Die zwei Seiten der Medaille

Noch bevor dieser Abend so richtig angefangen hat, habe ich schon mehr Höhen und Tiefen durchlebt, als die ganzen letzten Wochen.
Während ich mich zwischen den Higgins Brüdern ziemlich wohl fühle, wird mir bei Violas Anwesenheit ein wenig mulmig.
Vielleicht habe ich Angst, dass sie die Blicke bemerkt, die ich Rosie immer wieder zu werfe, und dass wir dadurch irgendwie miteinander kommunizieren. Vielleicht fühle ich mich aber auch einfach nur schlecht ihr gegenüber.

Trotzdem darf ich mir nichts anmerken lassen und muss weiterhin ein Lächeln aufsetzen.
Viola und ich stehen gerade in einer Traube aus anderen Anzugträgern und Frauen in stilvollen Abendkleiden, als ein älterer Mann auf uns zu kommt.
»Violett, schön Sie zu sehen«, begrüßt dieser die junge Frau, welche sich an meinem Arm eingeklinkt hat, und gibt ihr einen Handkuss.
»Mister Hudson, die Freude ist ganz meinerseits«, sagt Viola so vornehm, wie sie vor den Freunden ihres Vater eben ist, und lächelt höflich.
Auch ich reiche dem Mann die Hand und stelle mich höflich vor.
Wir führen ein wirklich nettes Gespräch und wäre da nicht diese eine fragwürdige Sache, welche mich so beschäftigt, könnte ich mich voll und ganz drauf konzentrieren.

»Ich wollte es nicht ansprechen, aber...«, sage ich leise als Viola und ich uns von den anderen wegbewegen und suche nach den richtigen Worten. »Warum zur Hölle nennt dich jeder zweite hier Violett?!«
Ich merke, wie lächerlich ich mich fühle, was Violas leises Kichern nur noch bestätigt.
»Ich hätte es dir sagen sollen, aber ich heiße eigentlich gar nicht Viola. Genau genommen heiße ich Violett Catlyn Higgins...«
Ich bleibe abrupt stehen und schaue sie irritiert an.
»Violett?! Und warum hast du mir denn erzählt, dass du Viola heißt, wenn du eigentlich nicht so heißt?«
»Naja, heißt du etwa Will?«, beantwortet sie meine Frage geschickt mit einer Gegenfrage.
»Natürlich nicht, aber das weißt du auch - es ist ein Spitzname«, sage ich und bin viel irritierter als vor meiner anfänglichen Frage.
»Ja eben - ein Spitzname, Will! So wie Will deiner ist, ist Viola meiner.«
Jetzt verstehe ich - es macht natürlich Sinn! Nichtsdestotrotz wäre ich niemals darauf gekommen, dass in diesem Fall Viola die Kurzform von Violett ist.
»Und warum genau Viola?«, frage ich interessiert.
»Das hört sich vielleicht bescheuert an, aber schon bevor ich geboren wurde, wurde ich Baby Viola genannt, auch wenn der Name Violett schon feststand. Das liegt einfach daran, dass ich meine Liebe zu Blumen von meiner Mutter habe, welche Veilchen über alles liebt. Viola bedeutet Veilchen und so kam ich zu meinem Spitznamen - bescheuert ich weiß.«
Also jetzt muss ich ebenfalls lachen. Dass jemand so einen wichtigen Bezug zu seinem Spitznamen hat, ist mir auch noch nie untergekommen - sonst kommt man zu seinem Spitznamen ja immer rein zufällig.
Trotzdem bleibt mir noch eine Frage.
»Aber warum haben deine Eltern dich denn nicht von vorne rein Viola genannt?«
»Vielleicht weil es zu einfach wäre«, sagt sie schulterzuckend und lacht.
»Außerdem hätte ich mich weniger zu einem Deppen gemacht - dann hätten wir weniger Spaß«, scherze ich, während ich Viola hinterher eile und mich anschließend wieder zu ihren Brüdern geselle.

Obwohl ich wirklich gut abgelenkt bin, fällt mir immer wieder Rosie auf, die wirklich förmlich strahlt!
Ihr Lächeln dringt durch den Raum voller Menschen zu mir rüber und ihre Augen strahlen mich ständig im Augenwinkel an.
Immer mal wieder schaue ich zu der Schönheit rüber, was nicht unbemerkt bleibt.
Es ist Ethan, der mich fragend mustert, ehe er in einer ruhigen Minute mich zur Seite nimmt.
Die anderen Brüder samt Viola haben sich auf den Weg durch die Menschenmenge gemacht und erst als wir aus der direkten Sichtweite sind, verschwindet Ethan mit mir durch einer der Nebentüren in ein anderes Zimmer.
Wir gehen durch dieses Durchgangszimmer und befinden uns in einem Raum, welcher etwas seltsam auf mich wirkt. Hier stehen zwei Sessel, welche zu den großen Fenstern gerichtet sind und von denen man einen perfekten Blick auf die lange Auffahrt hat.
Diese Sessel sind ein wenig zu einander geneigt und ein kleiner Beistelltisch steht zwischen ihnen.
An den Wänden hängen wunderschöne Bilder von jeglichen Familienanlässen und mir wird klar, dass das hier ein sehr privater Raum ist - in keinem Raum, wo ich bisher war, hat man so intime Einblicke der Familie Higgins erhalten.
Ich kann mir Violas Eltern sehr gut vorstellen, wie sie in diesen Sesseln zusammen eine Tasse Tee trinken, Zeitung lesen, einander die Hände halten und auf ihren Vorgarten hinabschauen.

Ethan lotst mich aus diesem Raum direkt in die Eingangshalle, von wo wir durch die Haustür das Haus verlassen.
»Ethan, wo gehen wir hin?«, frage ich ihn ein bisschen verwirrt, nachdem ich die ganze Zeit ohne ein Wort hinter ihm her getrottet bin.
»Ins Seehaus«, sagt Ethan ohne sich auch nur zu mir umzudrehen.
»Wieso gehen wir denn vorne raus und nicht durch die Terrassentür?«
»Vio. Wenn sie uns zusammen weg gehen sieht, kommt sie sofort hinter uns her gerannt und dann können wir nicht...« Ethan unterbricht sich selbst und überlegt nochmal scharf nach. »Ich liebe sie, aber sie kann eine super lästige Nervensäge sein.«
Ich verstehe schon, dass Viola mich niemals alleine mit Ethan hätte gehen lassen, denn sie würde wahrscheinlich wieder eine Peinlichkeit erwarten, aber dennoch verstehe ich nicht ganz wieso wir weg von den anderen gehen. Was hat Ethan so wichtiges, sodass es kein anderer mitkriegen darf?

Im sogenannten Seehaus angekommen, geht Ethan direkt zur Theke des Raumes und macht uns einen Drink.
Ich setze mich währenddessen schon auf eines der drei Sofas, welche in einer U-Form im Raum stehen. Außer einer kleinen Einbauküche und einer einzigen weiteren Tür, welche wohl ins Bad führt, ist hier nicht mehr zu bestaunen. Das Seehaus hat deutlich kleinere und weniger Fenster, wodurch es deutlich dunkler, aber auch viel gemütlicher ist. Auch die eher rustikale Einrichtung und die dunklen Farb- und Holztöne verursachen ein ganz anderes Klima hier drinnen.
Ich fühle mich hier sofort wohl und auch als Ethan sich mir gegenüber setzt und die Getränke vor uns auf den Tisch stellt, ändert sich mein Wohlbefinden nicht.

Er schiebt mir mein Getränk auf einem Untersetzer zu mir rüber, während er schon einen Schluck von seinem nimmt.
Er öffnet sein Jackett und zieht den Knoten seiner Krawatte auf.
»Will, ich will definitiv nicht wie der überfürsorgliche Bruder wirken und ich finde dich super sympathisch, aber, Will, wie ernst ist es dir mit meiner Schwester?«, fragt Ethan ruhig ohne den Blickkontakt abzubrechen.
»Wenn du die nackte Wahrheit hören willst, dann weiß ich es nicht...« Ich lehne mich auf dem Sofa zurück und lege meinen rechten Fuß auf meinem linken Knie ab. Ich drehe mein Glas in meiner Hand und schaue es für einen Moment verträumt an, ehe ich wieder zu Ethan schaue.
»Sie ist eine umwerfende Frau und ihre Geduld mir gegenüber ist unbeschreiblich. Ethan, deine Schwester ist ein Hauptgewinn! Dennoch kennen wir uns noch nicht lange und auch wenn ich mich hier super wohl fühle, wünschte ich, dass sie mich nicht als ihren potentiellen Partner vorgestellt hätte. Wir kennen einander noch nicht gut genug um diesen Schritt zu gehen. Ich kann dir gerade nicht mal ihren Geburtstag nennen, ihre Lieblingsfarbe oder ihr Hobby. Ethan, ich wusste bis eben nicht einmal, dass sie Violett Catlyn und nicht nur Viola heißt...« Ich stelle wieder meine beiden Füße auf den Boden und stütze meine Unterarme auf meinen Oberschenkeln ab.
»Ich schätze sie unglaublich dolle, das musst du mir glauben, aber jetzt gerade kann ich nicht sagen, was die Zukunft bringt.«
»Verstehe. Ehrlich gesagt hätte ich gar nichts anderes erwartet. Ich kenne meine Schwester und weiß ganz genau, dass sie gerne schneller handelt als denkt. Dass Vio mit jemanden ausgeht, bekamen wir Jungs schnell mit, aber wäre es schon was ernstes gewesen, dann hätte sie mehr über dich preisgegeben.«
»Es ist einfach noch zu früh für irgendwas. Sie ist eine tolle Frau, aber ich weiß nicht, ob das ausreicht.
Es ist einfach, dass ich nicht weiß, was ich für sie jemals empfinden werde und trotzdem fühle ich mich jetzt schon dazu verpflichtet, sie zu lieben.«
»Will, ich verstehe deine Bedenken zu 100%. Ich meine, meine Eltern finden dich toll. Du entsprichst allem, was sie sich für Vio erträumt haben - ein Jurist, gut aussehend, ehrgeizig, höflich, auch noch bei den McCains angestellt... Natürlich würden sie jeden anderen anständigen Mann an Violas Seite genauso akzeptieren, aber du bist schon Wunschdenken. Auch dein Chef scheint nicht abgeneigt von dem Gedanken zu sein, dass unsere beiden Kanzleien noch enger zusammenwachsen...«
»Es würde mir nur leid tun, wenn ich es nicht kann. Bei unserem ersten Date habe ich ihren besten Freund Frank kennengelernt und heute euch, ihre Familie. Wir sind bisher erst viermal aufeinander getroffen und schon sitze ich mit ihrem Bruder in einem Seehaus und rede über unsere Beziehung zu einander - einfach surreal. Ich will nicht derjenige sein, der sie enttäuscht.«
»Ich kenne Vio und ich weiß, dass du sie nur enttäuschen kannst, wenn du ihr vorher etwas fest versprochen hast. Auch wenn es gerade nicht ganz so wirkt, weiß Viola genauso gut wie du, dass ihr noch lange nicht an so einem Punkt seid. Wenn sie liebt, dann aufrichtig und immer ehrlich. Sie denkt immer rational und du kannst mit ihr über alles reden. Und über deine Arbeit brauchst du dir erst recht keine Sorgen machen. Niemals würde sie dir Vorwürfe dafür machen, dass du deine Arbeit an erster Stelle setzt. Sie wartet, Will, und wenn es 6 Monate sind, sie wartet...«
Ich lächle bedrückt und senke meinen Kopf zu Boden.
»Und genau das schätze ich so an ihr. Ihre Liebe scheint bedingungslos und ich habe Angst, dass ich sie nicht auf die Art lieben kann - vielleicht haben wir uns einander einfach nicht verdient. Vielleicht habe ich sie nicht verdient.«
»Solange du immer ehrlich zu ihr bist, wirst du an ihr nicht scheitern - sie braucht nicht mehr als Ehrlichkeit. Aber Will, selbst wenn ihr nicht zueinanderfindet weiß ich, dass ihr beide damit okay sein werdet und man trotzdem noch zusammen ins Seehaus flüchten kann.«
Ich schmunzle und für einen Moment herrscht angenehme Stille.

»Vielleicht sollten wir uns mal wieder auf den Rückweg machen - unser Verschwinden ist bestimmt nicht unentdeckt geblieben«, durchbreche ich die Ruhe, stelle mein Glas auf den Tisch vor mir und stehe auf. Meinen Anzug richte ich nochmal bevor ich mit meinem Glas zum nächsten Spülbecken gehe, um es abzuwaschen.
Ich sehe, dass Ethan ebenfalls aufsteht und anfängt sein Jackett zu schließen.
»Du hast recht, wir sollten wieder zu den anderen gehen - Rosie vermisst dich bestimmt schon.«
Auf der Stelle bleibe ich stehen und drehe mich zu Ethan um. Mir ist heiß und kalt zugleich. Ein Schauer überkommt mich und alles in mir zieht sich zusammen.
Ich weiß ganz genau, was Ethan gerade tut.
»Ethan, ich...«
»Nein, Will, du musst dich nicht erklären - wirklich nicht. Ich kenne Rosie schon so lange und sie ist eine Wucht.«
Ich baue mich auf und verschränke die Arme vor der Brust. Fragend versuche ich seine neutrale Miene zu durchschauen, um zu wissen in welche Richtung sich das Gespräch entwickelt, aber Ethan lässt keine Emotion durchdringen. Er knüpft unbeirrt sein Jackett wieder zu und erzählt kühl weiter.
»Ich würde lügen, wenn ich sage, dass wir es nicht alle versucht haben. James, Aaron, Noah, ich. Will, ich kenne diese Blicke die sie dir zuwirft, aber ehe du dich versiehst, sieht sie wen anders so an. Du sollst mich nicht falsch verstehen, ich will dir weder irgendwas schlecht reden noch verurteile ich dich, aber Rosalie McCain hat es faustdick hinter den Ohren. Dieses Mädchen spielt mit ihren Reizen und macht so viel kaputt - halt dich am besten von ihr fern.«
Perplex starre ich ihn einfach nur an. Ich merke sofort, dass er diese Dinge nicht sagt, weil er der Bruder von dem Mädchen ist mit dem ich ausgehe, er sagt es als Kumpel, um mich vor einem Fehler zu bewahren.
»Ethan, danke für deine Ehrlichkeit - ich schätze das wirklich sehr. Aber ich glaube du verstehst mich, wenn ich dir sage, dass es nicht so leicht ist...«
»Wäre es so leicht, dann wäre keiner von uns auf sie reingefallen.«
Er schmunzelt und tritt mir gegenüber.
»Ihre grünen Augen, die umwerfenden Locken und diese atemberaubende Ausstrahlung - ich bekomme auch heute noch Gänsehaut bei ihrem Anblick. Und ja, charakterlich hat sie ebenfalls fast keine Fehler. Sie ist so lieb, hat Träumen und Ziele, engagiert sich ehrenamtlich und ist so leidenschaftlich.
Aber, Will...«
Ethans Miene verdunkelt sich und sein Lächeln schwindet zu einem ernsten Gesichtsausdruck. »Rosie kann sich an niemanden binden. Auch wenn bei euch alles in bester Ordnung ist und sie dir eben noch die Welt verspricht, wird sie im nächsten Moment gehen. Sie wird ohne Vorwarnung gehen und nicht ein Mal zu dir zurück schauen.«
»Aber vielleicht ist sie nicht mehr so und hat sich geändert«, versuche ich die Schönheit zu verteidigen. Stoße bei Ethan aber nur auf Ablehnung.
»Hör zu, das hat sie nicht und das wird sie auch nie. Sie ist so wie sie ist und als normale Freundin ist sie ganz in Ordnung, aber als feste Freundin nicht. Du musst auf jeden Fall deine eigenen Erfahrungen machen, aber ich will es dir gesagt haben. Ich habe damals den Fehler gemacht und meine langjährige Freundin für sie verlassen - nur damit sie mich nach lausigen zwei Monaten wieder abserviert. Du stehst an einer ähnlichen Stelle. Viola kennt Rosie eben so gut wie ich und sie wird schnell merken, wenn da auch nur irgendwas zwischen euch ist. Tue mir also nur den einen Gefallen und sei ehrlich zu meiner Schwester - sie würde es verstehen.«
»Ich verspreche dir, dass ich mein Bestes tun werde, um aufrichtig zu Viola zu sein. Ich werde versuchen das ganze mit Rosie in Ordnung zu bringen und wenn ich das nicht hinkriege, dann werde ich ehrlich damit umgehen. Aber, Ethan, mach dir keine Sorgen.«
»Ich vertrau dir. Du bist ein anständiger Mann und das schätze ich.«
Anerkennend klopft er mir auf die Schulter und nimmt mir mein Glas aus der Hand.
Mit seinem Glas zusammen stellt er das ins Spülbecken und kommt wieder zu mir.
»Ich mach das später sauber - wir sollten jetzt wirklich wieder gehen.«
Ethan schiebt sich an mir vorbei und geht zur Tür. Ich folge ihm und muss abrupt bremsen als er sich doch nochmal zu mir umdreht und sagt: »Bitte sag Viola nichts von unserem Gespräch. Sie denkt sonst wieder, dass ich zu überfürsorglich bin oder mein Revier markieren will - auch wenn sie nicht mal ein Plan davon hat, was wir besprochen haben.«
»Mir soll es recht sein«, beruhige ich ihn.
Ich schließe die Tür hinter mir und gehe ihm nach. Wie auf dem Hinweg gehen wir auch jetzt durch die Vordertür damit wir so wenig wie möglich auffallen.

Natürlich ist unser Verschwinden nicht unbemerkt geblieben und Viola löchert mich sofort mit Fragen, welchen ich aber geschickt ausweichen kann.
Ich muss lachen, als ich den bösen Blick sehe, den Viola Ethan zuwirft. Sie traut ihrem Bruder einfach nicht.
Jetzt wo ich wieder bei Viola bin, glaube ich, dass ich meine Gefühle im Griff habe. Viola macht mich glücklich und ich bin gerne von ihrer Familie umgeben.
Es kommt nur ein paar Mal vor, dass ich einen kurzen Blick Rosalie widme und verträumt Lächle. Ethan weiß mich aber zu retten. Jedes Mal wenn mein Blick durch den Raum wandert und ich ihn bei Rosie hängen lasse, stößt Ethan mich heimlich mit dem Ellenbogen an.
Daraufhin tritt bei mir wieder die Realität ein und ich wende mich der Schönheit ab.

Zu meinem Vorteil sitze ich bei unserem Essen an der langen Tischtafel so günstig, sodass ich Rosie nicht anblicken kann.
Ich sitze neben Viola und Aaron und mir gegenüber sitzen James, Ethan und Noah - ich kann gar nicht großartig abgelenkt werden.
Es sind wieder diese familiären Gespräche, in die ich involviert bin, welche mich fühlen lassen, dass ich diese hammermäßigen Leute schon lange kenne und mich Rosie komplett vergessen lassen.

Nach dem Essen war es ernster geworden, als ich erwartet hatte. Während die Frauen sich zurückzogen, sitzen wir Männer zusammen in einem gemütlichen Nebenraum.
Wir sitzen zusammen in einem Kreis aus Sofas und trinken Whiskey.
Während der ein oder andere noch an der Bar steht, kommen so langsam alle zusammen.
Ethan hat sich wie vorhin im Seehaus die Krawatte abgenommen und sein Jackett aufgeknöpft. Die anderen sitzen ähnlich gemütlich da und warten darauf, dass Mister Higgins die Gesprächsrunde eröffnet.

Wenn ich nur gewusst hätte, wie hart die nächsten drei Stunden werden würden, dann hätte ich mich definitiv besser drauf vorbereitet.
In diesem Treffen ging es darum, dass rund zwanzig Männer, welche größtenteils schon über 50 waren, sich die Seele aus dem Leib weinen konnten.
Es sind die harten Fälle, die in denen die Männer an ihre eigenen Frauen und Kinder denken müssen, die selbst die erfahrensten Anwälte nicht kalt lassen.
Volle drei Stunden erzählen die Männer über die schlimmsten Taten, die ihre Mandanten begangen haben, und durch die gute Verteidigung damit durchgekommen sind.
Wie schrecklich haben sich einige der Männer gefühlt, weil sie einen Kinderschänder aus dem Gefängnis geholt und ihn nun wieder auf die Menschheit los gelassen haben.
Das ist wohl die Kehrseite der Medaille...

Als wir fertig waren, atmete ich einmal tief durch.
»Das war einfach nur heftig«, sage ich leise vor mich hin, als wir dabei sind den Raum zu verlassen.
»Vielleicht hätte ich dich vorwarnen sollen«, sagt Ethan und sieht mich entschuldigend an.
»Ist schon in Ordnung - ich komme drüber hinweg«, beruhige ich ihn.
»Unsere ersten Male waren auch grauenvoll«, meint James und beruhigt mich somit ein wenig.
»Also Noah hat nach seiner ersten Sitzung sich tagelang verkrochen und nur noch geweint«, meint Aaron und nimmt seinen Bruder in die Mangel.
»Musst du das denn immer erzählen?«, fragt Noah ein wenig genervt von seinem Bruder und löst sich aus seinem festen Griff.
»Jetzt habt euch nicht so. Verabschiedet euch von Will und nervt woanders rum«, sagt nun Ethan neckend.

Während Aaron, Noah und James vorgehen, verlassen Ethan und ich hinter ihnen den Raum. Zu unserer Überraschung treffen wir auf eine verschlafene Viola, welche am Boden neben der Tür an der Wand sitzt.
»Was tust du denn noch hier?«, fragt James und kniet sich vor seiner Schwester hin.
»Ich habe auf Will gewartet. Die meisten Frauen sind schon vor Stunden gegangen und das Gespräch mit den paar wenigen, die noch da waren, langweilte mich zunehmend«, sagt sie gähnend und reibt sich die Augen.
»Aber du kannst doch nicht auf dem Boden schlafen«, sage ich und reiche ihr meine Hand zum aufstehen.
»Das hat sie schon verdammt oft getan, Will. Viola schläft ständig ein und das überall da, wo sie sich gerade befindet. Schon als Kind ist sie immer da eingeschlafen, wo es gerade gepasst hat«, lacht Aaron.
Grinsend sehe ich sie an.
»Dann kannst du ja jetzt ins Bett gehen - außer du willst die ganze Nacht hier schlafen.«
Sie sieht mich verstohlen an.
»Haha, sehr witzig, Will.«
Während sie den Blick von mir abwendet, schaut sie zu ihren Brüdern rüber.
»Ich wäre gerne einen Moment alleine mit Will«, sagt Viola zu ihnen und zwingt sie zum gehen.
»Schon okay, wir gehen schlafen«, verabschiedet sich James und die anderen folgen ihm mit einem kurzen »Gute Nacht«.

»Ich hatte mich gefragt, ob ich heute vielleicht noch mit zur dir kann«, bringt sie fragend hervor und spielt verlegen mit einer Haarsträhne.
Sie ist unsicher und das kenne ich so gar nicht von ihr - aber wie ich heute festgestellt habe, kenn ich sie sowieso kaum.
Ich nehme ihr Gesicht vorsichtig in meine Hände und schaue ihr tief in die Augen.
»Ich würde mich freuen, wenn du mit mir kommst«, sage ich liebevoll und darf dabei zusehen, wie ihre Unsicherheit schwindet und ein großes Lächeln sich auf ihrem Gesicht breit macht.

Sie strahlt die ganze Fahrt über wie ein Honigkuchenpferd und sieht mich lächelnd von der Seite an.
»Geht es dir gut nach den Eindrücken diesen Tages?«, fragt sie fürsorglich ohne den Blick von mir zunehmen.
»Ja. Tatsächlich war es ein Schock, denn keiner hat mich vorgewarnt, aber es nimmt mich nicht allzu sehr mit«, versuche ich sie mit ruhiger Stimme und Blick auf die Straße gerichtet zu beruhigen.
»Verstehe. Früher habe ich darauf beharrt bei diesen Gesprächen teilzuhaben, aber ich kann das einfach nicht - so wie die anderen Frauen. Als Frau geht einen sowas irgendwie näher. Einmal da hat mein Vater einen Vergewaltiger vertreten und vor Gericht gewonnen. Mein Vater hat seinen Mandanten so gut verteidigt und jeden, der sowieso schon zweifelhaften Beweisen und Aussagen, entkräftet, sodass ein eigentlich Schuldiger ohne Strafe davon kam - dem Richter waren die Hände gebunden und mein Vater kann sich das nicht verzeihen. So geht es vielen der Männer, die mit solch einer Schuld leben müssen, und deshalb veranstaltet mein Vater regelmäßig solche Treffen - damit keiner mit seiner Last alleine sein muss.«
»Wow. Das ist eine wirklich gute Art mit den Schattenseiten dieses Jobs umzugehen. Ich schätze jeden dieser Männer nach diesem Abend umso mehr...«

Ich biege in meine Einfahrt ein und bringe das Auto zum stehen.
»Da wären wir«, sage ich und lege meine Hände für einen Moment auf dem Lenkrad ab. »Du darfst wirklich nicht zu viel erwarten - mein Haus hat überhaupt nichts zu bieten!«
Viola fängt auf dem Beifahrersitz an zu lachen.
»Will, du willst dich doch jetzt nicht schämen! Dein Haus sieht wundervoll aus und ich glaube es ist von innen genauso gemütlich, wie es von außen wirkt. Also natürlich bin ich kein Profi auf diesem Gebiet, aber dein Garten sieht tatsächlich zum schämen aus«, neckt sie mich liebevoll und stößt mir den Ellenbogen in die Seite.
»Haha, sehr lustig, Viola. Warte erstmal ab, wenn du meinen Garten bei Tageslicht siehst, dann wirst du sehen, was zum schämen ist.«
Wir lachen beide, ehe sie die Autotür aufreißt und den Wagen verlässt.

Mittlerweile ist es schon fünf Uhr morgens geworden und so langsam dämmert es schon wieder, als Viola und ich immer noch eingewickelt in Decken im Garten auf den Gartenstühlen sitzen.
»Will, ich muss dringend schlafen. Denn anders als du muss ich am Mittag meinen Laden aufmachen - nicht jeder hat ein freies Wochenende.«
Ich seufze. »Erinnere mich doch nicht an die schlimmsten Tage der Woche - was soll ich denn morgen den ganzen Tag machen, so ganz ohne Arbeit?!«
Sie muss lachen. »Finde es raus.«
Sie watschelt in ihrer Deckenhülle, unter der sie nicht mehr als ein Slip und ein langes T-Shirt von mir, welches ihr bis zu den Oberschenkeln reicht, trägt, zur Tür herüber und steigt die beiden Steinstufen hinauf.
»Kommst du nun mit mir ins Bett oder muss ich mir alleine Gesellschaft leisten?!«, ruft sie fragend über ihre Schulter zurück und lächelt mich verschmitzt an.

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