14 | Opfer

»Ich weiß es nicht.« Neele hörte selbst, wie ihre Stimme zitterte. Jetzt, wo sie hier stand und in Konstantins Augen schaute, spürte sie deutlich, dass sie ihn nicht verlieren wollte. Nach all der Angst und Wut, die sie heute in so rascher Folge gefühlt hatte, war das die einzige Sache, die sie ganz sicher wusste.

Genauso wie sie wusste, dass er ihr niemals wieder vertrauen würde.

»Konstantin«, setzte sie an, doch er drehte sich bereits kopfschüttelnd zur Seite.

»Es ist okay«, seufzte er mit hängendem Kopf. »Ich verstehe es. Der Mord an meinem Vater ist das einzige, was irgendjemand sehen kann. Ich kann nicht erwarten, dass du anders bist. Es war naiv von mir zu hoffen, dass... es spielt keine Rolle.«

Neele schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Er klang so besiegt, so erschöpft. Und sein Tonfall sagte deutlich, dass er seine Worte meinte. Er verstand es. All die Wut, die er eben noch verspürt hatte, schien plötzlich von Resignation ersetzt worden zu sein.

Sie trat um ihn herum und legte ihm eine Hand auf die Wange. »Es ist nicht okay. Nichts von dem, was ich getan habe, ist okay. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen, wirklich.«

Konstantin griff nach ihrer Hand und zog sie weg. »Positiv betrachtet hatte ich so wenigstens ein paar Wochen, in denen ich glücklich war. Ohne Markus Schröder hätte ich vermutlich nie eine Chance bei dir gehabt. Das ist doch auch ein freudiger Gedanke.«

Nichts an seinem Tonfall klang erfreut. Neele konnte nicht zulassen, dass dies das letzte Gespräch zwischen ihnen war. Stur packte sie seine Hand mit ihren beiden. »Gib mir eine Chance, Konstantin. Lass uns noch einmal von vorne beginnen, ohne Geheimnisse.«

Er lachte humorlos auf. »Du glaubst doch selber nicht, dass das möglich ist. Ich meine es ernst, Neele. Es ist okay.«

Mit diesen Worten wendete er sich vollständig von ihr ab und ließ sie alleine im Wohnzimmer zurück. Erstarrt blickte Neele ihm hinterher. Die Wut war ihr lieber gewesen. Seine resignierte Traurigkeit ließ ihr Herz bluten. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie schlimm das letzte Jahr für ihn gewesen sein musste. Hatte er überhaupt noch Freunde? Zumindest sein Assistent Ben schien auf seiner Seite zu sein, aber sonst? Er hatte selbst zugegeben, dass er sich praktisch nicht mehr in die Öffentlichkeit begab.

Stöhnend ließ sie sich zurück auf das Sofa sinken. Sie hatte es in der Tat vermasselt. Hier war ein verdammt gutaussehender Mann mit deutlich zu viel Geld, der manchmal ein wenig aufbrausend, aber dafür umso heißer beim Sex war, und sie hatte ihn vergrault. Und das war nicht einmal das schlimmste. Was wirklich an ihr nagte, war, dass er ein guter Mensch war und sie ihn verletzt hatte. Sie war so blind gewesen, als sie sich auf Markus' Plan eingelassen hatte. Keine Sekunde war ihr in den Sinn gekommen, dass ihre Lüge einen anderen Menschen verletzen würde.

»Neele?«

Die Stimme ihres besten Freundes riss sie aus ihrem Gedankenstrudel. Überrascht schaute sie zu ihm auf. »Markus? Was tust du hier?«

Er kratzte sich am Hinterkopf, ehe er sich neben ihr auf das Sofa setzte. »Von Falkenburg kam gerade an und da hat mich sein Assistent rausgeschickt. Er sah ziemlich fertig aus. Hat er dir was getan?«

Er blickte bedeutungsvoll zu der Wunde an ihrem Oberarm, doch Neele schüttelte sofort den Kopf. »Nein, ganz im Gegenteil. Ohne Ben und Konstantin wäre ich jetzt vermutlich tot.«

Markus nickte. »Der unbekannte Angreifer, der bewusstlos im Nebenzimmer liegt. Ich verstehe. Der Typ – Ben? – wollte mir nicht genauer sagen, was los war, aber wenn ich es richtig verstehe, sagen beide, dass sie den Angreifer nicht kennen?«

»Ich weiß auch nicht, warum der hier ist«, erwiderte Neele schulterzuckend. »Es war eine verdammt seltsame Nacht. Dass Konstantin nicht im Haus war, als der Angreifer kam, ist doch merkwürdig, oder?«

Markus legte sich die Hand an den Mund und tippte geistesabwesend mit einem Finger auf seine Lippen. Ergeben seufzend ließ Neele sich tiefer in das Sofa sinken. Sie kannte diese Macke von Markus: Er war jetzt solange nicht ansprechbar, bis er alleine seine Gedanken sortiert hatte. Alles, was sie tun konnte, war abwarten und versuchen, nicht wieder in den reißenden Strudel ihrer selbsthassenden Gedanken zu geraten.

Schneller als erwartet richtete Markus sich wieder auf. »Es ist dasselbe Muster!«

Verwirrt, aber entschlossen, mit ihm das Rätsel zu lösen, drehte Neele sich zu ihm und machte es sich um Schneidersitz bequem, während Markus fortfuhr: »In der Nacht, in der in diesem Haus ein Mord geschieht, ist von Falkenburg zufällig weg. Beim Mord an seinem Vater konnte niemand bestätigen, dass er sein Appartement wirklich nicht verlassen hatte, weil zufällig der Pförtner nicht vor Ort war. Und heute ist er zufällig außer Haus, während er einen Gast hat, der von einem unbekannten Eindringling angegriffen wird.«

Neeles Augen wurden groß. »Du hast recht, das ist auffällig ähnlich! Denkst du, derselbe Täter steckt hinter dem Mord an seinem Vater und dem Angriff heute?«

Streng schaute Markus sie an. »Neele. Hör mir bitte gut zu. Ich weiß nicht, was du heute Nacht mit von Falkenburg getrieben hast und ehrlich gesagt will ich es auch gar nicht wissen. Aber du darfst dich davon nicht blenden lassen. Er ist der Mörder seines Vaters. Und die logische Konsequenz daraus ist, dass er heute versucht hat, dich umzubringen.«

Mit offenem Mund starrte Neele an. Mehrmals blinzelte sie, als ob sie dadurch etwas an der Realität ändern konnte. Dann entfuhr ihr ein ungläubiges Lachen. »Markus, er hat mir das Leben gerettet. Er steckte definitiv nicht hinter dem Angriff heute.«

Markus schloss kurz gequält die Augen, ehe er ihre Hände packte und sie eindringlich ansah. »Es war mein Fehler, dich jemals hierher zu schicken. Ich hätte wissen sollen, dass von Falkenburg zu charmant und gutaussehend ist. Das tut mir leid. Aber bitte, Neele. Egal, was du glaubst, was du für ihn fühlst. Erinnere dich daran, weswegen du überhaupt hier warst.«

Er konnte in ihren Augen sehen, dass sie ihm nicht glaubte. Mehr denn je verfluchte er sich, dass er sie überhaupt jemals zu diesem Plan überredet hatte. Er hatte sie zu einem Mörder geschickt, obwohl sie das nicht wollte, und nun hatte er den Salat: Sie war von Falkenburgs Charme erlegen und glaubte die Lüge, die er der Welt erzählt hatte. Mit seinem Versuch sich zu rächen, hatte er alles nur noch schlimmer gemacht.

Nein, das stimmte nicht. Es ging hier nicht um Rache, es ging um Gerechtigkeit. Es ging darum, dass ein Mord bestraft wurde, der bislang ohne Konsequenzen für den Mörder geblieben war. Er war dankbar, dass Hella von Falkenburg ihn aus dem Bett geklingelt hatte. Andernfalls wäre er sicher nicht mitten in der Nacht hier aufgetaucht, um das ganze Ausmaß des Mordkomplotts gegen Neele zu sehen. So aber hatte er alle Beweise, die er brauchte.

»Warum sollte er mich töten wollen?«

Neeles Frage ließ ihn kurz stutzen. Sie hatte recht, er brauchte das Motiv, um einen Mörder einwandfrei überführen zu können. »Er wusste, dass du für mich spionierst. Du musst gestern irgendetwas rausgefunden haben, was ihm gefährlich werden könnte, wenn du es mir sagst, also hat er beschlossen, dich aus der Welt zu schaffen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe gar nichts rausgefunden. Ich meine, okay, er hat mir gesagt, dass er zuletzt öfter Streit mit seinem Vater hatte, aber das ist so vage, das ist doch kaum etwas, was du gebrauchen kannst.«

Nachdenklich kratzte Markus sich am Kinn. Vielleicht wusste sie nur nicht, dass von Falkenburg sich verraten hatte, weil ihr der Überblick fehlte. Wenn sie jetzt alles so wortgetreu wie möglich wiedergab, worüber sie geredet hatten, würde ihm bestimmt auffallen, was von Falkenburg als Gefahr gesehen hatte. Doch war es überhaupt möglich, dass sie sich noch so genau an alles erinnerte? Insbesondere nach so einer Nacht, in der sie so viel hatte durchmachen müssen?

Markus' Augen wurden groß. Das war es! Das war das Motiv. »Neele! Ich hab's! Er wollte dich tatsächlich gar nicht töten.«

Sie nickte zustimmend. »Das sage ich ja die ganze Zeit!«

»Nein, du verstehst nicht. Er steckt hinter dem Angriff, aber es war nie sein Ziel, dass du wirklich stirbst. Er wollte, dass du Todesangst hast, damit er dich retten kann. Er wusste, dass du für mich arbeitest, also musste er dich auf seine Seite ziehen. Was funktioniert da besser, als sich als Held in strahlender Rüstung zu präsentieren, der die Prinzessin aus Lebensgefahr befreit?« Sein Herz schlug schneller. Endlich sah er klar, was hier gespielt wurde. Jedes Detail ergab endlich Sinn.

Doch Neele schüttelte erneut den Kopf. »Es war Ben, der mich gerettet hat. Konstantin ist erst aufgetaucht, als die Gefahr schon vorbei war.«

Markus machte eine wegwerfende Handbewegung. »Spielt doch keine Rolle. Fakt ist, es ging darum, dass du nach dem Angriff absolutes Vertrauen in ihn hast. Und das ist ja gelungen. Frag dich selbst, Neele. Ist es wirklich natürlich, was du gerade für ihn fühlst? Gestern noch dachtest du, dass er ein Mörder ist. Wie kannst du heute plötzlich in ihn verliebt sein?«

»Markus! Wer spricht hier von verliebt?« Neeles Augen blitzten, als sie aufsprang und ihre Hände in die Hüften presste. »Hörst du dir überhaupt selbst zu? Alle deine Annahmen über sein Motiv stützen sich darauf, dass er wusste, dass wir uns kennen. Wusste er aber nicht. Er hat das erst gecheckt, als du hier reingeplatzt bist.«

Sanft packte er sie am Unterarm und zog sie zurück zu sich auf das Sofa. Er konnte ihre Wut verstehen, sie schämte sich vermutlich, auf einen Mörder reingefallen zu sein. Er durfte ihr das nicht vorwerfen.

»Überhaupt«, fuhr Neele fort, nachdem sie sich mit einigem Abstand von ihm hingesetzt hatte. »Warum bist du hier? Es ist vier Uhr morgens!«

»Hella von Falkenburg hat mich angerufen.«

»Die Witwe vom alten von Falkenburg? Mitten in der Nacht? Warum? Und warum hat sie deine Nummer?«

Markus zuckte mit den Schultern. »Sie war besorgt um dich. Meinte, sie hätte ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache. Und ich gebe zu, ich hatte das auch.«

Er sah, wie Neele mehrfach ansetzte zu reden, doch immer wieder abbrach. Als sie schließlich die richtigen Worte fand, klang sie misstrauisch. »Hella von Falkenburg wusste, dass ich hier bin? Wie?«

Markus ging ein Licht auf. Den Teil hatte er ihr nie erzählt. Nicht, dass er es verschweigen wollte, es war einfach nie ein wichtiges Detail gewesen. »Hella von Falkenburg war letztes Jahr meine Auftraggeberin. Sie hatte mich angeheuert, weil sie ihren Stiefsohn im Verdacht hatte, seinen eigenen Vater ermordet zu haben. Und ich hab sie gestern nach langer Zeit mal wieder angerufen, um ihr zu sagen, dass ich die Ermittlungen wieder aufgenommen habe.«

»Du hast was?«

Die Wut in ihrer Stimme ließ Markus stutzen. »Hey, hey, ganz ruhig. Wenn sie nicht angerufen hätte, hätte ich dich nicht aus dieser Situation rausholen können. Wir sollten ihr beide dankbar sein.«

Sekundenlang starrte Neele ihn nur an. Er wusste nicht, worüber sie nachdachte, aber ihr Ausdruck gefiel ihm nicht. Es war, als baute sich plötzlich zwischen ihnen eine Mauer auf.

»Markus. Der Angreifer heute ist im Auftrag von Hella von Falkenburg hier. Sie hat ihn geschickt. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wieso dieser Mann wusste, dass ich hier war, aber jetzt habe ich die Antwort. Wegen dir. Du hast es ausgeplaudert, also hat sie die Chance ergriffen, Konstantin einen weiteren Mord anzuhängen.«

Eiskalte Übelkeit ergriff von Markus Besitz. »Hella von Falkenburg? Was redest du da? Hat dir dein Konstantin das gesagt? Neele, bitte. Hör mir zu. Du darfst seinen Lügen keinen Glauben schenken. Hella von Falkenburg ist eine ehrwürdige Dame der Oberschicht, die dank ihrer empathischen Vernunft dafür gesorgt hat, dass ich jetzt hier bin.«

»Ich wette, sie hat gehofft, dass du mich tot vorfindest, am besten noch mit Konstantin im Haus! Markus, siehst du nicht, was hier gespielt wird? Sie ist die Drahtzieherin! Sie hat ihren Ehemann ermordet und versucht, es Konstantin anzuhängen!«

Markus verstummte. Es hatte keinen Sinn, er hatte offensichtlich verloren. Am Ende war er doch zu spät gewesen. Er hatte seine beste Freundin an Konstantin von Falkenburg verloren und nichts, was er sagte, konnte sie zur Vernunft bringen. All die Jahre ihrer Freundschaft schienen plötzlich nicht mehr zu zählen. Kopfschüttelnd schloss er die Augen.

Er hatte verloren. Wieder.

»Es tut mir leid, dass ich in diese Sache reingezogen habe. Ich sehe, dass du mir nicht mehr glaubst.« Langsam erhob er sich von der Couch und blickte auf sie hinab. »Ich werde alles, was hier heute passiert ist, Frau von Falkenburg erklären und mit ihr zur Polizei gehen. Ich hoffe, wenn Konstantin überführt und verurteilt wird, dass du dann einsiehst, dass ich recht hatte. Ich bin dir nicht böse, denn am Ende ist es meine Schuld. Aber ich hoffe trotzdem, dass du dich dann bei mir entschuldigst.«

Neele sprang auf und stellte sich ihm in den Weg. »Ich kann das nicht zulassen. Markus, willst du wirklich alles für deine Rache opfern? Deinen guten Ruf? Unsere Freundschaft? Hella von Falkenburg hat dich von Anfang an nur für ihre Zwecke benutzt. Ich bitte dich. Ich weiß, du willst Konstantin um jeden Preis überführen, aber er war es nicht. Er ist kein Mörder.«

Ihre Worte trafen ihn hart. Er hatte es selbst nicht aussprechen wollen, doch sie hatte recht. Wenn er Konstantin von Falkenburg als Mörder überführte, stellte er ihre lange Freundschaft aufs Spiel. War er wirklich bereit, diese Beziehung zu opfern, um endlich seine Rache zu bekommen?

Tief in seinem Innersten kannte Markus die Antwort. So sehr er Neele auch liebte, er war der Wahrheit und der Gerechtigkeit verpflichtet. Er durfte sich von seinen persönlichen Gefühlen nicht ablenken lassen. Neele war von Konstantin manipuliert worden. Wenn er sich von ihr aufhalten ließ, wäre es, als wäre er direkt von Konstantin selbst manipuliert worden. Das konnte er nicht zulassen.

»Es tut mir leid.« Mit diesen leisen Worten schlüpfte er an ihr vorbei und eilte aus der Villa. 



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