10 | Im Nirgendwo
Das kann nicht wahr sein! Meine Augen müssen mich täuschen – das geht nicht anders. Nein, nein, nein. Wo bin ich hier nur gelandet? Und warum ich?
Erschüttert wende ich meinen Blick mehrmals zwischen Cobie und dem, was vor mir ist, hin und her. Nein. Lass mich endlich aufwachen! Doch natürlich schlafe ich nicht wie erhofft; das scheint kein mieser Traum zu sein. Als meine Augen das nächste Mal auf Cobie treffen, deutet er auf das riesige Gebäude vor uns. Es – das muss ich zugeben – sieht einladend aus, aber es befindet sich ebenso in einem Irgendwo im Nirgendwo.
»Meine Dame, können wir?«
»Ganz gewiss nicht!«, donnere ich ihm entgegen. Zu bedrohlich wirkt der Abstand zwischen mir und dem Haus.
Klar, zu gerne wüsste ich, was da drinnen vor sich geht und was das alles mit mir zu tun hat, aber noch viel lieber möchte ich wissen, wo ich mich überhaupt auf der Erde gerade befinde.
Wir haben den Waldpfad verlassen, der eine Straße kreuzt. Das Stichwort ist kreuzen, denn auf der anderen Seite würde er weiterführen. Nach meiner anfänglichen Euphorie, den Wald endlich hinter mir lassen zu können, habe ich einen ordentlichen nächsten Dämpfer verpasst bekommen. Cobie bog scharf nach links ab und blieb nach zwei Schritten stehen. Bei dem Gebäude da hinten ist das Ende dieser Straße ... Wohin diese Nicht-Hauptstraße nach rechts führt? Ich weiß es nicht, es ist dunkel.
»Aber meine Dame, wir sind endlich angekommen. So lassen Sie uns hineingehen«, drängt mich Cobie.
»Und was passiert dann als Nächstes?«
»Sie werden sich amüsieren.«
»Du meinst, wie schon den ganzen bisherigen Abend?«
»Das war alles nicht vorhergesehen.«
Das habe ich doch so ähnlich schon mal gehört ... Vor meiner Wohnungstür. Das kommt mir schon so ewig lang her vor. »Cobie, ich bin fix und fertig und möchte nur nach Hause. Eigentlich wollte ich nie mit dir mitkommen. Keine Ahnung, was mich da geritten hat.«
Seine Lippen öffnen sich einen klitzekleinen Spalt, aber es dringt kein Wort heraus. Kurz darauf presst er seinen Mund wieder zu und damit einhergeht eine Stille. Sie dehnt sich zwischen uns aus. Wie unangenehm. Zu schön wäre es, wenn ich mich einfach zurück in meine Wohnung wünschen könnte. Wieder in meinen flauschigen Pyjama. Auf dem Weg ins Bett, um früh dort drin verschwinden zu können. Anstelle mich auf dieses unwegsame Abenteuer gemacht zu haben.
Mal etwas riskieren. Wie witzig. So zumindest kam mir die Aussage der Ärztin vor. So hat sie das natürlich nicht gesagt. Aber mal aus meinem Trott herauskommen, um meinen Kopf zu fordern. Was hat mir das jetzt gebracht?
»Meine Dame, nun sind Sie schon hier. Wollen wir nicht hinein, Sie trinken etwas, schauen sich um und werden sicherlich auch Spaß haben.«
»Woher willst du das wissen?«, frage ich zynisch nach. Warum ist ihm das so wichtig? Und warum kommt mir das wie die Szene vor meiner Wohnungstür vor?
»Ich kann es mir gut vorstellen.«
»Das reicht mir nicht. Erzähl mir, was da drin vor sich geht.«
»Das kann ich nicht.«
»Kannst du nicht oder darfst du nicht?«
»Das ist nicht vorge–«
»Ach komm, das reicht jetzt mal. Das ist nicht vorgesehen. Bla bla bla.«
»Je schneller Sie sich dazu entscheiden, hineinzugehen, desto eher werden Sie es selbst sehen.«
»Und wenn ich nicht mit reingehe?«
»Das ist nicht–«
»Vorgesehen?«, hake ich spöttisch ein. »Cobie, dir ist schon klar, dass ich schon noch eigenständig entscheiden kann, oder?«
»Und dennoch ist dieses Szenario nicht vorgesehen.«
»Bist du wieder zum Roboter mutiert?«
Fragende Augen sind seine Reaktion. Ich dachte, wir hätten bereits Fortschritte in der Kommunikation gemacht, wenn auch nicht alle positiv zu verzeichnen sind. Doch jetzt stehen wir diesbezüglich an der gleichen Stelle, wenn auch örtlich leider nicht.
»Was passiert, wenn ich mich nun abwende? Läufst du mir hinterher?« Ich verschränke meine Arme vor meinem Körper und schaue ihn demonstrativ wartend an.
»Das nicht, jedoch ...«
»Ja? Ich höre.«
»Sie werden es herausfinden müssen, was dann folgt, meine Dame.«
»Das klingt wie eine Drohung, Cobie.«
»Mag sein, aber ich antworte nur so weit, wie ich kann. Das ist alles.«
Déjà-vu. Es ist das gleiche Dilemma – ein Streit, der nonverbal zwischen uns ausgetragen wird – wie vorhin; der mich daran erinnert, warum ich aufgegeben habe und mit ihm mitgegangen bin. Und mittlerweile habe ich noch weniger Kraftreserven; er damit ein leichteres Spiel.
Innerlich seufze ich bereits resigniert auf, doch nach außen lasse ich es noch nicht durchscheinen. Er darf noch kurz zappeln. Wenigstens das.
»Meine Dame ...«
»Wir gehen rein, Cobie. Du holst mir ein Glas Wasser, etwas zu Trinken brauche ich wirklich und eine Toilette. Wir sind ja schon ewig unterwegs. Und dann bringst du mich nach Hause. Klar?« Woher diese entschlossene Stimme auf einmal kommt – keine Ahnung, aber es fühlt sich gut an.
»Das lässt sich bestimmt einrichten«, erwidert er bereits fröhlicher gestimmt.
»Entweder du stimmst zu oder ich gehe jetzt.«
»Das mit dem Wagen muss ich noch abklären, meine Dame.«
»Wie kommst du denn wieder weg?«
»Gar nicht.«
Ich blicke nochmals zum Haus. Okay, vielleicht ist es eher eine Villa – ich habe keine Ahnung von solchen Gebäuden. Es ist riesig. Schlafräume werden dort drin sicherlich ihren Platz finden. Aber ...
»Da an der Seite stehen doch ein Haufen Autos. Mit Sicherheit kennst du die Leute, oder etwa nicht? Ich bleibe auf keinen Fall Stundenlang hier.«
»Ich kümmere mich darum, sobald wir eingetreten sind.« Cobie setzt bereits einen Schritt vorwärts und wie fast den ganzen bisherigen Abend folge ich ihm die letzten Meter.
Der Wald säumt zu beiden Seiten die Straße – unseren kurzen Weg bis zum Anwesen. Mein Blick huscht immer mal wieder zwischen die Bäume, als könnte da jemand herausspringen. Vielleicht dieser Jemand von vorhin. Die Straße sackt etwas ab, als würden wir uns von einem Hügel hinunterbewegen. Das Ende der Straße mündet in den breiten Parkplatz neben der Villa. Dahinter ist ein freies Feld, vermutlich war es mal eine Wiese. Vor den ersten Autos biegen wir nach rechts ab, um durch den steinernen Torbogen auf das Anwesen zu schreiten. Das Anwesen wirkt alt, gar herrschaftlich, als würde es auch einer sehr alten Zeit stammen.
Ein gepflasterter Weg führt uns zur Tür. Rechts und links sind gepflegte Rasenflächen und an den Rändern kann ich Blumenbeete erahnen.
Nur noch wenige Fußlängen bin ich entfernt von ... Was auch immer da drin sein möge. Gleich werde ich es also endlich erfahren. Cobie schreitet ganz gewöhnlich und locker – für seine Verhältnisse – den Pfad entlang, als würde er hier täglich ein und aus gehen. Ich wiederum werde mit jedem Schritt nervöser. Bin ich denn noch ganz richtig im Kopf? Kann ich das alles noch mit meinem Unfall begründen, dass ich mich hier rauf einlasse? Angst und Neugierde vermischen sich zu einem Cocktail in mir drin, der mich schwitzen lässt. Immer wieder reibe ich meine Hände an der Leggins ab und versuche meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Während wir die fünf Treppenstufen zur Tür erklimmen, öffnet sich die Tür. Ein Mann scheint sich davon schleichen zu wollen. Er drückt die Tür nur einen Spalt auf, um gerade so durchzupassen und zündet sich sofort eine Zigarette an.
Als er kurz darauf seinen Kopf anhebt, erblickt er uns. Ein Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, was von einem Schmunzeln Richtung Cobies Jackett abgelöst wird. »Herm–«
»Hallo«, unterbricht ihn Cobie, der von dem Fremden definitiv anders angesprochen wurde. »Lange Geschichte«, wiegelt er dann ab.
Überrumpelt blicke ich zwischen den beiden hin und her. Cobie. Herm oder Herm-irgendetwas. Was soll das denn jetzt noch bedeuten?
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