16 | Zersplitterung

Aber nicht nur Angst fegt über und durch uns hinweg. Es ist deutlich und kraftvoll zu spüren. Das Vibrieren. Es schleicht sich über die Füße bis nach oben durch unsere Körper; lässt unsere Köpfe hochschnellen.

Ermutigend schauen Epiphanie und ich uns gleichzeitig an, wir wollen uns wohl gegenseitig Mut schenken, und haben dabei eine schreckliche Angst. Mein Herz rast und ich hätte nicht gedacht, dass ich Cobie immer mehr vermissen könnte und ihn mir her wünschen würde – jetzt. Merkwürdigerweise fühlte ich mich bei ihm sicherer.

Epiphanie drückt meine Hand, ich habe gar nicht mitbekommen, dass unsere Finger noch immer miteinander verwoben sind. Eine leichte Schwingung – ganz anders als die des Bebens – strömt in mich hinein. Leicht warm. Halt und Kraftspendend.

Dieses stürmische Wetter mit all seinen Verwüstungen, bei denen ich nicht mal weiß, woher sie kommen und was sie bezwecken, lässt uns nicht nach draußen, es lässt uns hier verharren. Epiphanie und mich zusammen. Händchenhaltend, nah beieinander.

Etwas zersplittert, ich zucke zusammen. In meinen Ohren dröhnt es derart laut, dass es mehrere Fenster auf einmal gewesen sein könnten, aber der merkwürdige Hall auf meinen Ohrmuscheln lässt mich zweifeln. Es kann ebenso ein Glas in meiner Nähe gewesen sein. Ich weiß es nicht. Und vor allem weiß ich nicht, was zur Hölle hier los ist. Es scheint, als hätte alles auf heute gewartet, um alles auf einmal zusammenbrechen zu lassen.

Nicht alles, schießt mir mein Hirn den Gedankenblitz mit viel zu vielen Bildern durch den Kopf. Richtig, stimme ich zu. Nicht alles zerfällt erst heute.

Auch wenn ich die Bilder nicht richtig greifen kann, so kommen sie mir seltsam vertraut vor. Der Ursprung schien zu einem anderen Zeitpunkt gewesen zu sein ... Es fing eigentlich viel früher an – bei und durch wen völlig anderes –, oder nicht?

Es ist wirr und durcheinander – nicht nur um mich herum. Es schwappt auf mich über und in mich hinein dringen Fragen, die ich nicht mehr ignorieren kann: Hätte ich was anders machen können? Oder müssen? Woher kommen diese Fragen?

Es wird mir zu viel, doch das darf jetzt keine Rolle spielen. Mein Schädel ... Mit meiner Hand streife ich mir über die Stirn, bemerke, dass ich keine Maske mehr aufhabe – wie Epiphanie auch. Vermutlich haben wir sie eben verloren. Liegt es an mir? Mein Blick gleitet von den schemenhaften Gesichtern der Leute um mich herum, bis er wieder bei Epiphanie angelangt. Die Angst scheint aus ihren Augen gewichen zu sein, obwohl sie weiterhin weit geöffnet sind. Doch es sieht viel mehr nach Erkenntnis aus.

Ich warte darauf, dass sie etwas unternimmt; dass sie einen Plan hat; dass sie ... Ich habe keine Ahnung, was genau sie tun kann; auch nicht, was ich ernsthaft erwarte.

Im nächsten Moment zerstäuben meine hoffnungsvollen Gedanken leider, genauso wie unsere kurz anhaltende Zweisamkeit. Sie stößt mich weg. Epiphanie hat mich tatsächlich von sich weggestoßen. Warum nur?

Ich falle nach hinten, gefühlt eher herunter. Denn trotz der Beben und der Furcht um uns herum hatte ich mich an sie geklammert. Gehofft, dass wir beieinander bleiben und es vielleicht zusammen schaffen. Verwirrt krabbele ich rücklings über den Boden. Einzelne Tränen, die ich eilig wegblinzele, kullern mir aus den Augen.

»Dora«, flüstert jemand. Dieser Jemand klingt verdächtig nach ihr. Doch ich versuche es auszublenden, denn warum sollte sie nun nach mir rufen? Das ergibt doch keinen Sinn. Es ist wohl viel eher ein Wunschgedanke, den ich mir einbilde. Denn erst mich wegzustoßen, um mich dann zu sich heran zurufen ... Nein!

Immer weiter krieche ich über den Marmor. Risse haben sich aufgetan. Einzelne Scherben spüre ich. Das alles ist mir egal. Jetzt kommt es mit voller Wucht. Irgendetwas ist hier heftig am Gange. Die Erde ist immer noch nicht still, doch das immense Toben scheint zumindest vorbei zu sein. Doch mittlerweile ist das Beben auch auf mich übergegangen – oder ich bemerke es erst jetzt. Eventuell hat mich das Adrenalin bisher beschützt.

Jetzt dringen schrille Stimmen an meine Ohren heran. Das alles scheine ich eben ausgeblendet zu haben. Es riecht nach Schweiß, nach Angst, nach ... Schlechtem.

Ich muss hier raus, bloß raus. Voller Hoffnung, dass ich die richtige Richtung erwischt habe, taste ich mich zitternd voran. Bis ich Schatten erkenne, die durch Schlitze kommen. Das muss die riesige Flügeltür sein, hoffe ich zumindest. Kraftvoll stoße ich mich mit meinen Armen und Oberkörper dagegen, sodass sie aufgeht und bemerke, dass ich einmal Glück habe. Als ich mich durch die Tür gezwängt habe, rappele ich mich auf. Auch wenn das vollkommen egal ist, streife ich meine Kleidung automatisch glatt – so gut es geht. Viel bringt es nicht, denn sie ist nun sowieso völlig eingesaut und an einigen Stellen aufgerissen.

Instinktiv schlage ich den einzigen Weg ein, bei dem ich ein Ziel – eine Tür zu einem Raum – in diesem monströsen Gebäude kenne. Den zur Toilette, der so ewig lang ist. Wenn der nicht komplett verwüstet ist, dürfte mir da nicht allzu viel passieren. Einfach geradeaus. Und dann irgendwann rechts in die Tür rein. Das wird schon, Dora!, spreche ich mir gedanklich gut zu.

Ganz langsam setze ich einen Schritt nach dem anderen und behelfe mich ebenso mit meinen Händen, um die Gegend abzutasten. Absolut kein Licht brennt mehr. Ganz starr auf meine Füße und Hände fokussiert versuche ich mir meinen Weg zu bahnen. Nur ab und zu bleibe ich stehen, um zu horchen, ob ich etwas höre. Zwischendurch komme ich zwar ins Straucheln, aber erstaunlicherweise schlage ich mich recht gut auf dem Weg.

»Dora!« Erschrocken drehe ich mich um, kann aber nichts erkennen. War das gerade real oder erneut eine Einbildung?

»Gott sei Dank habe ich dich endlich entdeckt!« Ob mir damit meine Frage beantwortet wurde, bin ich mir allerdings nicht sicher.

»Wer ist da?«, frage ich leise nach.

»Erkennst du denn nicht mal mehr meine Stimme?«

»Bist du es wirklich?«

»Nein«, antwortet sie, woraufhin eine Stille einkehrt. Viel zu unsicher bin ich, ihren Namen auszusprechen. Was, wenn ich mich nur täusche?

»Doch natürlich bin ich es.«

Was macht sie hier und wie ist sie hierhergekommen? Das irritiert mich dermaßen, dass ich genau das frage: »Warum bist du hier?« Na ja, nicht genau das, aber so ähnlich.

»Ich bin froh, dich gefunden zu haben«, weicht sie irgendwie der Frage aus. Doch die Stimme ist nun noch näher und ich kann sie nun beinahe sehen, zumindest schemenhaft.

»Komm mit«, bestimme ich und greife nach ihr, erwische sie aber nicht. Dabei hätte ich schwören können, dort, wo ich hin gegriffen habe, ihren Schemen ausgemacht zu haben. Vielleicht sind meine Sinne noch benebelt.

»Ich muss dir was sagen«, murmelt sie geheimnisvoll.

»Gleich«, sage ich. »Lass uns erst mal ...« Ich drehe und wende mich und weiß nicht, ob wir uns schon Nähe der Toiletten befinden.

»Aufs Klo gehen?«, belustigt sie sich. Schemenhaft erkenne ich, dass sie auf die übernächste Tür zeigt.

»Ja genau, los jetzt. Wer weiß, wer hier noch in der Dunkelheit lauscht.«

Vollkommen eigenartig das alles. Was ist hier nur alles los?  

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