"Now, Orion!"

Im achten Monat, also weitere drei Wochen später, hatte ich den nächsten Arzttermin. Wir machten wieder einen Ultraschall. Orion war dieses mal mitgekommen. Er starrte mit großen Augen auf den Bildschirm. Das Baby war schon ziemlich groß. Fünfundvierzig Zentimeter. "Um die Größe eines Kindes im Mutterleib messen zu können, muss man die Oberschenkellänge mal sieben rechnen, denn das Baby liegt da nicht gerade im Bauch, sondern gekrümmt", erklärte uns die Frauenärztin. "Wollt ihr wissen, was es wird? Man sieht es gerade sehr gut, denke ich." Ich schüttelte meinen Kopf, mein Freund auch. "Wir lassen uns lieber überraschen."

Zu Hause zeigte ich Papa das Bild, das wir wieder bekommen hatten.

"Du kannst froh sein, dass das Baby gesund ist ...", murmelte Papa. "Ja, das bin ich auch. Wie kommst du denn darauf?", gab ich zurück.

"Ich habe dir doch schon erzählt, dass deine Mum vor dir schon ein Kind verloren hat. Jedoch kam das nach dir auch noch einmal vor. Bei dir war es ein riesengroßes Glück, dass wir dich nicht verloren haben. Es hatte einen Herzfehler. Die Geburt hat es zwar überlebt, ist aber nach ein paar Minuten gestorben. Die Ärzte konnten nichts mehr machen", erzählte mein Vater. Orion wusste nicht, wo er hinsehen sollte. Ich legte meine Arme um ihn. "Orions Mutter ist das Gleiche passiert", flüsterte ich. Dad schaute meinen Freund mitfühlend an. "Doch dann ist Elena gekommen, und wir waren überglücklich", beendete Papa seine Erzählung. "Und genau so wird deine Familie auch denken", sagte ich bestimmt. Orion lächelte. "Ja, ihr habt recht."

Ich hatte Bauchschmerzen. So ging das jetzt schon zwei Stunden dahin. Es war Nacht und alle schliefen, nur ich nicht. Seit unserem Gespräch letztens war eine Woche vergangen. Die Schmerzen wurden nicht weniger, sondern immer mehr. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, darum stand ich auf.  Als ich gerade den Lichtschalter suchte, spürte ich ein Art Knacksen in meinem Bauch und hatte wenige Sekunden danach das Gefühl, als würde ich pinkeln, ohne es zu wollen. Ich schnappte erschrocken nach Luft und rief sogleich Orions Namen. "Was ist denn?", wollte er müde wissen. "Können wir ins Krankenhaus fahren? Meine Fruchtblase ist gerade geplatzt.  Ich glaube das Baby kommt!" Mein Freund riss die Decke zurück und sprang auf. Er half mir schnell, eine andere Hose anzuziehen, dann gingen wir gemeinsam die Stufen hinunter. Alleine war es schon eine Herausforderung, weil ich die Treppen nicht mehr sehen konnte. 

Ich zog mir meine Schuhe und die Jacke an. Orion eilte in das Zimmer meines Vaters. Der kam schnell herunter und stützte mich. Mein Bauch fühlte sich plötzlich so schwer an, als würde er mich hinunterziehen. Es dauerte ein wenig, bis ich realisierte, was gerade geschah: Ich bekam ein Kind! Die Wehen hatten eingesetzt. Die Aufregung und die Angst überkamen mich. Orion hielt mich die ganze Autofahrt über fest.

Als wir angekommen waren, stiegen wir aus. Papa rannte hinein und machte einen Höllenlärm. Ein paar Ärzte kamen herausgelaufen und halfen mir in das Gebäude. Die Schmerzen waren schon wieder stärker geworden. Ich ging nach vorne gebeugt hinter Dad und einem Doktor her. "Halten Sie ihren Oberkörper eher nach hinten, das ist angenehmer", gab mir eine junge Krankenschwester einen Tipp. Ich versuchte es. Mein Bauch fühlte sich nicht mehr ganz so schwer an. Ich dachte an meine beste Freundin. "Orion, wir können Saskia jetzt nicht aufwecken, oder?", fragte ich mit einem erschöpften Keuchen. Wir betraten einen gemütlichen Raum, der orange gestrichen war. Es waren überall Giraffensticker an der Wand. Eine große Palme stand in der Ecke ganz hinten. Das Bett, das in der Mitte des Raumes stand, hatte eine grüne Bettwäsche. Die Frau, die gerade etwas in ihren Computer eingetippt hatte, bereitete nun alles vor. "Doch, wenn sie deine beste Freundin ist, dann wird sie dich sicher unterstützen. Das hat sie dir doch versprochen, nicht wahr?", antwortete Orion auf meine Frage. Ich nickte. "Dad, ruf bitte Saskia an. Sie soll herkommen", wandte ich mich an Papa. Er entfernte sich ein paar Meter. Die Tür wurde geschlossen. Die Ärzte, die mich hereingeführt hatten, verließen das Zimmer.

"Leg dich doch bitte mal hin. Wie alt bist du?", wollte die Hebamme (ich glaubte, dass sie zumindest eine war) wissen.

"Sechzehn." Sie nickte. Ich legte mich auf die Liege. "Bist du nervös?" Ich nickte wieder. Meine Hände zitterten. Sofort begann mein Bauch wieder mehr weh zu tun. "Aua. Das tut weh", jammerte ich. "Warte kurz. Ich muss ein paar Untersuchungen durchführen." Sie machte einen Ultraschall, der bewieß, dass mit dem Baby alles in Ordnung war. Danach drückte sie noch ein bisschen herum und fragte, ob irgendetwas weh tat. Ich verneinte jedes Mal.

"Gut. Wahrscheinlich ist es jetzt besser, wenn du herumgehst. Komm, steh auf." Ich tat, was sie sagte. Orion wurde hinausgerufen.

Ich ging einige Schritte nach vorne. "So besser?", fragte die Frau. Ich nickte. "Ich bin übrigens Sandra. Ich werde dir heute helfen. Wie weit bist du denn schon?"

"Drei Wochen wären es noch bis ins neunte Monat gewesen", presste ich zwischen meinen Zähnen hervor.

"Na gut, drei Wochen zu früh, das ist nicht allzu schlimm. Tut es gerade sehr weh?" Ich nickte. Nicht allzu schlimm?! Ach du Scheiße ...

"Der Blasensprung ist bereits geschehen?" Ich nickte. "Vor ungefähr fünfundzwanzig Minuten."

Nach ein paar Minuten fragte ich mich, wie spät es denn eigentlich war."Wie spät ist es?" Sie zeigte mir eine Digitaluhr. 01:10 Uhr. "Oh, okay. Danke. Wird das jetzt lange dauern?"

"Kommt ganz drauf an. Das ist verschieden. Es kann sein, dass das Kind in zwanzig Minuten da ist, es ist aber auch möglich, dass es sechs Stunden oder länger dauert. Das kann man nicht so genau sagen", erklärte sie mir. "Weißt du schon Namen?"

"Für einen Jungen wahrscheinlich Jamie und für einen Mädchennamen sind wir uns noch nicht einig." Sandra nickte. Wieder plagte mich eine starke Wehe, die mich aufjammern ließ. Wann hörte es endlich auf? Ich wollte endlich das Kind!

"Komm, drehen wir eine Runde auf dem Gang, das wird dir gut tun", meinte die Ärztin und nahm meine Hand. Sie führte mich hinaus. Im Flur ließ sich keine Menschenseele blicken. Das war auch gut so, ich wollte keine Zuschauer haben. "Wo ist mein Freund?", fragte ich. Die Schmerzen waren gerade etwas weniger.

"Ich weiß nicht. Er wird sicher bald kommen", verprach Sandra. Wir schlenderten weiter. Auf einmal fingen die Wehen an, hörten für drei Sekunden wieder auf, und fingen für ein paar Minuten an. Ich hielt mir meinen Bauch mit beiden Händen. "Aua. Das tut so weh", sagte ich mit weinerlicher Stimme. Ich wusste nicht, wie ich das schaffen sollte. Wie würde erst die richtige Geburt sein, wenn das davor schon so weh tat? Ich hielt das nicht mehr aus!

Wir gingen zurück in das Zimmer. Sandra zog mir meine Schlafanzughose aus. Dann entfernte ich noch mein T-Shirt und den BH. Stattdessen zog ich ein langes Nachthemd an. Es klopfte an der Tür. Orion betrat den Raum. Hinter ihm war jemand. Saskia! Sie kam schnell auf mich zu und umarmte mich. "Elena, ich bin so stolz auf dich! Bald hast du es geschafft", beruhigte sie mich. Ich atmete ihren Duft ein. "Willst du, dass ich hier bleibe, oder soll nur Orion bei dir sein?", fragte sie mir.

"Ist es in Ordnung, wenn mir die zweite Option besser gefällt? Tut mir leid, Saskia, aber ich glaube, das ist eine Situation zwischen Orion und mir", meinte ich. Meine Freundin nickte verständnisvoll. "Sicher. Ich kann dich verstehen", erwiderte sie. "Viel Glück. Wenn es da ist, stürme ich sofort herein und vollführe einen Freudentanz, einverstanden?" Saskia lächelte leicht. Ich musste leise lachen. "Legst du dich bitte auf das Bett?", bat sie. Ich nickte. Gerade waren die Schmerzen etwas weniger. Ich schaute auf die Digitaluhr. 01:44 Uhr. Erst eine halbe Stunde!

Ich blieb sicher zehn Minuten nur so liegen. Ich hatte jetzt schon längere Zeit keine Wehe mehr gespürt, immer nur ganz leicht.

"Wieso ist es jetzt vorbei?", wollte ich wissen. "Es ist nicht vorrüber, nur eine Pause. Jetzt wird es dann ernst werden, meine Liebe", verkündete Sandra. Ich schluckte. Mein ganzer Körpe zitterte so sehr, als würde ich in einem eisigen Winterwind stehen und vor mich hinfrieren.

02:04 Uhr. Es ging wieder los. Dieses Mal so stark wie noch nie. Orion hielt meine Hand. Ich war nicht besonders tapfer, das wusste ich, denn in diesem Moment kam mir der Gedanke, dass ich das nie im Leben schaffen könnte. Das war doch unmöglich! Ich schluchzte auf. "I-ich kann das n-nicht!", weinte ich und gab nun entgültig auf.

"Natürlich kannst du das, Elena!" Ich atmete tief ein. "Denk einfach an nachher. Du hast es bald geschafft. Alle unterstützen dich. Ich zeige dir nun eine Atemtechnik, die dir sehr viel helfen wird."

"Was ist, w-wenn es nicht rausk-kommt?" Mir war gerade piepegal, wie peinlich meine Fragen waren, ich wollte einfach nur, dass es endlich vorbei war.

"Elena, ganz ruhig. Wenn du vorher schon sagst, dass du es nicht schaffst, dann wirst du es nicht können, weil du es gar nicht versuchst. Wenn erst einmal der Kopf da ist, dann geht alles sehr schnell. Die Wehen davor sind das Anstrengendste", wollte mir Sandra einreden. Orion setzte sich auf die Bettkante und hielt mich im Arm. Sandra übte mit mir das richtige Atmen, bis sie es Orion auftrug, mit mir gemeinsam zu machen. Einstweilen untersuchte mich die Hebamme wieder. Ich dachte daran, wie es wäre, wenn ich jetzt in meinem Bett liegen würde, und spielen würde, dass ich ein Kind bekam. Das hatten Saskia, Alexa und ich manchmal gemacht. Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln.

"Wenn ich sage, du sollst pressen, tust du es, ja?", sagte die Hebamme und schob mein Nachthemd ein Stück hinauf. Ich spreizte meine Beine, was mir äußerst unangenehm war. Ich hasste allgemein Ärzte, die zwischen die Beine schauen mussten. Doch gerade gab es Schlimmeres. Ich schaute mit tränenverschleiertem Blick zu meinem Freund. Die Angst war ihm ins Gesicht geschrieben. "Orion, jetzt ist es so weit. Bitte. Lass. Mich. Nicht. Im. Stich." Ich hatte jedes Wort des letzten Satzes betont. Mein Freund nickte und küsste mich auf die Stirn.

"Presse!", befahl Sandra. Ich tat es, und hörte gleich wieder auf. Ich konnte das nicht. Ich stellte es mir so eklig vor. Da unten kam ein Baby heraus?! Ich schluckte schwer.

"T-tut es sehr w-weh?" flüsterte ich.

Sandra antwortete mit ruhiger Stimme: "Das ist bei jeder Frau verschieden. Aber wenn du alles genau so machst, wie ich es dir sage, wird alles gut gehen, glaube mir! Ich habe schon viele Kinder auf die Welt geholfen. Presse, wenn du spürst, dass die nächste Wehe kommt. Die Schmerzen sollen dir Kraft und Adrenalin geben. Denk daran, es ist bald vorrüber. Du hast es gleich geschafft. Nachher sind alle superstolz auf dich. Und vergiss nicht auf das Atmen. Dein Freund macht es mit dir zusammen." Ich sammelte meinen ganzen Mut zusammen und drückte, als alles wieder anfing, sich zusammenzuziehen . Ich konnte das Gefühl nicht beschreiben. Es tat einfach überall weh. Währenddessen musste ich mich auch noch auf meine Atmung konzentrieren.

Doch ich machte einfach weiter, und weiter und weiter. Du schaffst das, Elena. Los! Endlich darfst du dein Baby sehen!, rief ich mir in meinem Kopf zu.

"Ja, gut so. Das machst du toll. Gleich sieht man es", lobte mich die Hebamme. Was? Mir kam es so vor, als wäre schon das fünfte Kind auf dem weg nach draußen! Wie lange war denn dieser verdammte Geburtskanal?! Orion streichelte meinen Kopf. Sandra gab mir wieder ein Zeichen, dass ich drücken sollte. Ich machte es. Ich keuchte und schrie laut vor Anstrengung. In diesem Augenblick kam ein Arzt in einem weißen Kittel herein, ließ kurz den Blick über ein Stück Papier wandern, und sprach dann kurz mit Sandra. Der Mann untersuchte mich und verließ auch schon wieder das Zimmer. Ich fand ihn sehr unfreundlich.

"Orion, wenn ich das richtig verstanden habe. Bist du bereit, dein Kind als erstes in den Händen zu halten?", fragte Sandra meinen Freund, der nun erschrocken aussah. Er zögerte. "Schnell!", forderte die Hebamme. Orion nickte. Er ging ans untere Ende des Bettes und folgte den Anweisungen von Sandra. Ich presste wieder. Währenddessen hielt ich mich an der Bettkante fest. Als sich meine Gebärmutter wieder zusammenzog, krallte ich meine Fingernägel in die Matratze. Ich drückte meinen Rücken durch und kniff die Augen zusammen. Das konnte doch nicht so schwer sein! Tausende von Frauen bekamen Babys, wieso sollte ich es also nicht hinkriegen?!

"Ja, super machst du das, Elena. Man kann den Kopf sehen!", kündigte Sandra an. Schweißperlen standen mir auf der Stirn. Ich fixierte Orion.

"Orion, jetzt kommt deine Aufgabe. Wenn der Kopf kommt, nimm ihm und zieh es vorsichtig heraus. Ich sag dir, was du machen sollst, ich helfe dir natürlich", sagte Sandra. Ich presste wieder. Ich habe es gleich geschafft!, ging es mir durch den Kopf. Ich drückte weiter und atmete, so wie Sandra es mir gezeigt hatte. Ich schrie wieder vor Schmerz und neu aufkommender Kraft auf. Gleichzeitig entfuhr mir ein Schluchzer. Mit einem wachsamen Blick musterte mich mein Freund, doch dann gab ihm die Hebamme das Signal, und er musste sich abwenden. "Jetzt, Orion!" Orion stellte sich geschickt an - zumindest sagte das die Hebamme. Ich war so erschöpft. Wenn es nicht bald vorbei war, würde ich wieder aufgeben. Doch dann ging alles sehr schnell. Ich presste noch ein einziges Mal, dann machten Orion und Sandra gleichzeitig eine schnelle Bewegung, und ich hörte es. Das Babygeschrei. Ich sah auf die Uhr. 02:22 Uhr. Dann schloss ich die Augen. Etwas Warmes wurde mir in die Arme gelegt. Jemand schniefte neben mir. Wieso weinte jemand?! War etwas falsch gelaufen??? Ich öffnete meine Augen und konnte nicht mehr wegsehen. Das kleine, süße Ding in meinen Armen ließ auch mir die Tränen kommen.

Orion drückte mich an sich. Ich betrachtete alles an unserem Baby. Die großen blauen Knopfaugen sahen verklebt aus. Das Mädchen konnte noch nichts sehen. Ich lächelte glücklich - das war eine glatte Untertreibung! - und berührte leicht den Kopf des Baby mit meinen Lippen. Es hatte eine ganz weiche Haut.
Das Baby wurde mir entnommen. Sandra wog es ab, untersuchte es, badete es und zog es an. Den Strampler von Saskia. Erst jetzt wurde mir bewusst, was da eben passiert war: Ich war Mutter einer wunderschönen Tochter geworden. "Ich bin so stolz auf dich, Elena. Das hast du gut gemacht", flüsterte mir Orion ins Ohr. Ich lächelte. Langsam wurde mein Atem wieder ruhiger.

Als ich sie wieder in meinen Armen hielt, hielt ich ihr meinen Zeigefinger hin. Sie umfasste ihn ganz sanft und sah mich an. Sie musterte mich. "Wahrscheinlich denkt sie gerade: 'Wo bin ich denn hier gelandet? Wieso bin ich nicht mehr im warmen Bauch meiner Mama?'", murmelte Orion dicht neben mir. Ich lächelte die ganze Zeit. Auf einmal wurde es noch einmal nass unter mir. Jetzt war der Rest gekommen.

Ich wurde mit dem Bett hinausgeschoben und in ein Zimmer gebracht. Dort wurde ich in ein neues Bett befördert. Saskia und Dad hatte ich nirgends gesehen. Ob sie mich gehört hatten?

Ich hätte nie gedacht, dass es so anstrengend werden würde, und vor allem hätte ich nicht erwartet, dass ich es schaffe ...

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