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Gute zehn Minuten später hatten wir dann alle drei aufgegessen. Ich wollte aufstehen, um das Geschirr abzuräumen, doch Selina kam mir zuvor. "Ich mach das schon" Sie stapelte unsere Teller und sammelte das Besteck auf dem Obersten. Den kleinen Turm nahm sie dann mit in die Küche, wo sie sogar alles in die Spülmaschine einräumte. Beeindruckt schaute ich ihr dabei zu. "Wow, das machst du ja super, bist schon ein großes Mädchen", lobte Kevin unsere Tochter. Ich schenkte den beiden ein Lächeln.

Obwohl das gerade mal der erste Tag eines neuen Lebens war, harmonierte es dennoch unter uns. Es gab nicht wirklich etwas Peinliches. Selina wusste, wir mussten uns an die neuen Umstände gewöhnen, genauso andersrum. Wir hatten alle Verständnis miteinander, sowas machte mich einfach extrem glücklich.

Da Selina am nächsten Tag normal in den Kindergarten muss, legten wir sie schon um halb 8 schlafen. Das ist eine angenessene Zeit für eine dreijährige. Gerade wollten wir aus ihrem Zimmer gehen, da hielt sie uns auf. "Könnte ich eine Gute-Nacht-Geschichte bekommen?" Wir stockten beide in unserer Handlung das Zimmer zu verlassen und schauten sie für einen kurzen Moment an. Die Bettdecke bis zur Nase hochgezogen, nur die kleinen Fingerchen schauen raus. Ihre Augen blickten etwas ängstlich zu uns. Sie hatte wohl etwas Bedenken, doch das war unberechtigt. "Na klar, egal welche?", fragte ich sie. Ein Nicken. Kurzerhand befand ich mich im Schneidersitz vor ihrem Bett, mit Blick zu ihr. Kevin stand neben mir. Einen Augenblick überlegte ich, dann fing ich an.

"Es war ein stürmischer Tag, als Koralla aus dem kleinen Bullauge ihrer Kajüte schaute. Draußen jagten die Wolken über den Himmel, und die Wellen schlugen hoch gegen das Schiff. Koralla lächelte. Sie liebte es, wenn der Wind das Schiff hin und her schaukeln ließ. Rasch zog sie den Piratenrock über ihren geringelten Schlafanzug und setzte sich das rosa Piratenkäppi auf. Dann kletterte sie über die Holzleiter an Deck" Kevin versuchte Sturmgeräusche nachzuahmen, was so semi-gut gelang.

""Hallo Kapitänchen!", rief Koralla und schlang ihrem Papa die Arme um den dicken Piratenbauch. Käpt’n Piet lachte. "Na, Kleene? Willst du wieder deine Nase in den Wind halten?" Er drehte sich zu Koralla um. Sofort hörte er auf zu lächeln. Stirnrunzelnd zeigte er auf ihr rosa Käppi. "Setz doch um Neptuns willen dieses rosa Ding ab. Rosa ist keine Piratenfarbe!" Koralla lachte und zog ihr Käppi noch fester auf den Kopf. "Ach Papa, Piratinnen tragen so was halt! Ich weiß gar nicht, was du hast. Warum sollen Piraten denn kein Rosa mögen?" Auf Käpt’n Piets Stirn bildete sich eine dicke Ärgerfalte. "Weil Rosa was für Angsthasen ist. Und für kleine, winzige Sachen. Und überhaupt – weil ich das sage. Ich bin ein gefürchteter Pirat, und siehst du irgendwo Rosa an mir? Nein!" Koralla kicherte und warf ihm ein Kusshändchen zu. "Rosa Küsschen für dich!"

Dann stellte sie sich an den Bug des Schiffes und hob den Kopf. Der Wind sauste um sie herum und wirbelte ihr die langen Haare um die Ohren. Wassertropfen spritzen ihr ins Gesicht. Koralla fing laut an zu singen: "Piratinnen sind die mutigsten Mädchen, Piratinnen sind einmalig schlau, Piratinnen gibt’s in jedem Städtchen …" Schwupp - in diesem Moment riss der Sturm ihr das rosa Käppi vom Kopf. "He, Wind, gib das sofort zurück", brüllte Koralla. "Aber auf der Stelle, sonst setzt es was!" Doch der Sturm heulte nur noch lauter und peitschte die Wellen so kräftig gegen das Piratenschiff, dass es beinahe umkippte.

"Glaubst du, ich habe Angst vor so einem kleinen Windchen?", schrie Koralla. "Nein, ich nicht. Warte nur!" Sie kletterte auf die Reling, nahm Schwung und - wurde von ihrem Papa am Kragen auf das Schiff zurückgezogen. "Koralla, beim Klabautermann, was soll denn der Unsinn?", schimpfte Käpt’n Piet. "Wenn du ins Meer springst, können wir dich bei diesem Sturm niemals wieder herausfischen!"

Korallas Augen funkelten. "Tut mir leid, Kapitänchen. Aber dieser blöde Wind …" Sie zappelte an Käpt’n Piets hoch erhobenem Arm und boxte kräftig in die Luft. Käpt’n Piet schüttelte lächelnd den Kopf. "Ist doch gut, wenn das rosa Ding weg ist", meinte er. "Ich sagte doch schon, dass Piraten und Piratinnen keine rosa Sachen haben sollten, weil …" Plötzlich wurde er blass und ließ den Arm sinken. "Seht nur, da, dada …" Koralla befreite sich aus Käpt’n Piets Griff und stellte sich wieder an die Reling, um besser sehen zu können.
Vor dem Schiff erhob sich etwas aus dem Meer. Etwas Großes. Etwas sehr Großes. Es war lila und hatte überall rosa Tupfen. Zuerst sah es aus wie eine Insel, dann kamen an den Seiten Arme aus dem Wasser. "Ein Ungeheuer!", flüsterte Käpt’n Piet. Koralla zählte: "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben … sieben Arme. Das ist bestimmt ein Krake! Auch wenn noch ein Arm fehlt …" Koralla freute sich. Noch nie hatte sie einen Riesenkraken gesehen. Und erst recht keinen lila-rosanen." Kevin stapfte wie ein Ungeheuer durch den Raum, mit den Armen wedelte er etwas in der Luft, wodurch Selina wieder das Lachen anfing. Es war ja süß, aber es bewirkte, nach meiner Annahme, genau das Gegenteil davon, was eine gute nacht Geschichte bewirken soll. Kurz räusperte ich mich, dann fuhr ich fort.

"Käpt’n Piet duckte sich hinter der Reling. "Der will uns bestimmt zum Frühstück knuspern.", sagte er mit zitternder Stimme. "Ach Quatsch", grinste Koralla. "Außerdem hast du gesagt, dass Rosa was für winzige, kleine Sachen ist. Vor so einem winzigen Kraken wirst du doch keine Angst haben?" Koralla winkte dem Kraken fröhlich. Und siehe da - der Krake winkte zurück! Mit eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Armen.

Kapitän Piet plumpste auf seinen gefürchteten Piratenpo. "Hilfe!", fiepte er leise. "Schau mal, er hat doch acht Arme", rief Koralla. Und dann jubelte sie: An der Spitze des achten Armes steckte ein kleines rosa Ding! "Mein Käppi! Er hat mein Käppi gefunden!" Der Krake setzte sich das Käppi auf den großen Kopf - genau auf einen rosa Tupfen. Koralla grinste. "Das steht dir gut!", schrie sie über die Wellen hinweg. Der Krake wackelte mit dem Kopf, dann nahm er das Käppi wieder ab und senkte seinen riesigen Arm langsam, gaaanz langsam zum Schiff hinab. Sachte ließ er das Käppi auf Korallas Kopf fallen. "Danke, lieber Krake!" sagte Koralla. Sie zog das Käppi fest über die Haare und warf Handküsschen in die Luft: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht. Für jeden Arm eines" Kevin schmiss acht Luftküsse richtung Selina.

"Der Krake tauchte ab. Dabei entstand eine enorme Welle, die das ganze Schiff unter Wasser setzte. Dann war es still. Kein Wind, keine Wellen, kein Krake. "Wa-wa-was war das?", stotterte Käpt’n Piet. Koralla lachte. "Ach, nur ein kleines, rosa Kraken-Abenteuer. Und jetzt hab ich Hunger." Fröhlich lief sie am Kapitän vorbei, gab ihm ein kurzes Küsschen auf den dicken Bauch und hüpfte weiter in Richtung Kombüse. Dabei pfiff sie ein kleines Lied. Welches das war, möchtest du wissen? Natürlich das von den mutigen Piratenmädchen: "Piratinnen sind die mutigsten Mädchen, Piratinnen sind einmalig schlau, Piratinnen gibt’s in jedem Städtchen, schaut doch nur mal ganz genau!""

Ein kurzer Blick genügte um zu wissen, dass Selina nun eingeschlafen war. Sie sah so friedlich aus. Leise verließen wir ihr Zimmer und schlossen hinter uns die Türe.  Gleich danach schmissen wir uns ebenfalls ins Bett und schliefen relativ schnell ein.

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