winter; kapitel 6


kapitel sechs

Manchmal möchte Samir Herrn Redlich fragen, mit was er seinen Kaffee aufputscht, denn wie immer lagen ihre Tests nach genau einer Woche korrigiert auf seinem Pult. "Vektoren bereiten einigen von euch wohl noch Schwierigkeiten. Die nächste Klausur wird die letzte vor dem Abitur sein - Also strengt euch an, okay?"

Während er die Tests austeilt, lehnt Samir sich in seinem Stuhl zurück. Es ist alles egal, es sind nur Zahlen, und solange er besteht, gibt es schlimmeres. Herr Redlich schreitet durch den Raum, wie es nur Arschloch-Mathelehrer tun; die Arroganz trieft quasi aus seinem schlecht geschnittenen Hemd. Er schiebt Samir seine Klausur kommentarlos zu, er wirft einen Blick darauf (acht Punkte) und schiebt sie in seinen Collegeblock. Tobias neben ihm bekommt ein "Gut gemacht". Mit einem Grinsen zeigt er Samir seine Note: Zwölf.

"Glückwunsch, man."

Tobias lacht. "Hat lang gedauert, aber irgendwann muss ich ja mal gut sein."

Sie sitzen fast ganz hinten im Raum, neben ihnen seit Silvester nicht mehr Jules. Na ja. Samir würde ihm gern sagen, dass es ihm leidtut, dass sie weiterhin Freunde sein können - Aber dafür die gleiche Behandlung aufgedrückt zu bekommen ist es nicht wert. "Wir krönen dich morgen bei Sonnenaufgang", sagt er, aber er lässt den Blick in die zweite Reihe wandern, wo Herr Redlich gerade Jules seinen Test reicht.

"Hätte besser laufen können. Bei euch beiden, aber Jules, von dir erwarte ich anderes."

Jules blättert langsam durch die Seiten. Neben ihm sitzt Clemens (Lynx, wie er sich selbst nennt, und wie Jules ihn all die Jahre nannte - Trotz Tobias' Kommentare über den Spitznamen), Kapuze wie immer tief ins Gesicht gezogen, und verstaut ihn in seiner Tasche, ohne einen Blick darauf zu werfen. Lynx und Jules. Als Tobias sie gesehen hat, hat er gelacht: "Da wacht wohl eine alte Flamme wieder auf. Komischer Typ, was?"

Fast würde Samir ihm zustimmen - Wer redet denn wirklich nie mit jemandem, trägt nichts als schwarze Hoodies, dunkle Jeans, Choker und einen einzelnen fragwürdigen Ohrring wie der Nebencharakter aus einem schlechten Teeniefilm? Aber er wirkt glücklicher, als Samir es je ist. Lynx geht seit Jahren mit Jungs aus, die niemand aus der Schule je zuvor gesehen hat - Samir fragte sich, an welchem Punkt er selbst falsch abgebogen ist, dass dies nun unmöglich scheint.

"Also" - Herr Redlich hat die Tests verteilt, das Tuscheln im Raum unterdrückt er mit seiner scharfen Stimme - "Wollen wir das ganze mal durchgehen. Erste Aufgabe. Kann mir das jemand erklären? Ja, Tobias?"

Samir kritzelt eine Überschrift und das Datum auf seinen Zettel, während Tobias irgendwas erklärt, das ihm so oder so egal ist. Bis auf Mathe wird es ein guter Tag werden - Politik hat er bereits überstanden, nach Mathe kommt nur noch Theater und Englisch. Sie proben die ersten Szenen, und gedanklich geht er seinen Text durch oder würde das zumindest gerne. Leider schweifen seine Gedanken viel zu leicht ab.

Er hätte nicht so schnell abhauen sollen, aber er war leider ein Idiot. Und er hat Orwell immer noch nicht geschrieben, obwohl ihr Treffen mehrere Tage zurückliegt. Aber was soll er schon sagen? Lust, rumzumachen, bevor ich mich aus dem Staub mache? Er ist doch kein Arschloch.

Die Zeit zieht sich. Egal, wie viel Herr Redlich mit seinem Leistungskurs über die Schönheit der Mathematik philosophiert, keiner seiner Schüler wirkt begeistert; auch Tobias fängt nach einigen Minuten an, unter dem Tisch auf seinem Handy zu tippen. Samir beobachtet Jules, der hin und wieder die Hand hebt, und Lynx, der dabei offensichtlich mit den Augen rollt und etwas sagt, das Jules zum Lachen bringt. Sein Herz zieht sich zusammen. Wie viel er dafür geben würde, Freunde zu haben, denen es egal ist.

Es dauert Stunden, bis das Klingeln sie erlöst, aber als es so weit ist, sind sie aus dem Raum, bevor Herr Redlich Und denkt an die Hausaufgaben sagen kann. "Kommst du mit zum Penny?", fragt Tobias, als sie sich durch die Mittelstufenschüler schieben, die die Gänge füllen. "Ich brauch echt was zu Essen."

Samir schüttelt den Kopf. "Ich auch, aber ich darf nicht zu spät Theater auftauchen. Wir brauchen die Zeit, um die Proben zu organisieren und so."

"Okay, Streber." Tobias lacht und boxt Samir in die Seite. "Ich bring dir für Englisch 'n Franzbrötchen mit, wenn du mir das Geld gibst."

Er sucht in seinen Jackentaschen das Kleingeld zusammen und reicht es Tobias. "Danke."

Als er verschwunden ist, steht Samir allein auf dem Flur. Ihre anderen Freunde sind sicherlich auf dem Hof, aber seine Gedanken kreisen immer noch um Orwell und Jules, und er weiß nicht, wie er ihnen ins Gesicht sehen soll.

Sie proben in der Sporthalle, deren Tür nicht abgeschlossen ist. Samir stellt seine Sneaker an der Tür ab und lässt sich auf den Boden sinken. Noch ist es gespenstisch leer, nur er und der große Raum und die künstlichen Lichter. Niemand, der ihn beobachtet oder der erwartet, dass er so tut, als wäre alles wie immer.

Samir seufzt und entsperrt sein Handy. Er kann nicht mit Jules reden, ohne auch alles zu verlieren, aber niemand an dieser Schule kennt Orwell. Vielleicht ist es Zeit, ihn zu fragen, was er ihm erzählen wollte.

*

Als Jules die Haustür hinter sich schließt, zieht der Duft von Curry bereits in den Flur. Immerhin für eine Sache ist Izzy gut: Wenn er später aus der Schule zurückkommt, kann er sicher sein, Essen auf dem Tisch stehen zu haben. Ihre Mutter wird erst abends zurückkommen, vielleicht nachts; ihr Vater produziert höchstens Tiefkühlpizza (nicht, dass Jules sich darüber beschweren würde); das einzige andere Mitglied in ihrem Haushalt ist ein Kater, der für nichts gut ist, außer sich laut miauend zu beschweren.

"Hi", sagt er zu Izzy, als er die Küche betritt. Sie sitzt im Schneidersitz am Esstisch, vor ihr eine Schüssel Curry mit Reis, ihre Augen auf ihr Handy geheftet. Sie blickt bloß kurz auf, als er sich einen Teller aus dem Regal nimmt. "Sieht gut aus."

"Danke."

"Ist Papa zuhause?"

Izzy nickt. "Macht Mittagsschlaf, aber er sollte gleich unten sein."

"Also" - Jules lässt sich mit seinem Teller am Esstisch nieder - "Pläne für heute?" Früher wäre er nach der Schule direkt wieder aus dem Haus verschwunden und hätte sich mit seinen Freunden zum Skaten oder Abhängen getroffen, aber diese Zeiten sind vorbei. Jetzt sind es nur noch eher und seine Schwester, und an genug Tagen kann er Izzy nicht ausstehen.

Sie zuckt mit den Schultern und schaltet ihr Handy aus. "Hausaufgaben, schätze ich. Lernen. Ich schreib nächste Woche Mathe."

Und sie ist Izzy, also werden es mindestens vierzehn Punkte. Jules' eigener Test liegt verstaut in seiner Mappe, wesentlich schlechter als sonst. Er kann die Stimme seines Lehrers noch hören: "Hätte besser werden können. Bei euch beiden, aber Jules, von dir erwarte ich anderes." Lynx hat bloß mit den Schultern gezuckt, aber Jules grault es davor, seine Note seinen Eltern zu zeigen. Wenn deine kleine Schwester Izzy ist - Einserschülerin, Überfliegerin, Klassenüberspringerin, die mit 17 in der 13. Klasse ist -, ist es schwer, selbst mit guten Ergebnissen zu beeindrucken.

Immerhin fragt sie heute nicht, was sein Ergebnis ist. Es ist immer das Gleiche: Oh, das ist doch gut. Oh, das ist doch nicht so schlimm. Als würde für Izzy nicht die Welt untergehen, wenn sie mal nicht Klassenbeste ist. Vielleicht hat sie ja Mitleid mit ihm, jetzt, wo seine Welt tatsächlich untergeht.

"Und du?", fragt Izzy. "Was hast du vor?"

"Nicht viel", murmelt er, und es ist die Wahrheit. Er könnte lernen, aber es ist eh alles sinnlos - So gut wie Izzy wird er nie sein. "Vielleicht skaten." Eine Lüge. Er wollte nicht an seinen üblichen Spots in Tobias rennen.

"Es ist Frost draußen, Jules. Du brichst dir noch was." Izzy grinst. "Aber hey, wenn du im Krankenhaus bist, hab ich das Bad mal morgens für mich alleine."

Er rollt mit den Augen. "Nur, weil du dir beim ersten Mal skaten den Arm gebrochen hast, heißt das nicht, dass ich genauso inkompetent bin."

Darauf antwortet sie nicht, sondern beginnt, erneut auf ihr Handy zu starren. Ungewöhnlich. Jules lehnt sich nach vorne, um einen Blick auf ihren Bildschirm zu erhaschen, aber sie zieht ihr Handy aus seinem Blickfeld. "Jules, das ist mein -"

"Bist du verliebt oder was ist los?"

Sie verzieht das Gesicht. "Nope. Definitiv nicht."

Wenn sie ja gesagt hätte, hätte er vermutlich den Drang gehabt, sie aus dem Haus zu jagen, also ist das besser so. Nicht, dass auch noch ihr Liebesleben besser läuft als seins - Obwohl es kaum möglich ist, dass es schlechter läuft. (Der Junge von der Party spukt nachts immer noch in seinem Kopf herum, obwohl Izzy im erzählt hat, dass er abgestritten hat, diesen Kuss gewollt zu haben.) "Warum die Geheimniskrämerei?"

Izzy legt ihr Handy wieder auf dem Tisch ab und schaltet es aus, doch bevor der Bildschirm erlischt, erhascht Jules einen letzten Blick auf den Bildschirm: Instagram, das Profil maefaber. "Jules", protestiert Izzy, als sie seinen Blick bemerkt, "das ist -"

"Wirklich? Du interessierst dich für das Drama?" Jules grinst. "Mae weiß doch wahrscheinlich nicht mal, wer du bist."

"Wir -", beginnt Izzy, doch Schritte auf der Treppe unterbrechen sie. Jules und Izzy schweigen, während ihr Vater Richtung Küche schreitet, seine Schritte schwer auf dem Parkett. Neben ihm, im starken Kontrast zu seinen großen, langsamen Schritten, läuft ihr Kater in Trippelschritten.

"Hallo, kids", sagt ihr Vater, als er die Küche betritt. Der Kater schlüpft neben ihm durch die Küchentür. Jason Steyner ist halber Brite, auch, wenn er Deutschland seit Jahrzehnten kaum verlassen hat, und für ihn heißt das, Anglizismen in jeden zweiten seiner Sätze einzubauen. Merkwürdige Angewohnheit für deinen Deutschlehrer, findet Jules, selbst für einen, der nur Grundschüler unterrichtet. "Wie war Nachhilfe, Jules?"

"War okay."

"Hätte eure Mutter auf mich gehört, wäre das alles nicht notwendig, was?" Er lächelt. Er reitet gerne darauf herum, dass Jules' Englisch furchtbar ist, und er die Kinder zweisprachig erziehen wollte - Ohne Erfolg. "Danke fürs Kochen."

"Kein Ding." Izzy steht auf und stellt ihren Teller in die Spülmaschine. "Ich geh mal hoch, okay? Guten Appetit." Und weil sie Izzy ist, ist es okay, wenn sie mitten im Essen aufsteht und geht. Jules flucht innerlich.

"Thanks, Isabel." Jules' Vater öffnet den Kühlschrank; der Kater streicht ihm um die Beine. Er nimmt ein paar Stücke geröstetes Fleisch und legt sie neben dem Curry auf seinen Teller, ehe er in die Knie geht und dem Kater ein Stück hinhält. "Aber behalt das für dich, Oliver. Du hast nichts gesehen." Oliver miaut und folgt ihm zum Esstisch, wo sein Vater sich Jules gegenüber hinsetzt.

Sie essen schweigend, aber Jules' Herz hämmert. Er krault Oliver hinter den Ohren, während er sich die Worte zurechtlegt. "Papa", beginnt er schließlich, "Wir haben Mathe zurückbekommen."

"Und?", fragt sein Vater. Er legt die Gabel zurück auf den Teller.

Jules räuspert sich. "Sechs Punkte."

Stille legt sich über den Raum. Das ist bestanden, will er sagen, aber er weiß, dass mehr von ihm erwartet wird als bestehen. Sein Vater nimmt einen weiteren Bissen; Jules beobachtet ihn beim Kauen, beim Schlucken. "Jules, du musst dich mehr anstrengen."

Er nickt. "Es tut mir leid, es war nur -"

"Welches Thema?"

"Vektorrechnung."

Sein Vater nickt langsam. "Weißt du, Mathe war auch nie meine Stärke - Aber ich dachte, immerhin da hättest du keine Schwierigkeiten."
"Normalerweise nicht", murmelt Jules. "Ich war - abgelenkt." Er hofft, dass sein Vater nicht nachhakt. Oh, und ich bin übrigens schwul würde zwar von seiner Note ablenken, aber bereit dafür ist er noch lange nicht.

"Deine Mutter wird davon nicht begeistert sein."

Jules nickt. "Ich weiß." Sein Vater zeigt immerhin Verständnis dafür, wenn etwas nicht so läuft, wie es soll - Nun ja. Hana Steyner pflegt zu sagen, dass sie Jahre ihres Lebens für ein Medizinstudium geopfert hat, und zwar nicht, um dann von ihren eigenen Kindern enttäuscht zu werden. Wenn sie es geschafft hat, kann Jules das auch. "Aber ich werde mit ihr reden, okay?"

"Bitte." Er seufzt. "Und Jules - Erst mal weniger rumhängen und Partys, bis sich das gebessert hat, klar?"

Es ist nicht so, als gäbe es noch Leute, mit denen er das tun könnte, also nickt Jules bloß. "Klar."

Sein Vater schiebt sich eine weitere Gabel seines Essens in den Mund. "Hey, wenn beide meiner Kinder Mathegenies wären, hättet ihr gar nichts von mir geerbt, richtig?"

Jules zwingt sich zu einem halbherzigen Lachen - er hätte es Izzy gegönnt, wenn sie schlecht in Mathe wäre. Es ist das einzige Fach, in dem er ohne Probleme durchkommt. Er hofft, das wird sich nicht wegen einem Test ändern. "Das Nachteulen-Gen habe ich auch von dir, Dad." Tatsächlich sehen weder Jules noch Izzy ihrem Vater sonderlich ähnlich: Jules' Vater ist schlank, weiß, mit glatten, braunen Haaren. Jules kommt seiner Mutter wesentlich näher: krauses, schwarzes Haar, stämmig, dunkelbraune Haut. Höchstens ihre Körpergröße haben die beiden von ihm geerbt.

"Und ich wette, Hana kann uns erklären, dass für Frühaufstehen kein Gen verantwortlich ist, sondern nur Disziplin."

Diesmal ist Jules' Lächeln etwas weniger gefälscht. "Die fehlt uns dann wohl beiden."

Sein Vater lacht. "Aber ein bisschen mehr Disziplin kann dir nicht schaden. Die nächste Klausur wird besser, okay? Dann ist alles beim Alten."

Wenn eine Klausur sein Leben auf letztes Jahr zurücksetzen könnte, wäre Jules dankbar - Aber er weiß, dass es zu spät dafür ist.

*

Während Jules sich für seinen Test rechtfertigt, stochert Lynx beim Mittagessen mit seiner Stiefmutter im Kartoffelbrei. Sein eigener Test liegt zu einem Ball geknüllt im Papierkorb, es ist nicht so, als würde sich jemand für die Note interessieren; er hat schon vor langer Zeit aufgehört, seinen Eltern Dinge zu erzählen - Seine Noten, seine Kunst, die Partys, für die er in die Nachbarorte fährt.

Klaudia erzählt von dem neuesten Projekt, an dem sie arbeitet. Seine Stiefmutter ist Architektin, den Großteil ihrer Arbeit erledigt sie zu Lynx' Leidwesen von zuhause aus. "Es ist ein großes Privileg", sagt sie gerne. "Gerade mit einem kleinen Kind." Aktuell ist das kleine Kind - Lynx' Halbbruder - nicht zu sehen. Vermutlich hatte er wieder keine Lust aufs Essen. Klaudia glaubt an diesen Ansatz zur Erziehung, bei der man Kindern viel Freiheit lässt, etwas, dass sie Lynx nie vergessen lässt, wenn er sie nach irgendwas fragt. Genauso gut könnte sie nicht da sein, dann müsste er ihr nicht aus dem Weg gehen.

"Und Schule?", fragt Klaudia.

In letzter Zeit ist nichts wie immer, aber selbst, wenn er wollte, wüsste er nicht, wo er mit den Erklärungen anfangen soll. "Ich mache wieder mehr mit Jules." Um dem Reden zu entgehen, schiebt Lynx sich eine weitere Gabel mit Kartoffelbrei in den Mund. Er erinnert sich zu gut an die bitterlichen Tränen, die er vor einigen Jahren wegen Jules vergossen hat.

Für sie scheint nicht das gleiche zu gelten - Sie nickt bloß abwesend. "Noch was?"

Da waren der Test und die Party am Wochenende, aber er schüttelt bloß den Kopf. Zuhören tut sie ihm nicht, also hört auch er nicht zu, als Klaudia weiter über ihr Projekt redet. Vermutlich ist sie dankbar, sich nicht mit seinen Problemen auseinanderzusetzen zu müssen - Sie kann ja nicht einmal einen Fünfjährigen überreden, zum Mittagessen zu kommen. Nicht, dass Lynx ihm die Schuld geben möchte: Kartoffelbrei und ein Stück gebratener Fisch sind nicht gerade seine Idee eines ansprechenden Essens. Klaudia besteht darauf, zu kochen; Lynx soll sich um die Schule und seine Freunde kümmern, etwas, dass ihn nur zum Augenrollen bringt.

Jetzt erzählt Klaudia, dass sein Vater heute lange arbeitet, und es juckt ihm in den Fingern, einfach zu verschwinden. Sie ist alles andere als eine böse Stiefmutter, aber jedes Gespräch mit ihr löst in Lynx das Verlangen aus, das Haus zu verlassen und nie wieder zurückzukehren.

Als sie in ihrem Redefluss eine Pause macht, räuspert Lynx sich. "Ich muss noch wen anrufen", sagt er, obwohl die Hälfte des Essens noch auf seinem Teller liegt.

"Einen Freund?"

"Freundin." Lynx greift seinen Teller und wendet sich in Richtung Küche, aber er kann Klaudias vielsagenden Blick im Rücken spüren. Sie wird nicht nachbohren, das geht gegen ihre Prinzipien, aber er fragt sich, was sie sagen würde, wenn sie wüsste, dass er und Riley tatsächlich mal zusammen gewesen sind - Für zwei Monate in der achten Klasse. Nach einem Monat hat Riley ihm erzählt, dass sie ein Mädchen ist, kein Junge; nach zwei Monaten, dass sie lesbisch ist, und das war das Ende der Geschichte. Vielleicht würde Klaudia einen Kommentar machen wie "Schön, dass ihr noch befreundet seid", oder sie würde bloß nicken, mit dem immer gleichen Lächeln im Gesicht.

Er befördert die Reste des Mittagessens in den Müll und zieht sein Handy aus der Tasche. Von der Küche aus führt eine Tür in ihren Garten, den Klaudia zu einem hübschen Meisterwerk herangezogen hat - Abgesehen von dem Trampolin und dem Sandkasten, die für seinen kleinen Bruder zur Verfügung stehen. Lynx lässt sich vor dem Blumenbeet auf den Boden sinken und wählt Rileys Nummer.

"Hi, Lynx", meldet sie sich nach wenigen Sekunden. "Was gibt's?"

"Die Party am Wochenende, von der du gesprochen hast - Weißt du, ob irgendwer abends noch nach Torenau zurückfährt? Der letzte Bus fährt gegen 8." Riley lädt ihn regelmäßig auf Feiern ein, zu denen sie eingeladen ist oder sich selbst eingeladen hat. Um einen Komplizen zu haben und nicht allein zu sein, falls doch alle Leute scheiße seien - Oder sowas. Die an diesem Wochenende ist in Mengelrode, ein Kaff noch kleiner als Torenau, und dementsprechend schwer zu erreichen - Dabei will Lynx nicht mehr als sich endlich wieder so high zu sein, dass die Welt um ihn herum verschwimmt. Nur leider hat Riley die Angewohnheit, bei fremden Leuten auf der Couch zu pennen, und so ungerne Lynx zuhause ist, so ein aufdringlicher Gast will er doch nicht sein.

"Ich glaube nicht, dass jemand anderes aus Torenau da sein wird", gibt Riley zu. "Ich meine, du bist so ziemlich die einzige Person hier, die ich kenne und die halbwegs in Ordnung ist."

"Danke, Riley. Nett wie immer."

"Können deine Eltern dich abholen?"

"Du spinnst." Wahrscheinlich würde Klaudia das tun, schließlich soll ihr Stiefsohn mit gesunder sozialer Interaktion aufwachsen, und irgendwo in ihren Pädagogik-Schinken lässt sich eine Rechtfertigung dafür finden, um drei Uhr nachts in eine andere Stadt zu fahren.

"Also ich werde dableiben. Ich habe kein Bock, die ganze Nacht nüchtern zu bleiben." Riley seufzt. "Kennst du wen, der dich fahren kann?"

Lynx möchte sich beißen, als ihm direkt jemand in den Sinn kommt. Es ist verrückt, wie schnell er bereit ist, jemanden wieder in seinem Leben zu akzeptieren - Trotz all den Jahren zwischen ihnen. Dabei ist Jules inzwischen kaum mehr als ein Fremder. "Vielleicht. Ich muss fragen."

"Alles klar. Schreib mir einfach, okay?" Sie legt auf, ohne mehr zu sagen, aber er weiß, dass das nicht ist, weil sie unhöflich ist. Sie stehen sich einfach nicht besonders nah, besonders nicht, nachdem sie ein Jahr für ein Studium abgehauen ist - Nur um wieder in Torenau zu enden. Manchmal hat Lynx das Gefühl, es sei unmöglich, zu entkommen. Nicht aus dieser Familie, dieser Stadt, seinem Leben.

Es ist also kein Wunder, dass er Jules' Nummer wählt, eine Nummer, die er auch noch Jahren noch im Kopf hat. "Julian Steyner", meldet sich die Stimme am anderen Ende und es versetzt Lynx einen Stich, "Mit wem spreche ich?"

"Lynx."

Und während Jules lacht und sich entschuldigt für all die Formalität will Lynx schreien oder sprühen oder die Rosen aus dem zu perfekten Beet reißen. Jedes Leben geht weiter, die Zeit ändert sie alle - nur ihn nicht.


Ich hab' mich neulich dran erinnert, dass ich die Playlist für diese Projekt nie hier verlinkt hab - hört meinen Schreibsoundtrack über dieses "externer Link"-Ding , falls ihr Spotify habt! :)

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