Über Engel
Als er seine Augen öffnete, standen sie um ihn herum. Die Menschen redeten in einer Sprache, die er nicht verstand, wählten Wörter und Formulierungen, die ihm fremd gewesen waren und zeigten mit Fingern auf ihn, der vor ihnen auf dem Boden lag. Sie bestaunten und ja, voller Bewunderung, beglotzten sie ihn. Er war einer von ihnen geworden. Er war gefallen; vom Himmel hinunter auf die Erde und die Menschen hatten zugesehen. Sie hatten seinen Fall beobachtet und rannten zur Stelle, wo er schließlich aufgekommen war. Verwundert, ängstlich und verwirrt standen sie vor ihm und betrachteten seine Flügel, seine weißen Federn, die ihm aus dem Rücken kamen. Er war ein Engel und sie waren Menschen.
Sie konnten es nicht glauben, dass er dort vor ihnen lag: Ein Engel. Ein wahrhaftiger Engel hatte seinen Weg zu den Menschen gefunden, die dort misstrauisch mit Mistgabeln und anderem Zeugs um ihn herumstanden. Etwas so Fremdes, was sie eigentlich nicht kannten, konnten sie vor sich bestaunen, etwas, das ihnen so fern gewesen war. Das war wohl auch der Grund, weshalb die ersten ihm gegenüber misstrauisch wurde, als sie ihn sahen, einen angeblichen Verräter in seinen Augen erblicken konnten. Ob der Feind ihnen nur eine Illusion zeigte? » Höret ihr?! «, sprachen sie dann, aber er reagierte nicht. Er sah sie nur an, verstand aber nichts von dem, was sie sprachen. Alles, was sie sagten, war ihm unbekannt gewesen, gar so, als käme er aus einer anderen Welt.
Das Land war seit Jahren im Krieg. Es war ausgezerrt, die Ernten reichten nicht mehr aus, das Volk hungerte und die Männer fielen in unzähligen Schlachten. Das Misstrauen der Leute, die ihn beobachteten, hatte also seinen guten Grund gehabt. Sie hatten gelernt, mit der Angst zu leben, kein Vertrauen mehr zu haben und hinter allem, was neu gewesen war, einen unwiderruflichen Schrecken zu erblicken. Entsprechend hielten sie von ihm einen Abstand, der ihnen Sicherheit versprach. Das, was vor ihnen lag, konnten sie nicht erkennen. Auch wenn er als Engel ganz unschuldig und hilflos ihnen ausgeliefert war, wussten sie doch nicht, was zu tun war. Sie waren Unfähige geworden, unfähig, zu erkennen, was sie erblickten.
Als der König eintraf und mit ihm der ganze Hofstaat, ging er durch die Menge, schrie: » Weg da, Gesindel! « und mit seinem ganzen Stolz, König zu sein, sich über den unverwundeten beugte, von oben auf ihn herabsah, kam er zu einem ersten Entschluss: » Ich, als euer König, lasse verkünden, dass vom heutigen Tage, bis ich es anders beschließe, dieser Engel, der im öffentlichen Interesse steht, jeden Tag bei dem höchstbietenden Bürger verbringen darf, des nachts aber hier in seinem Käfig eingesperrt werden muss. « Dann verließ der hochwohlgeborene das Geschehen wieder und nahm den Engel mit. Sein Stolz, sein Übermut gar, hatte ihn dazu veranlasst, weder Engel noch Menschen zu befragen. Er war ihr König und sie waren Menschen.
» Nun dann, Engel, erzählt! Wie kamet ihr zu uns? «, fragte ihn der König, als er sich auf den Thron setzte und vor ihm der Engel auf dem kalten Boden stand. Sein Körper war unbekleidet gewesen, er war von nichts bedeckt, freilich hatte er auch nichts, wofür er sich schämen musste. » Nun bringt ihm doch etwas zum anziehen! «, befahl er dann und klatschte in die Hände, woraufhin die Diener einige Kleider brachten, die sich der Engel überziehen sollte, doch er lehnte es ab, er sträubte sich gar, sich die Kleider anzuziehen, die ihm diese Welt überreichen wollte. Er war ein Engel und es passte nicht zu ihm; weder die Kleider noch dass er sich etwas anzog. Er musste sich nichts überziehen, nichts verstecken, er hatte eine reine Seele. Er wollte nicht annehmen, was sie ihm gaben, denn so war er freilich nicht erzogen worden.
Als der König auch nach dem großen Mahl, das an Maßlosigkeit nicht zu übertreffen gewesen war, davon zeugten die unzähligen Hühnerkeulen, das Obst, das frische Brot, nichts von seinem Engel hörte, er nach dem ganzen Gold und Schmuck, dass er dem Engel erst voller Achtung geschenkt, aber dann voller Habsucht wieder entzog, wurde er ganz wütend. Und während er zornig auf den Engel einsprach: » Warum sprichst du denn nicht? « eilten die Militärs heran und erzählten dem König von der aktuellen Lage im Krieg, wo sich die Situation doch rasant veränderte. Er selbst hatte für die Belange des Krieges kaum etwas übrig gehabt musste unzählige Militärs einstellen und wieder entlassen, wenn diese nicht seinen Entscheidungen gefolgt waren. Der König liebte lieber vor sich hin, genoß die Früchte des Lebens, packte den Damen am Hof an den Hintern und ignorierte, was seine Entscheidungen für Chaos anrichteten. Den Krieg führte er nur, weil er auf den anderen König und dessen Reichtum fürchterlich neidisch gewesen war. Zwar grenzten sich die Menschen nur durch eine imaginäre Linie in versciedene Staaten ab, aber das war für ihn irrelevant gewesen. Alle, die dem anderen König treu ergeben waren, wurden von ihm als schlechte Menschen tituliert, die er zu bekriegen hatte. Das ganze ging inzwischen zwanzig Jahre so. Allein aus Sturheit führt er den Krieg fort.
Obwohl der König vor dem Erscheinen der Militärs noch so wütend auf denjenigen war, der mit nacktem Körper und Flügeln ganz verwundbar vor ihm stand, war der Engel doch plötzlich für den König ganz irrelevant geworden und kurzerhand winkte das Staatsoberhaupt mit der Hand, schickte den Engel weg, ließ verlauten, sich nicht mehr an ihn zu erinnern und unterhielt sich nur noch mit dem Militär. Er sank in den Thorn zurück, ließ die Bedenken der Strategen auf ihn einprasseln und das Leben war für ihn wieder ganz langweilig geworden. Während der Engel zurück in seinen Käfig ging, so, wie es der König befohlen hatte und die Wörter der Strategen seinen Horizont nicht ganz erreichen konnten, dachte er doch voller Neid daran, auch einmal solche Flügel besitzen zu können. Er überlegte lange, wie er an die Flügel kommen konnte.
So verging eine ganze Woche, an der der Engel von Bürger zu Bürger gereicht wurde, die den höchsten Preis boten, um ihn für einige Stunden ihr eigen zu nennen. Darauf waren sie dann ganz stolz, das waren sie immer, wenn sich ihr Besitz erweiterte und sie etwas neues „ihr eigen" nannten. Der Engel musste dann häufig bei ihnen Arbeit verrichten, putzte ihnen die Schuhe, bestellte das Feld und wenn er es nicht tat, griffen einige zur Peitsche. Bei anderen widerum wurde er in den Himmel gelobt, da war er ein göttlicher, da war er mehr wert als alle anderen. Sie bedienten ihn, reichten ihm das beste Essen, das, was sie sich leisten und entbehren konnten. Ja, für ihn hungerten einige sogar, gaben sich auf, in der Hoffnung, dass sie durch ihn ein besseres Schicksal haben würden.
Am siebten Tage nun wurde der Engel zu einem Bürger geholt, der, während alle anderen noch schliefen, da sie am Vortrag eine Feier veranstalteten, auf dem alle Gesetze vergessen wurden, den höchsten Preis bot. Er zahlte gerade mal einen Schilling und dann nahm er ihn aus seinem Käfig mit. Und obwohl er, sein Name war Adriel, nicht daran glaubte, dass ihn der Engel verstand, erzählte er ihm doch auf dem langen Weg bis zu seinem Haus, es lag etwas abseits von den anderen, wer er sei, wo der Engel sich befand und was ihn alles gerade beschäftigte. » Wir sind eben das, was uns vorgelebt wird, welche Ideale wir als die unseren sehen «, sagte er ihm, als er über den Stolz des Volkes erzählte. Adriel war ein stattlicher junger Mann, dem die Erhabenheit im gesicht geschrieben stand. Er bewirtete einen Hof, den ihm seine Eltern überlassen hatten, nachdem diese im Krieg gestorben waren. Adriel erzählte also eine ganze Weile, führte ihn über den Hof und es kam, und das war das erste Mal, dass der Engel verstand, was er sagte, seinen Mund öffnete und sagte: » Schön «. Ganz überrascht, von der Situation überrumpelt, freute sich Adriel und so verbrachten sie einen ganzen Tag zusammen. » Siehst du hier, meine Hühner? «, fragte ihn Adriel und der Engel nickte. » Ich hatte immer das Pech, dass der Hahn meine Küken frisst und sich die Henne nie um den Nachwuchs gekümmert hat. Mein Herz brach jedes Mal erneut, wenn ich die Unschuldigen hier leblos im Gras fand. Aber hör «, sagte er erstaunt und drehte sich zu seinem neuen Freund, » seitdem du da bist, kümmert sich die Henne um die Küken. Bis jetzt wurde noch kein einziges angegriffen. Ist es nicht erstaunlich? «
» Wie wahr! «, entgegnete ihm der Engel und stand, mit seinen Händen hinter dem Rücken, vor dem Schauplatz.
» Jetzt muss ich nur noch hoffen, dass sich die Küken auch darauf einlassen, von ihrer Mutter beschützt zu werden. Bete für mich «, sprach er dann, » Bete für meine Küken! «, er musste trotz der ernsten Lage doch etwas schmunzeln. » Weißt du «, sagte er dann wieder nach eienr eile des Schweigens und Beobachtens » es ist, als würde ein Betender vor einem brennenden Brunnen sitzen, der von Schlangen umgeben ist, und die Laterne von Gott nicht sehen. Er, sie sind unfähig, die Gelegenheit anzunehmen. Sie verstehen nicht, was sie machen müssen. Sie sind blind für das, was sie retten würde. Sie sind eben nicht wie wir. Und doch bin ich davon überzeugt, dass wir uns darin einen, so zu leben, wie es uns vorgelebt wird. Ich glaube, im Kern sind wir alle gut, gute Menschen und doch, mit jedem Tag, den wir auf Erden sind, verkommen wir, wenn wir uns falsch entscheiden. Wir, die Küken und wir Menschen, wir wissen nicht, was wir tun. Wir wissen nicht, wo wir hinsollen. Wir folgen der Masse und die Masse läuft den falschen Weg. Stirbt ein Küken, sterben alle anderen auch. Zu schmerzhaft wäre die Erfahrung, als einziger zu überleben, dafür ausgeschlossen zu werden, die richtige Entscheidung zu tun. « Er schwieg. » ich glaube, sie haben es verinnerlicht. Kein einziger würde auf die Idee kommen, den falschen Weg zu gehen, unbarmherzig zu sein, ein schlechtes Geschöpf. Aber die Masse, ja, die Menge, sie verleitet sie dazu, von dem, was ihnen doch in die Wiege gelegt worden ist, Abstand zu nehmen. Vielleicht ist es, weil das Ganze mehr ist, als die Summe seiner Teile, dass es viel nachlässiger, viel schlechter als alles andere zusammen ist. Vielleicht ist es der Hahn, der König im Stall, der sie dazu erzieht. Das Wichtigste ist doch, obwohl sie alle eine Einheit bilden, entschließt sich jeder einzelne dazu, mitzumachen. Kein einziges Küken rennt weg, wenn wieder eins vershclungen wird. Sie könnten sich entscheiden, anders zu sein. Aber sie wollen es nicht. Und nun frage ich dich, vielleicht kannst du mir helfen, ich rätsel darüber schon so lange, sag mir, wieso können sie es nicht? Was ist das Gute in der Welt? Worin liegt das Böse? «
Kaum hatte er den Satz gesagt, fuhr der König wieder vor. Nach sieben Tagen war die Welt für den Engel abgeschlossen, er sollte alles gesehen haben. Der König entschied, dass man ihn hinrichten lassen soll, da er doch so sehr die Flügel des Engels begehrte. Er wurde also gefangen und Adriel, der seinen neuen Freund in Ketten sah, war unfähig, etwas zu tun. Sie schleppten den Engel auf den Marktplatz, wo sich die Menge wieder versammelt hatte und mit ihrem Finger auf ihn zeigte. Jeder wollte ein Stück von ihm und so kam es dann auch. Bis auf die Flügel blieb nichts von dem Engel übrig. Die Masse ging, der König nahm sich die Flügel, klebte sie sich auf den Rücken und ging voller stolz davon.
» Ich glaube an das Gute im Menschen «, hatte der Engel gesagt, als er vor Gott stand. » Ich glaube, dass, auch wenn die meisten vielleicht nicht so sind, in den Menschen ein guter Geist wohnt. Ich habe sie noch nicht aufgegeben. Ich werde jemanden finden, der anders ist; der sich als guter Mensch erweist. Daran glaube ich ganz fest. «
» Na wenn das so ist «, entgegnete Gott, « will ich dich in deinem Bestreben nicht aufhalten. Ich wünsche dir viel Glück. Das ist wohl das, was sich so besonders macht. « Dann stieß er ihn aus dem Himmel und der Engel fiel zu Boden. Dann wurde er zu einem Gefallenen und am Ende blieb auf der Erde nichts von ihm übrig.
Als der Marktplatz geräumt war, erreichte ihn Adriel. Er war ganz alleine und kniete sich auf die blutverschmierte Stelle, wo der Engel gelegen haben musste. In Gedenken an seinen Freund, weinte er bittere Tränen und doch kam er nicht umhin, darüber nachzudenken, was das alles zu bedeuten hatte. » Was aber soll nun ein Engel sein? «, fragte er sich. », wenn er doch hier vor meinen Füßen sterben kann? Was wird ihm jetzt wohl geschehen? Ob es sich gelohnt haben wird? Sind wir Menschen nicht alle dazu befähigt, engelsgleich zu sein? Sind wir dazu verflucht, uns selbst zu hassen, uns zu schaden? Was hält uns davon ab, als Engel den anderen zu begegnen? Keine Trompete erklang, kein Heiligenschein umgab seinen Kopf und doch war er ein Engel. Ich kann's mir nicht erklären. Was wäre wohl geschehen, wie lange hättest du gelebt, wenn du keine Flügel gehabt hättest? «
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