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„Und du bist dir sicher, dass es keine plausible Erklärung für sein ‚Verschwinden' gibt? Wenn ich recht verstanden habe, wurde der dunkle Hort nicht angegriffen."
Elric Ise runzelte nachdenklich die Stirn, währenddessen er sich entspannt zurücklehnte und Enno Alarich dabei beobachtete, wie dieser mit hinter dem Rücken verschränkten Händen durch sein bodentiefes Bürofenster nach draußen starrte.

„Ich kenne Tyron Moore schon eine kleine Ewigkeit, Elric." Langsam wandte sich der Leiter des dunklen Horts ab und sah mit ernster Miene zu seinem langjährigen Freund. Welchen er vor weniger als einer Stunde sofort zu sich gebeten hatte. Gleich nachdem ihn selbst diese Nachricht erreichte. „Es ist nicht seine Art, einfach von der Bildfläche zu verschwinden. Der dunkle Hort ist sein Zuhause, so wie dieser hier meiner ist. Kein Leiter würde ihn und seine Bewohner ungeschützt zurücklassen. Das kann ich mir schlichtweg nicht vorstellen!" Der GEN3 seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch seine kastanienbraunen Haare.
„Wahrscheinlich würde ich nicht so reagieren, wenn es nicht schon der zweite GEN1 wäre, den seine Leute nicht erreichen können." Elrics Augenbrauen verengten sich erneut bei Alarichs Worten. „Wovon sprichst du!?"

„Nevis Dahl -. Das Oberhaupt eines kleinen Clans aus Fairbanks ist ebenfalls verschwunden. Du kennst ihn möglicherweise."

Nun war es Elric, der seinen Blick einen Moment lang auf das Fenster richtete und über die Informationen nachdachte, bevor er nach einer Weile recht leise antwortete. „Zwei GEN1 zur gleichen Zeit, das ist in der Tat ungewöhnlich. Und in beiden Fällen fand kein Kampf statt? Lediglich die GEN1 sind unauffindbar, sagst du. Was denkst du, ist passiert?" Der Blick des über zwei Meter großen schwarzhaarigen GEN2 schweifte zurück zu Enno Alarich, dessen Gesichtsausdruck sich kein einziges Mal erhellt hatte.
„Das ist richtig, ja! Ranghohe Dämonen -. Es gibt schließlich einige, die einen Hass vor allem auf die erste Generation haben. Und du weißt genauso gut wie ich, dass es nicht viele Wesen gibt, die es mit einem GEN1 aufnehmen können. Allerdings bin ich mir sicher, wenn Dämonen dafür verantwortlich sind, nicht nur unsere Ältesten verschwunden wären. Außer natürlich, es war von langer Hand geplant und sie wurden überrascht. Jäger womöglich -. Ich bin der Meinung, es wäre zumindest sinnvoll, die anderen zu warnen. Mehr werden wir derzeit nicht unternehmen können. Weißt du schon, ob die Madarame-Brüder mit ihrem Vater morgen kommen?
Apropos -." Ennos Mundwinkel gingen nach oben. „Na, was denkst du, was sich dein Bruder dieses Jahr ausgedacht hat? Hast du schon eine Vermutung? Oder - ihr habt doch vereinbart, euch nur alle fünf Jahre etwas zu schenken. Dann müsste es dieses ja wieder so weit sein."

Elric Ise nickte kaum merklich und legte mit einer flüssigen Bewegung seine Beine übereinander. „Ich hoffe ernsthaft auf einen dummen Zufall. Schaden kann es jedoch nicht, sie über diese Vorfälle in Kenntnis zu setzen.
Was den Madarame-Clan betrifft, ... sie werden im Laufe des morgigen Abends eintreffen, soweit ich weiß. Kitai hat überdies gute Verbindungen zu einigen der GEN1. Wir sollten es ihm und Ravyn nach dem ganzen Trubel berichten."
Das zweite Oberhaupt des Gerlari-Syndikats versank einen Moment lang in seinen Gedanken, dann schlich sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen und seine Augen trafen erneut auf die seines Freundes. „Ich habe keine Ahnung, was es sein könnte. Vor fünf Jahren war es ein gemütlich eingerichtetes Haus zwischen Bäumen mit ungehindertem Blick auf einen abgelegenen See, mitten in der Pampa. In die Richtung wird er also nichts gekauft haben. Und davor war es eine Yacht. Ich bin selbst gespannt, was er sich dieses Mal hat einfallen lassen."

***

Also - ich meine - es ist schon recht spät ... und wir sind immer noch hier auf dem Zimmer, obwohl es unüberhörbar ist, dass ständig neue Leute kommen und gehen. Vielleicht hat es sich Ravyn ja anders überlegt!

Elian presste seine Lippen fest zusammen, kletterte unter die Bettdecke und zog sie sich bis über die Nasenspitze. Er hatte die letzte Nacht schon nicht sonderlich gut geschlafen. Doch mittlerweile war er ein nervliches Wrack. Seine anfängliche Gelassenheit hatte sich in ein wild pochendes Herz verwandelt, zudem war ihm durchgehend kalt. Was Nelios Gedanken nicht besser machten.

Ich bin mir nicht sicher, Nelio, ob das jetzt gut oder schlecht für uns wäre!

Elian schluckte, schloss seine Augen und versuchte, sich zu beruhigen, indem er tief durchatmete. Was ihm jedoch immer schlechter gelang, je mehr Zeit verging.

Es dauert gewiss nicht mehr lange, bis irgendetwas passiert!

Womit Eli den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, denn keine Minute später klopfte es an der Tür. Was den jungen Omega erschrocken zusammenfahren ließ. Langsam drehte er sich in Richtung Tür, spitzelte über den Rand der fluffigen warmen Decke und beobachtete Luc dabei, wie dieser sanft lächelnd auf ihn zukam.

Ich habe da so ein Déjà-vu!

Elian brummte zustimmend auf Nelios Aussage hin, und ließ seine Augen noch einen Moment lang über die stattliche Erscheinung des Vampirs wandern. Bis sie an der Box in dessen Hand hängen blieben.

„Was machst du denn im Bett, Wölfchen?" Der GEN3 gluckste belustigt. Schnappte sich die untere linke Ecke der Bettdecke und zog diese leise lachend mit einem Ruck ein Stück Richtung Fußende. Was Elian dazu veranlasste, unmännlich quietschend hinterherzuhechten und sie wieder nach oben zu ziehen. „Ich dachte schon, ihr habt euch doch umentschieden. Außerdem ist mir kalt!"

„Soso -." Lucs' Augenbraue wanderte Richtung Haaransatz.

„- typisch Omega." Elian und der Blick des Vampirs richteten sich auf die offene Tür, durch welche in diesem Augenblick Ravyn das Zimmer betrat und mit selbstbewussten Schritten durchquerte, bis er kurz darauf neben seinem Sekretär stehen blieb.
„Ich hatte nicht vor, jeden Gast gleich von dir wissen zu lassen. Mittlerweile sind allerdings nur noch wenige anwesend, weshalb nun ein guter Zeitpunkt ist, dich zu meinem Bruder zu bringen.
Unter den Klamotten, welche Luc dir gebracht hat, waren eine schwarze Jeans und ein weißes Hemd. Ich möchte, dass du die zwei Sachen und schwarze Schuhe dazu anziehst."

Elian biss sich auf die Innenseite seiner Unterlippe. Raffte all seinen Mut zusammen und kletterte aus dem Bett, nur um daraufhin mit weichen Knien zum Schrank und hinterher mit den angeordneten Klamotten im Arm ins Bad zu laufen. Welches er nach etwas mehr als fünf Minuten fertig angezogen und mit zitternden Händen wieder verließ. Jetzt war es also soweit! Natürlich hatte er geguckt, ob es nicht doch eine Möglichkeit gab, ungesehen von hier zu verschwinden. Doch da wurde er enttäuscht. Eine Flucht war unmöglich. So blieb ihm nichts anderes übrig, als auf das Beste zu hoffen.

Während Elian auf die beiden Vampire zulief und versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Ließ sich Ravyn von seinem Sekretär die quadratische schwarze Box reichen, welche er gleich darauf öffnete und den Inhalt herausnahm.
Die Augen des Lugaru weiteten sich geschockt, als sein Blick an dem schwarzen Halsband hängen blieb. Augenblicklich stoppten seine Schritte und seine Augen, in denen die Angst deutlich zu erkennen war, schossen zu Ravyns Gesicht.

„Komm zu mir, Elian. Du wirst sehen, es wird dir keine Schmerzen zufügen." Nur widerwillig und mit einem hartnäckigen Kloß in seinem Hals, setzte Eli zögerlich einen Fuß vor den anderen und überbrückte die letzten zwei Meter. Den Blick dabei unablässig auf das schwarze Leder in Ravyn Ises Hand gerichtet.

Es hat keinen Ring.

Was meinst du, Nelio?

Elian runzelte die Stirn und unterdrückte mit Müh und Not ein recht offensichtliches Schaudern.
Das Halsband hat keinen Ring, an dem sie eine Leine befestigen könnten. Außerdem sieht es schon irgendwie teuer aus - findest du nicht auch?

Der zierliche Omega brummte in Gedanken. Stehst du jetzt auf Halsbänder, oder was?!, musste jedoch zugeben, dass sein Wolf leider recht hatte. Das schwarze Lederhalsband, mit seinem weißen Innenpolster und den weißen Nähten, sah in der Tat edel aus. Und dass der Ring fehlte, ließ es gleich weniger angsteinflößend wirken. So konnte man ihn zumindest nicht an die Leine legen wie einen Hund.

Es gefällt mir auf jeden Fall besser, wie eine rote Schleife mit einem Glöckchen dran. Mit dem habe ich zwar eher gerechnet -.

Nun, auch das ließ sich nicht abstreiten. Elian seufzte ergeben. Blieb vor dem blonden Vampir stehen und sah zu diesem auf. Konnte es sich allerdings nicht ganz verkneifen, sein Gesicht zu einer unwilligen Grimasse zu verziehen. Was der GEN2 mit einem Schmunzeln kommentierte und ihm ohne ein weiteres Wort einfach das Leder um den Hals legte und verschloss. Offensichtlich war ihm sein Disput mit Nelio deutlich anzusehen gewesen - und auch was dabei herauskam. Doch dagegen wehren hätte er sich so oder so nicht können. Davon abgesehen, dass er das Bedürfnis hatte zu gehorchen. Dämlicher, unterwürfiger Omega-Rang.

*

Elian kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, als die Stimmen vor ihnen immer lauter wurden.
Sie befanden sich mittlerweile in einem Teil des Gebäudes, welchen er nicht kannte. Wahrscheinlich der öffentlich zugängliche des Anwesens. Zumindest begegneten ihnen hier deutlich mehr Personen, auch wenn fast alle auf ihn den Eindruck machten, als würden sie zu Ravyn gehören. Aber dieser hatte ja gesagt, dass die meisten Gäste das Anwesen längst wieder verlassen hatten.

Nach einigen weiteren Metern, die er an der Seite der beiden Vampire schweigend zurückgelegt hatte, betraten sie einen, im Verhältnis zu anderen Zimmern des Hauses, recht kleinen quadratischen Raum mit hoher Decke. Eine Art gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer, nur ohne Fernseher, mit Blick auf den Innenhof durch deckenhohe rechteckige Fenster.
Auf allen vier Seiten standen zudem lange Sofas mit einer Vielzahl an Kissen, auf einem farblich passenden Teppich. Gegen die eine Handvoll Personen gelehnt dasaßen und nun überrascht in ihre Richtung blickten.

Elians Atem stockte und seine Augen weiteten sich ein wenig erschrocken, als sein Blick auf einen schwarzhaarigen Mann traf, welcher mit hochgezogener Augenbraue und schmunzelnd zwischen Ravyn und ihm hin und her sah und ein fragend klingendes, „Bruder?", von sich gab. Das war also Elric Ise.
Elian schauderte bei der Macht, die von dem muskulös gebauten Vampir ausging. Der seinen blondhaarigen Bruder mit Sicherheit nochmal um einen halben Kopf überragte und hinter dem sich bestimmt zwei Personen seiner Statur locker verstecken konnten. Breite Schultern, schmale Taille. Ein einfarbiges dunkles Hemd zu einer schwarzen Anzughose, das so eng auf der Haut lag, dass der eigenen Fantasie kein Raum gelassen wurde. Das Ganze zu einem kantigen männlichen Gesicht, in welches ein paar Strähnen hingen.

Er ist auf jeden Fall nicht unser Gefährte, Elian. Da bin ich mir sicher! Aber woher kommt dann dieser Geruch?!

Eli schluckte unter dem durchdringenden Blick, welcher auf ihm lag, und zwang sich, seine Augen weiter über die restlichen Anwesenden schweifen zu lassen. Bis sie auf die smaragdgrünen Irden des Mannes rechts neben ihm trafen. Der Körper des jungen Omegas erzitterte kaum merklich, als ihm ein Schauer den Rücken hinunterlief.

Verdammt!

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