🦋Kapitel 23🦋
**〜🦋〜**
Kraftlos gehe ich zu meinem Kühlschrank und öffne ihn, um die Rotweinflasche, die darin steht, heraus zu holen. Eigentlich hasse ich Rotwein, weil mir davon immer mein Kopf wehtut und ich mich in der Regel übergeben muss. Aber er ist für den heutigen Tag genau das Richtige, denn heute ist der Tag, vor dem ich mich in der letzten Zeit so gefürchtet habe. Heute ist der sechste April. Und heute vor zwei Jahren hat sich mein bisheriges Leben von der einen auf die andere Sekunde grundlegend verändert. Als ich den Kühlschrank schließe und auf die Uhr, die über ihm hängt, blicke, zeigen die Zeiger beide genau auf elf Uhr. Die meisten würden mich für verrückt erklären, wenn sie wüssten, dass ich zu dieser frühen Uhrzeit schon Alkohol trinke, aber die anderen sind mir gerade herzlich egal. Somit schnappe ich mir die Flasche, auf ein Glas verzichte ich, drehe mich um und gehe zurück zu meinem Sofa. Vor ihm lasse ich mich wieder zwischen all den Bildern und vollgeweinten Taschentüchern nieder, die davor ausgebreitet liegen und zwischen denen ich schon saß, bevor ich beschlossen habe, dass ich nun Alkohol brauche. Als ich wiederholt auf eines der Bilder, das zu meiner Linken liegt, blicke, schießen mir erneut augenblicklich die Tränen in die Augen und laufen meine Wangen hinunter. Ich öffne schnell den Drehverschluss der Weinflasche, um meinen Schmerz etwas zu lindern. Gerade als ich sie an meinem Mund ansetze, um daraus einen Schluck zu nehmen, klingelt es auf einmal. Da ich niemanden erwarte und das wahrscheinlich eh nur der Paketbote ist, der etwas für einen der anderen Bewohner im Haus hat, ignoriere ich das Klingeln und nehme schließlich einen Schluck des Rotweins. Sofort spüre ich die Wirkung des Alkohols in meinem Körper und mir wird warm. Ja, ich denke, er wird mich zumindest für eine Weile so weit betäuben, dass ich nicht ständig weine. Jedoch gibt der, der unten vor der Haustür steht, nicht so schnell auf, wie ich gehofft habe, denn es klingelt schon wieder. Ich versuche es allerdings auch dieses Mal zu ignorieren und nehme noch einen Schluck aus meiner Weinflasche. Plötzlich piept allerdings mein Handy, das auf meinem Wohnzimmertisch liegt, den ich weggeschoben habe, damit ich etwas mehr Platz habe. Seufzend beuge ich mich, während ich nochmal einen Schluck Wein trinke, vor und fische es vom Tisch. Als ich es entsperre, sehe ich schon, dass ich eine Nachricht von Matt bekommen habe, und öffne sie. Während ich sie lese, verschlucke ich mich jedoch an dem Schluck Rotwein, den ich gerade trinke, und fange prompt an zu husten.
*Hi Leya, ich hoffe, du hast es dir nicht doch anders überlegt. Aber ich wollte dir, wie vor ein paar Tagen ausgemacht, Nuala vorbeibringen. Bitte melde dich doch, wo du bist. Ich stehe vor deiner Haustür. Matt*
Oh Shit, das habe ich ja total vergessen. Vor allem habe ich nicht nachgedacht, als ich das mit ihm für heute ausgemacht habe. Verdammt. Hier sieht es aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte, und vor allem sehe ich aus wie ein Troll. Dabei blicke ich an mir herunter. Ich habe noch immer meinen Schlafanzug an und hatte eigentlich auch nicht vor, ihn heute auszuziehen. Ich denke darüber nach, wie ich es verhindere, dass er in meine Wohnung kommt und das alles hier sieht. Noch während ich überlege, schreibe ich ihm zurück.
*Hi Matt, sorry, ich war gerade beschäftigt. Natürlich habe ich es mir nicht anders überlegt. Warte, ich lasse dich rein.*
Ich stehe auf und drücke den Öffner für die Haustür. Danach mache ich meine Wohnungstür einen Spalt weit auf und stelle mich so in den Spalt, dass er hoffentlich nur mich sieht und nicht so viel von meiner Wohnung.
Nach circa einer Minute stürmt plötzlich Nuala Schwanz wedelnd auf mich zu und setzt sich vor mich hin.
»Hi, meine Süße«, begrüße ich sie. Als ich nach rechts schaue, sehe ich auch schon Matt auf mich zukommen. Er trägt wieder Biker Boots, eine dunkelblaue Jeans und seine Lederjacke. Auf seiner rechten Schulter trägt er die Tasche, mit Nualas Sachen. Seine Haare hat er etwas nach hinten gekämmt, allerdings hängen ihm ein paar Haarsträhnen in die Stirn. Auf seinem Mund, um den ein leichter Bartschatten liegt, zeichnet sich ein Lächeln ab, als er auf mich zutritt. Das weicht allerdings schlagartig aus seinem Gesicht, als er mich mustert. Er bleibt stehen und starrt mich mit einer plötzlichen Sorge im Gesicht an, sodass es mir ganz anders wird.
»Gott, Leya, was ist passiert? Du bist ganz blass, zudem hast du ganz geschwollene und rote Augen. Deine Haare sind nicht gekämmt und außerdem, nun ja, du trägst noch deinen Schlafanzug«, sagt er besorgt zu mir und mustert mich nochmal.
Shit, dass meine Augen durch das ganze Geweine möglicherweise geschwollen und rot sein könnten, daran habe ich gar nicht gedacht. Und dass er mich nun drauf anspricht, das ist irgendwie zu viel für mich und deshalb bildet sich ein dicker Kloß in meinem Hals und es schießen mir wieder Tränen in die Augen. Schnell wende ich meinen Blick auf den Boden. »Es ist nichts, Matt«, flüstere ich und versuche meine Tränen, die nach außen wollen, zurückzuhalten.
Er kommt jedoch auf mich zu, legt seinen rechten Zeigefinger unter mein Kinn, hebt es sanft an und zwingt mich damit, ihm in seine wunderschönen blau-grünen Augen zu blicken. Als sich unsere Blicke begegnen, kann ich allerdings nicht mehr an mich halten und beginne zu wimmern. »Es ist wirklich nichts«, wispere ich zwischen zwei Schluchzern und wische mir verstohlen die Tränen von meinen Wangen, die sich ihren Weg aus meinen Augen gebahnt haben.
»Das glaube ich dir nicht, Leya«, antwortet er und sieht dabei hinter mich und direkt in meine Wohnung. »Wenn alles in Ordnung wäre, würdest du nicht so fertig aussehen und nicht schon zu dieser Uhrzeit Wein trinken«, redet er weiter und deutet hinter mich zu der Weinflasche, die ich auf meinem Tisch abgestellt habe. »Erzählst du mir, was los ist? Ohne eine Antwort werde ich übrigens nicht verschwinden. Und da lasse ich "Es ist nichts" nicht gelten. Also?«
Wahrscheinlich hat er recht und ich sollte ihm endlich sagen, was mit mir los und was mir widerfahren ist. Tief durchatmend trete ich etwas zurück und öffne meine Tür so weit, dass er eintreten kann. Ich gehe direkt zu meinem Sofa und setze mich wieder davor. Er stellt seine Tasche ab, holt daraus den Wassernapf für Nuala, befüllt ihn in meiner Küche mit Wasser und stellt ihn auf den Boden. Im Anschluss zieht er sich noch seine Schuhe und Jacke aus, ehe er langsam zu mir kommt und sich mit etwas Abstand neben mich auf den Boden setzt. Er lässt seinen Blick über die vollgeweinten Taschentücher und über die vor mir ausgebreiteten Fotos schweifen. Auf einmal hebt er ein Bild vom Boden auf und betrachtet es, ehe er mich wortlos anschaut. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens findet er aber doch seine Worte wieder.
»Leya, du hättest mir sagen müssen, dass du verheiratet bist. Sonst... Dann hätte ich dich nicht, dann hätte ich dich nicht geküsst«, sagt er leicht stotternd. »Und das da, das ist Ben, der da neben deinem Mann steht, oder? Sie sehen sich ähnlich. Nur dass der Mann auf dem Bild blonde Haare hat«, deutet er nun auf das Bild, auf dem ich ein Hochzeitskleid trage und das er noch immer in seiner Hand hält.
Ich hole tief Luft, ehe ich antworte. »Ja, das ist Ben neben meinem Mann, und ich bin, also ich war verheiratet.« Er zieht seine rechte Augenbraue hoch. »Ich bin Witwe«, rede ich leise weiter, da es mir nicht leichtfällt, diese Worte auszusprechen.
»Witwe?«, fragt er mich entsetzt und mit einem traurigen Gesicht.
Ich nicke. »Ja, Matt, Witwe. Auch wenn es mir sehr schwerfällt, darüber zu reden, aber ich denke, du solltest endlich erfahren, warum ich zum Teil so seltsam bin. Und warum ich den Kontakt zu dir abgebrochen habe und ich denke, dass es besser so ist.« Als er seinen Mund öffnet, um darauf etwas zu erwidern, sage ich schnell: »Sage besser noch nichts, bevor du es nicht weißt. Bitte lasse mich ausreden und erst alles erzählen. Das ist nun alles andere als einfach für mich und wenn du mich unterbrichst, befürchte ich, dass ich dann nicht weiterrede.«
Er nickt und lehnt sich mit seinem Rücken an mein Sofa. Nuala kommt und legt sich direkt neben ihn. Ich lehne mich ebenfalls daran zurück, ziehe meine Beine an meinen Körper, stelle sie auf und schlinge meine Arme um sie.
Ich atme noch einmal tief durch, ehe ich zu erzählen beginne. »Alles begann circa ein Jahr nach unserem gemeinsamen Feriencamp. Damals zog eine neue Familie neben uns ein. Darunter waren die Brüder Ben und...« Ich stocke und schlucke, weil ich schon seit langer Zeit seinen Namen nicht mehr ausgesprochen habe. »... und Sean. Mit den beiden habe ich mich sofort verstanden. Ben und mich verband relativ schnell eine enge Freundschaft, während sich zwischen Sean und mir langsam mehr entwickelte. Und so kam es, dass er und ich zu einem Paar wurden. Ich war damals sechzehn und er war neunzehn. So vergingen die Jahre, ich machte meinen Abschluss mit neunzehn und begann meine Ausbildung zur Fotografin in Dublin. Sean zog direkt mit mir dorthin, damit wir zusammen sein konnten. Und weil er voll und ganz hinter meinem Traum, Fotografin zu werden, stand. Als ich zwanzig wurde, hielt Sean eines Tages im Juni um meine Hand an und so heirateten wir schon kurz darauf. Im August, um es genauer zu sagen. Ja, wir waren beide noch sehr jung, aber wir waren uns unserer Sache so sicher. Leider musste ich dann meine Ausbildung im Jahr darauf unterbrechen, da Sean sehr krank wurde. Er hatte Probleme mit seinem Herzen und ich stand ihm bei, so gut es ging. Nachdem Sean nach über einem Jahr wieder so weit genesen war, entschlossen wir uns am sechsten April, also heute vor zwei Jahren, unsere Eltern in Loughgall zu besuchen. Da Sean wusste, dass ich Schmetterlinge, besonders den Common blue liebe, aber leider noch nie einen gesehen habe, wollte er mir diesen Wunsch endlich erfüllen. Deshalb fuhr er einen etwas anderen Weg nach Loughgall, da er von einer großen Wiese wusste, auf dem lauter Schmetterlinge zu Hause sind. Somit hielten wir an besagter Wiese an, stiegen aus und...« Ich muss stocken, weil mir schlagartig wieder die ganzen schrecklichen Bilder, die sich dann ereignet haben, vor meinen inneren Augen abspielen. Ich bekomme eine Gänsehaut am ganzen Körper und bemerke, wie mir Tränen über meine Wangen laufen. Die Augen für einen Moment schließend, atme ich hörbar kurz ein und aus.
»Leya«, flüstert plötzlich Matt. Ich öffne meine Lider und sehe, dass er mich anschaut und zaghaft zu mir aufrückt. Er hat die ganze Zeit, seit ich zu erzählen begonnen habe, kein Wort mehr gesagt. »Darf ich, also darf ich dich vielleicht in den Arm nehmen?«, fragt er mich vorsichtig. Mehr als ein Nicken bringe ich gerade nicht zustande und beginne wieder leise zu schluchzen. Auch wenn ich eigentlich keinen Körperkontakt möchte, lasse ich es zu, dass Matt seinen Arm um mich legt. Ich drehe mich ihm zu und lege meinen Kopf auf seine Brust. Er beginnt währenddessen sanft mit seiner Hand meinen Rücken zu streicheln und legt auch seinen zweiten Arm um mich. Obwohl es nicht leicht ist, über mein Schicksal zu reden, muss ich zugeben, dass mir Matts Nähe unheimlich guttut, dass es mir guttut, mich ihm endlich anzuvertrauen.
»Geht's wieder etwas?«, wispert er nach einer Weile. Ich hebe meinen Kopf von seiner Brust und wir schauen uns nun direkt in die Augen.
»Ja, es geht wieder«, erwidere ich leise und richte mich wieder auf. Meinen Blick von ihm abwendend, räuspere ich mich, ehe ich weiter erzähle.
»Nun, wir stiegen aus und auf einmal ging alles ganz schnell. Ich sah, wie mein Mann durch die Luft geflogen ist, ehe auch ich durch die Luft geflogen bin und vor meinen Augen alles schwarz wurde. Anderthalb Wochen später bin ich dann im Krankenhaus nach einem künstlichen Koma aufgewacht. Ich erfuhr, dass uns ein Auto erfasst hatte, das von der Fahrbahn abgekommen war, weil der Fahrer einen Schwächeanfall hatte. Durch den Unfall erlitt ich eine Beckenringfraktur, eine Lungenquetschung auf der rechten Seite, ein stumpfes Bauchtrauma und mir musste meine Milz entfernt werden. Außerdem hatte ich vier gebrochene Rippen, viele blaue Flecken und Schürfwunden. Natürlich fragte ich auch direkt nach Sean. Als man mir...« Ich schließe nochmal meine Augen und schlucke den Kloß herunter, der sich in meinem Hals gebildet hat, ehe ich weiterspreche. »... als man mir dann sagte, dass er es leider nicht geschafft hat, habe ich laut losgeschrien und um mich geschlagen. Mein Zustand hatte sich aufgrund der schlechten Nachricht augenblicklich verschlechtert und deshalb wurde ich nochmal für anderthalb Wochen sediert. Damit ich besser genesen und zur Ruhe kommen konnte. Nachdem ich dann schließlich wieder aufgewacht bin, waren meine Verletzungen zum Glück schon nicht mehr ganz so schlimm. Der Schmerz, dass Sean tot ist, holte mich allerdings wieder mit voller Wucht ein. Vor allem, da ich auch nicht bei seiner Beerdigung anwesend sein konnte, die schon stattgefunden hatte. Somit konnte ich mich auch nicht von ihm verabschieden. Ich bekam dann ziemlich schnell vor Ort Physiotherapie, aufgrund meines Beckens und meiner Lunge. Da machte ich, was die körperliche Genesung anging, auch ziemlich schnell Fortschritte. Allerdings ging es mir psychisch sehr, sehr schlecht. Als ich dann nach vier Wochen in eine Reha-Klinik verlegt wurde, stand nicht nur meine weitere körperliche Genesung auf dem Plan, sondern auch meine seelische. Diese ganze Sache hat insgesamt fast ein Jahr gedauert. Leider geht es mir seelisch noch immer nicht so gut und deshalb, ja deshalb wollte ich dich da nicht mit reinziehen.«
Er löst seine Arme von mir und schaut mich nun direkt an. »Mich nicht mit reinziehen? Wie meinst du das?« Dabei nimmt er nun meine Weinflasche vom Tisch und nimmt ebenfalls einen großen Schluck daraus, um wahrscheinlich das eben Gehörte besser verdauen zu können.
**〜🦋〜**
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top