele in dem Wohnzimmer von Konstantins Villa stehen und starrte zum Flur. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und sie wusste nicht, was sie fühlen sollte. Die Worte ihres besten Freundes hatten wehgetan. Als ob er sie für eine liebeskranke Frau hielt, die in ihrer Hysterie nicht mehr erkennen konnte, was die Wahrheit war. Dabei war er es, der nicht klar sah.

Wie hatte sie nie gewusst, dass Hella von Falkenburg seine Auftraggeberin gewesen war? Als er damals mitten in den Ermittlungen gesteckt hatte, hatte sie ihn direkt gefragt, ob sie als Täterin in Frage kam. Er hatte es ausgeschlossen, weil sie ein Alibi hatte. Sie hatte nicht weiter nachgehakt, da sie davon ausgegangen war, dass Markus die Möglichkeit eines Auftragsmordes auch ausgeschlossen hatte.

Aber offensichtlich hatte er das nicht. Stattdessen war er es, der blind gewesen war. Nur weil er die Ermittlungen für sie durchführte, hieß das nicht, dass sie nicht die Täterin sein konnte. Das hatte Markus offensichtlich übersehen. Und sie hatte das alles nie gewusst.

Und jetzt stand sie hier, kannte die Wahrheit, aber war unfähig, irgendetwas zu tun. Markus glaubte ihr nicht und Konstantin konnte sie nicht mehr unter die Augen treten.

Die Wunde an ihrem Arm machte sich pochend bemerkbar. Ein Blick auf die Standuhr zeigte ihr, dass es inzwischen halb fünf war. Draußen zwitscherten die ersten Amseln und die Dunkelheit machte dem Morgengrauen Platz. Was für eine verflucht lange Nacht.

Müdigkeit kroch ihr in die Knochen. Sie wollte nichts lieber, als sich auf dem Sofa ausstrecken und schlafen. Doch sie war noch nicht bereit aufzugeben. Sie durfte sich nicht von Konstantins Ablehnung davon abbringen lassen, das richtige zu tun. Und das richtige war, ihn zu warnen.

Wie auf ein Stichwort erschien Konstantin im Flur. Als er sie am anderen Ende stehen sah, blieb er stehen. »Dein Freund ist gerade gegangen.«

Ihre nackten Füße waren beinahe lautlos auf dem kühlen Holzboden, als sie sich ihm näherte. »Ich weiß. Er ist auf dem Weg zu deiner Stiefmutter.«

Konstantins Augen weiteten sich. »Zu Hella? Warum?«

»Um das, was hier heute passiert ist, gegen dich zu verwenden. Er ist von deiner Schuld überzeugt und glaubt, dass du den Angriff inszeniert hast, um mein Vertrauen zu gewinnen.« Sie schaute ihm fest in die Augen, als könnte sie ihm telepathisch mitteilen, dass sie das selbst nicht glaubte.

»Warte«, kam es mit plötzlicher Dringlichkeit von Konstantin, »er hat Kontakt zu ihr?«

Sie nickte grimmig. »Ganz recht. Er war es, der ihr gesagt hat, dass ich hier bin.«

Die Wut, die sie früher in dieser Nacht gesehen hatte, kehrte in seine Augen zurück. »Und das ist dein bester Freund?«

»Nicht mehr.« Sie konnte sich nicht helfen, sie musste über die ganze Situation lachen. »Er ist überzeugt davon, dass du mich mit deinem guten Aussehen und heldenhaften Auftreten heute manipuliert hast, also hat er mich hier alleine gelassen.«

Noch während sie das aussprach, kam ihr ein Gedanke, den sie vorher gar nicht begriffen hatte. »Ugh, je mehr ich darüber nachdenke, desto wütender macht mich das. Er lässt mich hier alleine, obwohl er überzeugt ist, dass du ein Mörder bist! What the fuck? Und er wirft mir vor, blind zu sein! Aus seiner Sicht bin ich hier in Lebensgefahr! Ich kann nicht glauben, wie geblendet er ist.«

Schwer atmend unterbrach sie ihre Tirade. Innerhalb einer Nacht war alles, was sie je über ihren besten Freund gedacht hatte, vernichtet worden. Sie hatte immer gewusst, dass er von seinem Job besessen war, aber dass er deswegen das Leben seiner Freunde aufs Spiel setzen würde, war ein ganz neues Level.

»Willst du einen Tee?«

Die Frage traf sie so unerwartet, dass Neele ihren Gastgeber kurz nur leer anstarren konnte. Nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, hatte sie eine so aufmerksame Geste nicht von ihm erwartet. Doch jetzt, wo er es ausgesprochen hatte, realisierte sie, dass Tee genau das war, was sie jetzt brauchte.

***

Mit einem tiefen Seufzen leerte Neele ihre Teetasse. Sie hatte die letzte halbe Stunde damit verbracht, mit Konstantin und Ben Wissen und Mutmaßungen auszutauschen. Jetzt, wo sie alle Puzzleteile hatte, war es so offensichtlich, was vor einem Jahr und heute Nacht wirklich passiert war. Selbst Konstantins zuvor unerklärliche Abwesenheit ergab Sinn.

»War das der Grund, warum du in den letzten Jahren so viel mit deinem Vater gestritten hast? Seine Kontakte zum organisierten Verbrechen?«

Statt Konstantin war es Ben, der nickte. »Ich hab das damals aufgedeckt. Konstantin war von Anfang an misstrauisch, warum Hella Braun plötzlich überall auftauchte, wo sein Vater war. Und kaum heiraten sie, beginnt der Alte damit, in Geschäfte zu investieren, die er vorher gar nicht auf dem Schirm hatte? Das hat drei Meilen gegen den Wind gestunken.«

»Habt ihr das der Polizei gesagt?«

Konstantin schnaubte nur. »Natürlich, aber angeblich haben die Ermittlungen in die Richtung nichts ergeben. Keine nachvollziehbaren Kontakte. Nur der schuldige Sohn, der haltlose Anschuldigungen von sich gibt.«

Da war er wieder, dieser Tonfall, so wütend und enttäuscht, aber auch voller Resignation. Als hätte er nichts anderes erwartet. Neeles Herz zog sich zusammen. Dieser Mann war unschuldig, aber er hatte alle Hoffnung verloren, dass irgendjemand ihm noch Glauben schenken würde.

»Diesmal wird es anders!«, brach es aus ihr hervor, während sie sich gleichzeitig über die Arbeitsplatte lehnte und seine Hände ergriff. »Du hast meine Aussage und die des Einbrechers.«

Er entzog sich ihrem Griff nicht, doch er schaute sie auch nicht an. »Dein bester Freund, Deutschlands beliebtester Detektiv, sagt gegen mich aus. Als ob irgendetwas anderes zählt.«

»Genug mit dem Selbstmitleid.« Ben stand entschlossen vom Barhocker auf und sammelte die leeren Teetassen ein. »Besagter Detektiv hat es letztes Jahr nicht geschafft, dich hinter Gittern zu bringen, und dieses Mal wird es nicht anders sein.« Er stellte das Geschirr in die Spüle und verließ dann wortlos die Küche.

Neele wurde sich plötzlich sehr bewusst, dass ihre Hände immer noch mit Konstantins verschlungen waren. Hitze breitete sich auf ihren Wangen aus. Er hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass er nicht länger an ihr interessiert war, aber in ihr sah es anders aus. Jetzt, wo keine geheime Mission mehr zwischen ihnen stand, wurde ihr bewusst, wie sehr sie seine bloße Anwesenheit genoss. Sie wünschte, sie könnte diesen Moment in der Küche bis in alle Ewigkeit verlängern. Sie war noch nicht bereit, seine Wärme aufzugeben.

Sie wagte es nicht, sich zu rühren. Vielleicht, wenn sie sich nicht bewegte, vergaß Konstantin, dass er ihre Hände hielt. Mit klopfendem Herzen starrte sie stur gerade aus. Sie wollte ihn in die Arme schließen und fest an sich drücken, doch sie hielt sich zurück. Die Stille in der Küche war ohrenbetäubend. Ihr Atem war flach in dem Versuch, keine Geräusche zu machen.

Sein Daumen strich hauchzart über ihren Handrücken. Mühsam unterdrückte Neele ein Wimmern, während sich Gänsehaut auf ihrem ganzen Körper ausbreitete. Vielleicht war noch nicht alles verloren. Vielleicht hatte sie eine Chance, ihren Vertrauensbruch wieder gutzumachen. Aber sie musste ihn das Tempo bestimmen lassen.

Wieder strich sein Daumen über ihre Hand, eindringlicher diesmal. Nervös leckte Neele sich über die Lippen, dann riskierte sie es hochzuschauen. Konstantin begegnete ihrem Blick mit einer Intensität, die ihr den Atem raubte.

Minutenlang starrten sie sich nur in die Augen, während er mit seinem Daumen ihre Hand streichelte. Hitze schoss ihr zwischen die Beine, doch Neele zwang sich, das Gefühl zu ignorieren. Sie sollte nicht gierig sein. Ihr Atem klang laut in ihren Ohren und sie meinte, ihr Herz in ihrem Hals klopfen spüren zu können. Wieder leckte sie sich über die Lippen.

»Neele.« Dieses eine, leise Wort, so voller Verzweiflung, so voller Hunger, brach sie beinahe.

Ohne seine Hände loszulassen, stand Neele von ihrem Barhocker auf, umrundete die Kücheninsel und stellte sich vor Konstantin, direkt zwischen seine Beine. Wieder verharrten sie beide regungslos in dieser Position, gefangen im Blick des anderen, unfähig, sich zu rühren. Sie wartete, betete, während sie sich zwang, nicht über ihn herzufallen.

Sie wollte sich runterbeugen, um ihn zu küssen, doch sie beherrschte sich. Es war nicht ihre Entscheidung, nicht jetzt. Sie würde abwarten und nur reagieren. Für den Bruchteil einer Sekunde fiel ihr Blick auf seine vollen, leicht geöffneten Lippen.

Als wäre der Bann gebrochen, zog Konstantin sie plötzlich in seine Arme und eroberte ihren Mund mit seinem. Gleichzeitig stöhnten sie auf, ehe sie den Kuss vertieften und einander verschlangen, als wären sie kurz vor dem Ertrinken.

Neele öffnete ihre Beine, um sich auf seinen Schoß setzen zu können und ihre Arme voll um ihn zu schlingen. Sofort vergrub sich eine seiner starken Hände in ihren Haaren, während die andere zu ihrem Hintern wanderte und sie noch enger an ihn presste.

»Konstantin«, seufzte sie, als sie sich für einen Moment voneinander lösten.

Sofort bereute sie es. Sie spürte, wie er sich unter ihr anspannte und wo vorher noch derselbe Hunger in seinen Augen gestanden hatte, den sie auch verspürte, baute sich jetzt wieder eine Mauer auf. Sanft schob er sie von seinem Schoß.

»Ich kann nicht, Neele.«

Sie nickte bloß. Ihr Herz brach, weil sie wusste, dass die Schuld ganz alleine bei ihr lag. Sie hatte diesen Mann verletzt und sie verdiente es nicht, dass er ihr verzieh. Angestrengt schluckte sie ihre Tränen hinunter. »Kannst du... kannst du mir ein Taxi rufen?«

»Nein. Schlaf hier. Ich wollte nicht ... ich schmeiße dich nicht einfach so raus, Neele. Die Nacht war hart genug, du solltest sie nicht alleine verbringen müssen. Und ich hab genug Gästezimmer.« Seine Worte waren warm, doch er schaute sie nicht an, während er sprach. »Lass dir von Ben eines zeigen. Er kann dich morgen auch zu einem Arzt fahren.«

»Danke«, flüsterte sie, ehe sie aus der Küche floh.

Mehr denn je hasste sie sich selbst. Ihre Unfähigkeit, an die Gefühle anderer Menschen zu denken, hatten sie wieder eine Beziehung gekostet. Noch dazu hatte sie ihren besten Freund verloren, weil er genauso blind war wie sie. Sie hatten sich wirklich gegenseitig verdient mit ihrem Egoismus.

Ben, den sie in dem kleinen Büro fand, wo er den Angreifer verarztete, kommentierte ihr tränenüberströmtes Gesicht nicht. Wortlos führte er sie zu einem Gästezimmer im ersten Stock, das am Ende des Ganges lag. Er versprach ihr, sie um zehn zu wecken, um sie zum Arzt zu fahren.

Ohne sich darum zu kümmern, ihr Kleid auszuziehen, schlüpfte Neele unter die Bettdecke. Sie zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, den viel zu fröhlichen Gesang der Vögel draußen auszublenden. Erschöpfung schwappte über sie und zog sie in den Schlaf, ehe sie die Chance hatte, auch nur einen weiteren Gedanken an Konstantin zu formen.



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