Über Inhalt und Wahrheit

Es regnete. Harter Regen prallte auf das Pflaster aus Stein und bildete riesige Pfützen. Die wenigen Menschen, die zu diesem Wetter noch auf den Straßen unterwegs waren, bemühten sich erfolglos, über die wässrigen Löcher hinwegzusteigen und ihrem Ziel unbeschadet zu begegnen. Ihre Schirme tanzten unter den vielen Wolken, die sich gebildet hatten und waren sicherlich so zahlreich wie die Blätter, die zu dieser Zeit von den Bäumen fielen.

Es war das Haus mit der Nummer 6 des Knöllchenweges, der seinen Namen einer kleinen runden Knolle verdanke, die wohl vor mehreren Jahrzehnten dort angebaut sein musste, aus dem im hektischen Eifer der Stadtpfarrer Paulus trat und unter seinem schwarzen Gewand mehrere Schriften zu schützen hielt. Schnellen Schrittes eilt er über den Vorplatz seines Hauses, wendet sich der großen Straße zu, überquert sie nach mehrmaligem Sehen und verschwindet in einem linken Hauseingang einer kleinen Gasse. Es war ein rostrotes Haus gewesen, in welchem sich sein Schatten verlor und er das zweite Stockwerk betrat. In jener Etage saß der Hochwürdige Herr Dekan Adamas, der seinerzeit die Verwaltung des Kirchendistrikts Cospa leitete. Unter seiner Hand führte er mehrere Pfarreien, unter anderem die des Pfarrer Paulus, der seine Gemeinde in Löburg fand.

Drei Mal klopfte es an die Tür des hochwürdigen Herrn Dekan Adamas, bevor Pfarrer Paulus die Dielen des rostroten Hauses betrat. „Herein", sagte Dekan Adamas bereits dann, als Pfarrer Paulus ihm schon gegenüber stand. Dekan Adamas hatte noch seine Feder in der Hand, die zu seinen Bewegungen eifrig hin und her hüpfte. Er sah kurz hinauf, deute auf den hölzernen Stuhl und Pfarrer Paulus setzte sich aufrichtig hin, beobachtete die Feder und den hochwürdigen Dekan Adamas bei seiner Arbeit.

„Ja bitte, was kann ich für Sie tun?", sagte Dekan Adamas nun dem Pfarrer Paulus, der etwas hektisch aufsprang und sich vor dem Tisch des Dekans platzierte, die Blätter in seiner Hand haltend. „Das", sprach er dann, „ist meine Abfertigung zu dem Themengebiet, dass ich vor mehreren Wochen angekündigt habe."

„Und da sind Sie jetzt schon fertig? Wie schön, legen Sie es bitte hin, ich werde darüber sehen und entscheiden, ob ich es weiterleiten kann." Da begann der Dekan auch schon wieder, zu seiner Feder zu greifen und weitere litteras zu schreiben.

Stadtpfarrer Paulus war mit dem Pfarrer Barabbas, von einigen auch Pfarrer B. genannt, jüngst in eine Diskussion geraten, die sich mit der Exegese der Heiligen Schrift beschäftigte. Da sich jene Streitigkeiten scheinbar nicht zu beruhigen ließen, gab es mehrere Zungen, die diesen Vorfall dem Dekan berichteten, einige meinten, es wäre Pfarrer B. selbst gewesen, als er wieder einmal im Büro des hochwürdigen Dekans Adamas saß und die Arbeit von Adamas lobte. Beiden hatten sich dem Dekan Adamas vorzustellen und ihre Position darzulegen. Und während Pfarrer B., der den hochwürdigen Dekan Adamas längst konsultiert hatte, seine durchaus konservative Position bezog, die Exegese so interpretierte, wie der hochwürdige Dekan es von sich selber oftmals selbst hörte, sprach Pfarrer Paulus über neue Sichtweisen, einer Allegorese auf höheren Ebenen. Der Dekan Adamas, der sichtlich der Art Pfarrer Bs. zugeneigt war, legte schließlich den beiden auf, ihre Erklärung in Papier zu verschriftlichen.

Ganze 23 Papyrusrollen brachte Pfarrer Paulus zu Stande. Unaufhörlich schrieb er für drei Wochen, geleitet durch die Hand seines Schöpfers und Erlösers. Paulus wusste, er war im Recht. Wenn er auch nur einen Fehler machen würde, wenn seine Thesen keine standfesten Argumentationen folgen würden, war sein Beruf in Löburg in Gefahr. Viel zu oft hatte er Pfarrer B. widersprochen, oftmals recht behalten und sich über dessen lächerliche Scheuklappenvariante echauffiert. Es war ein Kampf gegen Windmühlen, den sich Pfarrer Paulus hier, wieder einmal, aufgehalst hatte.

Als nach weiteren Wochen Pfarrer B. seine 12 Schriftrollen vorlegte, tuschelten die Gemeinden des Distrikts Cospa bereits gewaltig. Auch sie hatten von den Vorfällen zwischen Pfarrer B. und Pfarrer Paulus gehört, die unter dem Dekan Adamas im Winter des Jahres 1819 stattfanden. Ganze Gemeinden sahen sich in Tradition Pfarrer Bs. oder Pfarrer Paulus, scheinbar war es der ganze Distrikt, der den Kampf um die Arbeit des Paulus und des Bs. austrug.

Doch blieb es nicht nur im Distrikt Cospa dabei, die Erzählungen der Ereignisse erreichten bald den Bischof, selbst die Kardinäle und Papst waren bald im Bilde um die Diskussionen, die sich im kleinen Cospa abspielten.

Schließlich lud der Dekan Pfarrer B. und Pfarrer Paulus wieder zu sich, bot den beiden Getränke an und berichtete von seiner Beurteilung der vorliegenden Arbeiten. Zwar lobte er den Pfarrer Paulus für seine wohl sehr aufwendige Arbeit, doch kritisierte er zwei Schriftrollen und eine weitere zu ⅐, so dass es schließlich 2,7 Rollen waren, die seiner Beanstandung unterlagen und damit geringfügigeren Wert als die von Pfarrer B. hatten, der sich bei Erstellung wesentlich mehr Zeit ließ - was mit der anhaltenden Konsultation zum Dekan Adamas in Verbindung gebracht werden kann.

„Ich lege Ihnen nahe, Paulus, dass Sie die Sache ruhen lassen. Das wird sich sicherlich auch in Zukunft als positiv erweisen." Der hochwürdige Dekan Adamas tauschte Blicke mit Pfarrer B. aus, und deutete auf seinen Schreibstuhl.

„Pfarrer B. steht in -", begann Pfarrer Paulus.

„direkter nachfolge des hochwohlgeborenen Dekan Adamas, ganz richtig", lächelte Pfarrer B. dann Paulus an. „Sie werden doch sicher verstehen, dass dies auch seine Gründe hat."

„Ich verstehe nur allzu gut", entgegnete dann wieder Pfarrer Paulus, der sich vor Schock den Beteiligten abwandte und in sein Haus hinüber eilte. Mehrere Tage verharrte er in den Räumen seiner Wohnung, zweifelnd an den Schreibfähigkeiten seiner Hände. Hatte Gott, der Erlöser und Schöpfer sein Schicksal anders vorgesehen? Er sank auf die Knie, faltete seine Hände und schrie zum Himmel: „Bitte, sende mir ein Zeichen!". Da klopfte es plötzlich an der Tür und Pfarrer Paulus richtete sich wieder auf, entfernte den Staub von seiner schwarzen Kutte, küsste sein Kreuz und eilte dem hölzernen Portal entgegen. Als er die Tür dann öffnete, kam die Eva und Maria in das Zimmer, zwei junge Schwestern, die das Dorf erst neulich segnete.

„Aber Pfarrer Paulus, was machen Sie denn für ein trauriges Gesicht?", Eva stellte ihren Weidenkorb auf den Tisch und ging zum Fenster, zog die Vorhänge beiseite und da sagte Maria: „Sehen Sie doch, wie schön das Wetter ist!"

„Was bringt nur das schöne Wetter, wenn mein Geiste trübe ist?", klagte Pfarrer Paulus. „Meine Arbeit wurde nicht angenommen, Pfarrer Barabbas wird das Dekanat übernehmen."

Da verschlug es Eva und Maria zu erst die Sprache und sie fassten sie vor Überraschung auf den Mund, wandten sich dem Pfarrer Paulus ab, unterhielten sich, ehe sie sich wieder umdrehten. „Wahrheit und Wahrnehmung sind zwei unterschiedliche Dinge, Pfarrer Paulus. Schlafen Sie gut aus und gehen am besten morgen erneut zum Dekan Adamas. Aber vergessen Sie nicht nach seiner Kritik zu fragen und nehmen Sie Wachs und Siegel mit!" Da verschwanden die zwei Mädchen und Pfarrer Paulus legte sich schlafen.

Als er am nächsten Tage wieder drei Mal an die Tür des hochwürdigen Herrn Dekan Adamas klopfte, selbiger wieder an seinen litteras schrieb und sich die Feder hin und her bewegte, verlangte Paulus die Kritik an seinen Rollen.

Da legte Dekan Adamas die Feder beiseite, stand auf und sagte energisch: „Pfarrer Paulus, wenn Sie nicht wollen, dass Ihre Stelle von jemand anderem besetzt werden soll, sollten Sie sich Ihrer Ausdrucksweise bewusst werden!" Und wie Pfarrer Paulus das Wachs und sein Siegel in der Hand sah, nahm er die Schriftrollen und versiegelte sie.

„Was machen Sie da?", erzürnt stieß der Dekan auf Pfarrer Paulus, „Legen Sie die Rollen wieder hin!"

„Gott vergelts!", er drückte seinen Stempel auf das Wachs, nahm die Rollen und schlug die Hand des hochwürdigen Dekans Adam aus der Hand, eilte hinunter und gab sie einem Boten, mit der Bitte, sie schnellstmöglich nach Rom, seiner Heiligkeit zu übermitteln. Wie befohlen, ritt der Bote los, seinen Schatten sah man im Horizont.

Da kam der hochwürdige Dekan Adamas hinausgestimmt, den Reiter noch den Weg aus Pflastersteinen hinunter reiten sehend und ging nah an Paulus hinan. „Das wird Konsequenzen haben, das verspreche ich Ihnen!"

Am nächsten Morgen sah sich Paulus ein Schreiben an, dass ihn noch spät in der Nacht des vorherigen Tages erreiche. Müde hatte er ihn entgegengenommen, wohlwissend, was in ihm stehen müsste „Vom Amt suspendiert", lachte er dann, als er daran dachte. Und so öffnete er den Brief, vernahm den Satz, über den er gestern noch spottete und setzte sich auf sein Bett. „2. Korinther 4,16-18", erinnerte er ich dann „Deshalb verlieren wir nicht den Mut." Er atmete tief ein und schritt auf seinen Balkon. Obwohl es bereits Winter geworden war, schien die Sonne auf sein Angesicht und beglückte ihn mit ihrer Helligkeit.

Fortan ging er nun nicht mehr in die Kirche, seine allseits beliebten und bekannten Predigten weichten denen von Pfarrer B., der, wie Gott es so gewollt hatte, glücklicherweise die Stunden von Pfarrer Paulus übernehmen konnte. Pfarrer Paulus saß in der letzten Reihe und blickte betrübt nach unten, als er nicht sich auf der Kanzel sah. Mit engen Scheuklappen philosophierte dann Pfarrer B. von Dingen, die er zwar tadellos auswendig konnte, aber leider nicht gänzlich verstand. Was links und rechts von seinem Körper sich abspielte, hatte für ihn keine Bedeutung gehabt. Die Kinder, die hinter ihm spielten, beachtete er nicht, den Alten, die auf der Empore über ihn saßen, schenkte er keine Aufmerksamkeit. Er machte es so, wie es von Dekan Adamas gewünscht war und erhielt sein Lob und seine Güte dadurch.

„Das ist ja schrecklich, ach, mein lieber Herr Pfarrer Paulus!", beteuerte Frau Zimmer die Erlebnisse und Geschehnisse von ihrem Gegenüber. „Vertrauen Sie nur auf Gott, es wird schon alles richtig passieren. Die Wahrheit wird siegen!", damit ging sie fort. Ihr folgend kam ein ganzer Kreis, der sich dann um Pfarrer Paulus versammelte, sich gleichzeitig beschwerend über Pfarrer B. und sich echauffierend über seine Rede und die Absetzung des Pfarrer Paulus in Szene setzend. Sie stoppten jüngst ihre Gespräche, als sie ein Klopfen vernahmen. Der Dekan nagelte seinen Kommentar an die Kirchentür.

„Hiermit verkünde ich, hochwürdiger Dekan Adamas, dass, durch Gottes Gnaden bestätigt und bekräftigt, die Kritik an den Schriften des ehemaligen Stadtpfarrer Paulus, der sich der Blasphemie", die Menge erschrak, „schuldig gemacht hatte. 2,7 Rollen sind es, die zu meiner Beanstandung geführt haben und mich, durch die jüngsten Ereignisse dazu genötigt haben, Aufklärung zu verbreiten. Sein Ausdruck und seine Formulierungen sind es nicht würdig, seine Arbeit als gotteswürdig zu betiteln." Damit ging er fort.

Die Menge las sich noch einmal die Anklagepunkte durch und verschwand so dann, als sie merkten, nichts mehr für ihren einstigen Stadtpfarrer Paulus tun zu können. Es regnete an diesem Tage erneut und sehr lange. Erst spät legte sich der Pfarrer in sein Bett.

Die Tage und Wochen vergingen, der Winter zog aus, die Entlassung des Paulus schien vergessen, als die ersten Blüten an den Bäumen hingen. Wie jeden Tag zog Paulus seine Gardinen auf, blickte in den Himmel und fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte. War er so schlecht wie man ihn betitelt hatte? War seine Argumentation wirklich falsch und blasphemisch, hatte er so viele Fehler gemacht? Die Fragen ließen ihn nicht ruhen und sie quälten ihn jeden Tag. Womit hatte Paulus das verdient?

Doch als nun die Blumen blühten und sich auf den kleinen Gassen keine Pfützen mehr bildeten, die Tage sich nicht mehr regnerisch verklärten, da erreichte Löburg ein ganz besonderer Bote. Der Vatikan, die Heiligkeit selbst hatte ihn gesandt. Der Reiter entledigte sich seinem Pferd und trat auf den Marktplatz, die lauten Gespräche verstummten, einige letzte konnte man flüstern hören. Am Fenster des Dekanat stand Adamas, der bestürzt nach unten eilte.

»Seine Heiligkeit, Papst Pius der Siebte, Pontifex Maximum, Bewahrer und Beschützer der stolzen römisch-katholischen Kirche, lässt verkünden, dass, die Abhandlung des hiesigen Stadtpfarrer Paulus, dessen Bericht in der Heiligen Kirche in den letzten Monaten ausgiebig diskutiert und geprüft wurde, rehabilitiert ist und seine Abhandlung die Grundlagen der römisch-katholischen Kirche nicht nur widerspiegeln, sondern erweitern«, die Menge atmete auf, ein jeder sah den Paulus an und konnte sein Glück kaum fassen. »Des Weiteren wird verkündet, dass das hiesige Dekanat unter Leitung des Dekan Adamas ab sofort und mit expliziter Anordnung des Papstes einer Kommission unterzogen wird und nach Abschluss dem Stadtpfarrer Paulus unterstellt wird. Nach Übermittlung der Schriften des Pfarrer B.s, die nicht nur in ihrem Umfang und Ausdruck wesentlich einfältiger und bescheidener ausgefallen sind, wurde erkannt, dass ein dringendes Problem in der Beurteilung von Abhandlungen existiert. Fortan werden Berichte, die die heilige römisch-katholische Kirche betreffen, nicht mehr nur durch das Dekanat, sondern von höherer Stelle untersucht. Ebenfalls wird wird eine gesonderte Kommission zu den Konsultationen des Pfarrer B.s mit Dekan Adamas erlassen.«

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