12 | Verwirrung

»Er ist uns entwischt.«

Das war keine gute Nachricht. Mit einem genervten Seufzen ließ die Frau mittleren Alters sich auf ihren großen Sessel sinken. Sie hätte wissen sollen, dass ihre Geschäftspartner nicht so zuverlässig waren, wie sie es gerne vorgaben.

»Was können wir für Sie tun, Hella?« Die tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung klang angespannt. Der Mann wusste vermutlich nur zu gut, dass sein Versagen sie alle in Bedrängnis bringen konnte. Sie brauchten einen neuen Plan. Und zwar schnell.

»Ich überlege mir was und melde mich wieder. Rufen Sie vorher nicht noch einmal an.« Sie ließ ihren Tonfall bewusst schärfer werden. »Ich melde mich bei Ihnen, nicht umgekehrt.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie auf und warf ihr Handy auf den Couchtisch. Angespannt knetete sie ihre Finger. Auch wenn es nicht zu ihrem Plan gehörte, dass er ihren Leuten entwischte, es war unmöglich, dass er rechtzeitig kommen würde. Der Teil sollte also noch immer klappen.

Sie strich sich mehrmals über ihren seidigen Morgenmantel. Vielleicht konnte sie die Situation auch zu ihrem Vorteil nutzen. Mindestens eine andere Person war daran interessiert, dass sie Erfolg hatte. Um jeden Preis, hatte er mehrfach betont.

Je länger sie darüber nachdachte, umso besser gefiel ihr die Idee. Wenn sie Glück hatte, wäre es ein klassischer Fall von bei der Tat ertappt. Und wer wäre ein besserer Kandidat dafür, dem jeder Glauben schenken würde?

Entschlossen griff sie erneut nach ihrem Handy und wählte seine Nummer. Obwohl es gerade erst kurz nach drei Uhr früh war, war sie sich sicher, dass er rangehen würde. Falls er überhaupt schlief.

»Frau von Falkenburg? Ist etwas passiert?« Die schlaftrunkene Stimme von Markus Schröder zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen.

***

»Ben!«, rief Neele aus. Neue Panik pumpte mehr Adrenalin durch ihre Adern und verdrängte den Nebel in ihrem Kopf. »Ben, bitte! Lassen Sie mich einfach gehen. Können wir nicht einfach vergessen, dass ich je hier war?«

Mit vier langen Schritten war er bei ihr, die Waffe mit einer Hand zum Boden gerichtet, während sich seine andere Hand um ihr Gesicht legte. »Wovon reden Sie? Sind Sie verletzt?«

Verwirrt starrte sie in seine dunklen Augen, doch dann breitete sich Hoffnung in ihr aus. »Sie wollen mich nicht töten?«

Seine Augen weiteten sich. »Töten? Ganz sicher nicht.«

»Oh Gott, vielen Dank!«, schluchzte sie, während ihr ganzer Körper in sich zusammensackte. »Bitte, Sie müssen mir helfen. Konstantin... er...«

Ehe sie den Satz beenden konnte, packte Ben sie plötzlich und schob sie mit Gewalt hinter seinen Rücken, während er sich gleichzeitig in Richtung Eingangshalle umdrehte. Dort, am anderen Ende des Flures, stand ihr Angreifer, leicht schwankend, aber wieder mit seiner Pistole in der Hand, die auf sie beide zielte.

Ben zögerte keine Sekunde. Mit einer entschlossenen Geste hob er seine Waffe und schoss. Die Wucht der Kugel schleuderte Konstantin zurück. Noch während der schwere Körper fiel, setzte Ben sich in Bewegung. Beim Angreifer angekommen, trat er ihm die Pistole aus der Hand und presste dann ein Knie auf die Schulter, die er mit seiner Kugel getroffen hatte. Der Mann unter ihm stöhnte laut auf.

Zitternd sank Neele gegen die Wand und rutschte an ihr zu Boden. Es war vorbei. Sie war außer Gefahr. Tränen strömten frei über ihre Wangen, während sie ihre Arme um ihren nackten Körper schlang und die Knie an ihren Oberkörper zog. Sie war so naiv gewesen. Wie hatte sie auch nur eine Sekunde glauben können, dass sie es mit einem Mörder aufnehmen konnte?

Ein schmerzverzerrter Schrei vom anderen Ende des Flurs zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und hob den Kopf. Ben hatte ihren Angreifer auf den Bauch gedreht und fesselte seine Hände mit einem Kabelbinder auf den Rücken. Entschlossen nahm Neele einen tiefen Atemzug und zog sich an der Wand hoch. Konstantin war außer Gefecht gesetzt, jetzt war ihre Chance, ihre Mission zu erfüllen. Sie würde sich nicht länger einschüchtern lassen.

Sie wollte gerade einen ersten Schritt Richtung Eingangshalle setzen, da ging ihr auf, dass sie noch immer praktisch nackt war. Errötend verschränkte sie die Arme vor ihrer Brust. Sicher, es war immer noch dunkel im Haus, aber sie hatte nicht vor, sich Ben und Konstantin auch nur eine Sekunde länger so zu präsentieren.

Auf leisen Sohlen stahl sie sich den Flur entlang, darauf hoffend, dass Ben sich nicht zu ihr umdrehte, wenn sie die Treppe rauf huschte. Doch bevor sie auch nur die erste Stufe nehmen konnte, ertönte von draußen das Geräusch quietschender Reifen. Augenblicklich kehrte die Panik zurück.

Ben ließ von dem gefesselten Körper ab, packte seine Pistole und stellte sich vor sie. »Bleiben Sie hinter mir, Frau Kettler!«

Instinktiv griff sie nach seiner Schulter und presste sich von hinten an ihn. All ihre Entschlossenheit, die sie eben noch in sich zusammengekratzt hatte, war mit einem Schlag wieder verflogen. Sie wusste nicht, ob sie diese adrenalinbefeuerte Panik noch lange überleben würde.

Eine Autotür schlug zu, gefolgt von schnellen, schweren Schritten. Kurz überlegte Neele, ob sie Bens Anweisung ignorieren und stattdessen nach oben flüchten sollte, doch ihre zitternden Beine machten schon den Versuch unmöglich. Schwer atmend presste sie sich an Ben und spähte über seine Schulter zur Tür. Sie konnte spüren, wie sein Körper sich unter ihr anspannte, als er seine Waffe hob und auf den Eingang zielte. Anders als sie schien er jedoch vollkommen unberührt, sein Atem ging gleichmäßig und trotz der Sommerhitze und der angespannten Situation schwitzte er nicht.

In der Totenstille des Hauses hörte sie, wie ein Schlüssel umgedreht wurde, und dann schwang die Eingangstür langsam auf. Ein Arm, der eine Pistole hielt, wurde sichtbar. Während Neele versuchte, ihr Zittern unter Kontrolle zu bekommen, entsicherte Ben ohne mit der Wimper zu zucken seine Waffe.

Neele sog scharf die Luft ein und starrte mit aufgerissenen Augen auf den Mann, der jetzt im Dunkel des Hauses vollständig sichtbar war. Dort, nur wenige Meter von ihr entfernt, vollkommen unberührt und mit derselben Kleidung wie den Tag zuvor, stand Konstantin, eine Pistole in der Hand.

»Ben!« Konstantins tiefe Stimme riss Neele aus ihrer verwirrten Starre.

Ohne sich um ihren Kleidungszustand zu kümmern, trat sie hinter dem schützenden Körper des Assistenten hervor. »Konstantin? Du ... warst nicht hier?«

Mit drei langen Schritten war er bei ihr, die Pistole gesichert in den Bund seiner Hose gesteckt, und zog sie in seine starken Arme. »Neele. Gott sei Dank, dir ist nichts passiert!«

Schluchzend erwiderte sie seine Umarmung. Sie verstand nicht, was passiert war, aber eines war klar: Ihr Angreifer war nicht Konstantin gewesen und seiner Reaktion nach hatte er auch nichts damit zu tun.

Ben neben ihnen sicherte seine Waffe wieder und steckte sie in seinen Holster. Kopfschüttelnd trat er an Konstantin ran und klopfte ihm auf die Schulter. »Du bist schneller hier als gedacht.«

Neele löste sich von ihm. »Wo Ben das gerade sagt: Wo warst du?«

»Eins nach dem anderen«, wehrte Konstantin ab. »Zuerst müssen wir uns um unseren ungebetenen Gast kümmern.«

Mit einer Selbstverständlichkeit, die Neele einen eisigen Schauer den Rücken runter laufen ließ, packten Ben und Konstantin den halb bewusstlosen Mann und zerrten ihn in das kleine Büro mit dem antiken Telefon. Unschlüssig schaute sie den beiden Männern nach. In ihrem Innern wütete ein Sturm unterschiedlichster Emotionen, der es ihr unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu fassen oder gar eine Entscheidung zu treffen. Sie fühlte sich paralysiert, obwohl sie nicht länger Todesangst empfand.

Anziehen. Das war eine logische Sache, die sie tun konnte. Sie stand immer noch nur in ihrem Tanga hier. Mechanisch drehte sie sich um und stieg die Treppe hinauf zum Schlafzimmer, wo sie ihren BH und ihr Kleid neben dem Bett auf dem Boden fand. Sie machte das kleine Licht auf dem Nachttisch an, ehe sie versuchte, ihren BH anzuziehen.

Mit einem unterdrückten Schrei ließ sie von dem Vorhaben ab. Die Wunde an ihrem Oberarm hatte zwar aufgehört zu bluten, doch jetzt, wo sie nicht mehr abgelenkt war, bemerkte sie den Schmerz erneut. Und irgendetwas stimmte nicht mit ihrer Schulter. Bei dem Versuch, hinter ihren Rücken zu greifen, hatte etwas die Bewegung blockiert und stattdessen rasenden Schmerz durch ihren Körper geschickt.

Frische Tränen stiegen in ihr hoch, während sie erschöpft auf das Bett sank. Plötzlich fühlte sie sich unendlich müde. Was tat sie hier? Was zur Hölle tat sie hier, im Haus eines Millionärs, im Bett eines potentiellen Mörders? Und warum sehnte sie sich trotzdem danach, dass Konstantin zu ihr kam und sie noch einmal in seine Arme nahm? Als er sie in der Eingangshalle an sich gepresst hatte, hatte sie sich beschützt gefühlt, als könnte keine Gefahr der Welt ihr etwas antun. Sie sehnte sich nach dem Gefühl.

Doch unter all dem lag noch etwas anderes. Nach all der Angst und der Erleichterung spürte sie, wie sich ein neues Gefühl an die Oberfläche arbeitete.

Wut.

Wo war Konstantin gewesen? Wieso hatte er sie mitten in der Nacht alleine gelassen – in seinem Haus? Je länger sie darüber nachdachte, umso misstrauischer wurde sie. Was konnte so wichtig sein, dass er ausgerechnet in dieser Nacht plötzlich wegmusste? Und warum hatte sie das Gefühl, dass der Angreifer es tatsächlich auf sie abgesehen hatte? Jetzt, wo sie wusste, dass es nicht Konstantin gewesen war, ging ihr auf, wie seltsam es war, dass der Mann keine Sekunde überrascht gewesen war, dass sie im Bett war. Genauso wie er anscheinend damit gerechnet hatte, dass Konstantin nicht da war. Er hatte sie verfolgt, als wüsste er, dass niemand sonst im Haus war.

Entschlossen griff sie nach ihrem Kleid und schlüpfte vorsichtig rein, ohne ihren linken Arm zu belasten. Sie konnte vielleicht ihren BH nicht alleine anziehen, aber zumindest das Kleid. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck stand sie auf und steuerte auf das anliegende Badezimmer zu. Es gab Fragen zu beantworten und eine Wunde zu versorgen. Sie konnte später immer noch einen Nervenzusammenbruch haben.

***

Ihr Handy zeigte kurz vor vier, als Neele nach ihrem Besuch im Bad wieder ins Erdgeschoss zurückkehrte. Die Wunde an ihrem Oberarm sah aus wie ein Streifschuss, der nicht allzu tief war. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit ihrer Schulter machte ihr größere Sorgen. Aber das konnte warten. Jetzt wollte sie von Konstantin Antworten.

Auf leisen Sohlen näherte sie sich dem Büro, aus dem Gesprächsfetzen zu ihr drangen.

»Ich würde sagen, das ist Jackpot.« Bens Stimme klang beinahe erfreut.

Überrascht blieb Neele neben der Tür stehen, um zu lauschen. Was an dieser ganzen Situation konnte so eine Reaktion auslösen?

»Vielleicht«, kam die angespannte Antwort von Konstantin. »Aber im Zweifel steht wieder Aussage gegen Aussage. Du kennst Hella.«

Neeles Augen wurden groß. Wieso sprachen diese beiden Männer plötzlich über Hella von Falkenburg, die dritte Ehefrau des verstorbenen von Falkenburg? Angestrengt horchte sie weiter.

»Dieselbe Waffe, derselbe Täter. Glaubst du wirklich, dass sie sich da noch rauswinden kann?«

Doch Konstantin schien nicht überzeugt. »Nur sein Wort stellt die Verbindung zu ihr her. Sie kann das abstreiten.«

»Ich weiß, dass du kein Vertrauen mehr in unsere Justiz hast. Und ich kann dir das nach letztem Jahr nicht verübeln. Aber das hier ist unsere beste Chance. Deine beste Chance. Glaubst du nicht, dein Vater hätte das gewollt?« Bens Stimme war zum Ende hin immer eindringlicher geworden.

Bevor Neele die Antwort darauf hören konnte, ertönte erneut das Geräusch eines stoppenden Autos vor dem Anwesen. Augenblicklich wurde es in dem Büro stumm, dann traten beide Männer mit gezückten Waffen in die Eingangshalle.

Konstantins Blick fiel auf sie. »Neele. Bleib hinter mir, okay? Egal, wer das ist, ich sorge dafür, dass dir nichts passiert. Versprochen.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, legte er eine Hand auf ihre Wange und presste ihr einen Kuss auf die Stirn.

Wärme breitete sich in ihr aus und legte sich wie ein Mantel absoluten Vertrauens um sie. Trotz ihrer Zweifel, trotz ihres Misstrauens gelang es Konstantin mit einem Blick, mit einer Geste, sie zu beruhigen und ihr Zuversicht zu schenken.

»Falkenburg!« Trommeln von Fäusten auf Holz begleitete die Schreie eines Mannes. »Mach die Tür auf! Ich weiß, dass du da bist!«

Jegliches Blut wich aus Neeles Gesicht. Was auch immer sie gerade noch an Vertrauen in Konstantin verspürte hatte, war mit einem Schlag von ihr gewichen. Wie sollte sie ihm das erklären, ohne dass er sofort begriff, was hier gespielt wurde? Sie sollte gerührt sein, dass ihr bester Freund sich offensichtlich Sorgen um sie machte, aber jetzt gerade konnte sie an nichts anderes denken als an Konstantin und seine Reaktion.

Wie sollte sie ihm erklären, warum ausgerechnet Markus plötzlich hier war?



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