Hustleculture
Ich sitze auf einem Schreibtischstuhl, den Laptop auf den Beinen, und mein Prof denkt über den Titel für ein Kolloquium nach, er denkt laut:
"'Digitale Geographie als Geographie gesellschaftlicher Technikverhältnisse.'
Hm. Ich hatte auch schon Titel, da war drei mal Geographie drin.
Und 'Gesellschaftliche Technikverhältnisse', ich weiß gar nicht ob man das so sagt. Vielleicht hab ich mir das auch einfach ausgedacht. Keine Ahnung."
Ich liebe es wenn intellektuelle und viel denkende Menschen so affektiv reden. Ein*e Kommiliton*in und ich, (wir verstehen uns immer, auch bei subtilen Witzen und mit vollem Mund) wir schauen uns an und müssen beide als einzige in der Sitzung lachen.
Danach schweife ich ein bisschen ab und denke mir: "Ollie und Wilma als Erscheinung alltäglicher Zuneigungsverhältnisse." - hab ich mir das ausgedacht? Verhältnis klingt besser als Affäre und unbedeutender als Beziehung. Und trotzdem ist es recht ernst gemeint, deshalb das Wort Zuneigung.
Ollie reden in solchen Kontexten immer von "Verbindung". Ich muss bei sowas an Seelenverwandschaft und Schicksal denken und deshalb kann ich ihm da nicht so zustimmen.
Ich sitze da, und denk nach, und setze uns ins Verhältnis zueinander. Man kann es verschieben und objektivieren, man kann es von unterschiedlichen Winkeln betrachten, oder ganz und gar romantisieren.
Ich könnte mich reinsteigern. Dass Ollie Leon der Profi ist, und ich Mathilda.
Ich könnte mich aber auch rausreden und sagen: wir verbringen viel Zeit zusammen, weil es sich so gut im Alltag ergibt.
Nach dem Meeting in der Uni treff ich mich - natürlich - mit ihm, und noch ein paar anderen Leuten, für ein politisches Projekt.
Manchmal zieht das Leben ein bisschen an mir vorbei. Aber wenn ich Zeit mit Ollie verbringe versuche ich aufmerksam zu beobachten, wie geduldig und vorfreudig er seine mitgebrachte Kaffeetasse in den Automaten stellt, wie verträumt er manchmal falsche Wege gehen will - obwohl wir in einer Gruppe laufen - und wie unpassend er ab und zu in Gespräche reinredet, weil ihn etwas interessiert oder begeistert. Wie er mich dann halb ertappt, halb zufrieden anguckt, und wie ich dabei schmunzeln muss.
Wie er mich dann manchmal beleidigt-amüsiert in den Arm knufft und ich ihm dann über den Rücken streichel.
Aber das muss weniger werden, das alles. Wir haben es geklärt und abgesprochen. Lieber aufhören, bevor man sich noch dran gewöhnt.
Man muss da ganz pragmatisch sein.
Weniger pragmatisch sage ich heute auf dem Heimweg zu ihm, in der Hoffnung dass die anderen die vor uns laufen, es nicht hören: "Ollie weißt du, ich fühle mich, nur weil ich manche Gesten zurückhalte, als wäre ich gemein zu dir. Aber ich bin ja trotzdem nett zu dir, und doch ist es als hätten wir uns gestritten oder so. Als würden wir uns wehtun."
Wie er mich anschaut und dann nickt. Diese selbstverständliche Verletzlichmachung die wir beide immer anwenden - ich bin ziemlich Fan davon.
Und dann sagt er: "Weiß ich doch alles. Aber ja, gestern in der Bib hat sich das schon irgendwie angefühlt, wie... harter Liebesentzug."
Irgendwie müssen wir beide drüber lachen, keine Ahnung wieso. Und dann müssen wir noch ein bisschen mehr darüber lachen, dass wir darüber lachen mussten.
Je trauriger ich bin, desto buntere Sachen ziehe ich an. Ollie trägt heute komplett schwarz.
Dann geht er nach vorne zu den anderen und redet fröhlich rein, wie glücklich ihn der Sommer macht und wie wach und produktiv er jeden Tag ist. "Boah dieses Wetter, die Wärme, die Pflanzen in dem Kübel und die Kirschbäume da - oh Mann.", sagt er und streckt sich. Die anderen lächeln so ähnlich, wie ich in diesen Momenten immer lächle.
Ollie liebt den Sommer und trägt heute schwarz. Jeder ist anders.
Seit 2019 sind meine Sommer schieße, und das hat nen Grund. Summertime Sadness ist real. Aber diesmal will ich es anders machen. Nicht so wie ein entfernter Kumpel von mir, der letztens versucht hatte mich mit seinen Ausführungen über seinen "Slutty Summer" aufzureißen. Ich glaub ich mach es nicht sad, nicht slutty, sondern einfach chillig. Ich glaube, manchmal kann man ein gewisses Maß an Traurigkeit auch ganz gut benutzen, um einfach mal ruhiger zu werden. Serotonin ist eh nicht unendlich, das vergisst man gut und gerne mal.
Mir fallen Dinge ein, über die ich mich freue.
1. Ich habe begonnen, Menschen dafür zu lieben, dass sie gute Menschen sind. Nicht hot, nicht cute (wobei... das auch oft) sondern einfach: voller Herzenswärme. Und breit für reflektierte Gespräche.
2. Und ich darf so viele tolle Menschen kennenlernen. Bzw. ein paar auch so eng und intensiv, und das ist wirklich krass, je länger ich darüber nachdenke.
3. (Wie jeden blöden Blödsommer) hab ich schon wieder eine Fitnessapp installiert. Aber! ich habe als Trainingsziel zum ersten mal "fit werden" und nicht "abnehmen" eingegeben. Und es auch ehrlich so gemeint.
4. Und ehrlicherweise die App noch nicht benutzt. Und irgendwie freut mich das! Ich beweg mich stattdessen so, wie es mir Spass macht. Fahrradtouren sind sehr simpel und sehr schön. Viele Dinge sind so.
Oh oh, und: 5. Subkultur ist super, besonders die in unserer Stadt. Eigentlich muss ich gar nicht raus hier. Ich könnte echt den ganzen Sommer hier bleiben.
Die Mutter eines Freundes meinte einmal zu mir: "Der Tilo hat bestimmt seit einem halben Jahr kein einziges Mal Leipzig verlassen. Der liebt sein Leipzig.". Und das fand ich irgendwie auch so: simpel und schön.
Letzten Sommer meinte ich zu meiner Liebe, als sie mich fragte, warum ich so traurig bin: "Keine Anhnung, es ist Spätsommer. Ich glaube, ich sollte im Sommer einfach Winterschlaf machen."
Aber vielleicht muss ich das gar nicht. Vielleicht kann ich einfach in meiner Stadt Übersommern. Sommergewitter von Pashamin hören und mich richtig in der Hood einigeln. Mit Fips im Sommerloch hocken. Wenn meine WG ausgeflogen ist, wenn ich mit der Gang keinen Termin zum Campen finde an dem alle können, und wenn meine Familie mit mir in den Urlaub fahren möchte, obwohl ich das nicht will. Dann einfach mit Fips alles an uns vorbeiziehen lassen. Mit dem Fahrrad an den anderen vorbeiziehen. An der Kippe ziehen. Gegen das Ziehen im Herzen.
Schiebt anders.
Einfach Urlaub machen, indem ich keinen Urlaub mache.
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