6. Kapitel

»Oh, mein Gott, Tilda! Das tut mir so leid!«

Wir saßen mit einer Flasche Wein, einer XXL-Tafel Scho­kolade und einer Tüte Chips auf meinem Sofa und fraßen uns Frustpfunde an. Nebenbei lief Titanic, doch wir schenkten dem Film keine große Aufmerksamkeit. Es gab viel zu viel zu besprechen.

Meine Augen sahen aus, als hätte ich mir die letzten Stun­den Zwiebeln daraufgelegt. Tatsächlich hatte ich mir den ganzen Abend lang die Augen ausgeheult.

»Er hat mich überall blockiert«, jammerte ich und sehnte mich nach Trost und Mitleid.

»Shit!«, sagte Kim mitfühlend.

»Ich würde ihm so gern die Wahrheit sagen! Er soll wis­sen, dass ich ihn nicht verarscht habe. Das war kein Fake. Er empfindet doch genauso.«

Ich klang verschnupft, doch in Wahrheit waren es nur die Nachwirkungen der Heulkrämpfe.

Kim legte freundschaftlich ihren Arm um mich. »Das ver­stehe ich, aber du kannst ihm das jetzt noch nicht sagen. Du weißt, dass dieser Auftrag von ganz oben ausgeht, und wenn herauskommt, dass du eingeschleust wurdest, ist die Hölle los. Und dann wird auch niemand mehr etwas gegen diesen Funke tun können. Warte einfach ab, bis der Auftrag beendet ist.«

Ich schniefte laut, denn das war keine gute Lösung. Das dauerte mir viel zu lange – Geduld war noch nie meine Stärke gewesen. »Was ist, wenn er bis dahin eine andere hat?

Wenn er dann vergeben ist und mit einer anderen glücklich wird? Das würde ich nicht aushalten!«

Kim drückte mich noch fester. »Wenn es wirklich die wahre Liebe zwischen euch beiden war, dann wird das Schicksal euch schon zusammenführen.«

Kim war der ungläubigste Mensch, den ich kannte. Schick­sal war für sie so real wie Kartenlegen oder der Blick in eine Kristallkugel. Und wahre Liebe war in ihren Augen dem­ entsprechend auch nur etwas, das aus der Feder von Autoren stammte. »Das sagst du nur, um mich aufzumuntern«, pro­ testierte ich. »Außerdem redest du mit jemandem, der Medi­zin studiert hat. Ich weiß, dass Liebe nur das Ergebnis chemi­scher Prozesse ist und keine Fügung des Schicksals.«

Kim seufzte. »Es ist aber auch wirklich nicht leicht, dich aufzumuntern.«

Ach was! Amor hatte heute den Pfeil aus meiner Brust ge­zogen, mit dem er mich erst kürzlich abgeschossen hatte. Na­türlich reichten da nicht ein paar nette Worte, um die Wunde zu schließen.

»Ich hasse diesen Auftrag so sehr. Die hätten wirklich je­mand anderen dafür nehmen sollen. Dieser Lehrer ist einfach schlimm! Ein richtiges Monster. Das kannst du dir gar nicht vorstellen!«

Ich versuchte, mich irgendwie von Mats abzulenken und das eigentliche Ziel meines Auftrages zu fokussieren.

»Dieser Funke?«, hakte Kim sofort nach.

»Ja.«

»Meinst du, du könntest ihn um den Finger wickeln, um zu sehen, ob er wirklich Schülerinnen sexuell anmacht?«

Ich lachte verbittert. »Ich bin dazu vermutlich die Falsche, denn er steht nicht auf mich«, ließ ich Kim wissen und ver­zog angewidert mein Gesicht.

»Was meinst du?«

»Er ist ein dummer Rassist, und er hat gestern sehr deut­lich gemacht, dass Mädchen, die asiatische Wurzeln haben,

nicht seinem Idealbild einer Frau entsprechen«, gab ich seine Wortwahl von neulich beschönigt wieder.

Kims Kinnlade klappte nach unten. »Was? Nicht dein Ernst! Was hat er gesagt?«

»Er hat mich Chinamädchen genannt und gemeint, dass ich doch auf mein Reisfeld zurückkehren soll!«

»NO WAY!«

»DOCH! Und deshalb will ich das auch durchziehen! Wenn mich das als gestandene Frau schon trifft, will ich gar nicht wissen, wie schlimm solche Worte für einen Teenager sind. Ich will diesen Typen wirklich an den Pranger stellen, und dafür muss ich noch eine Weile durchhalten.«

Es war mehr die Verzweiflung, die aus mir sprach, denn ich wusste selbst, dass ich nicht die Kraft hatte, noch lange durchzuhalten. Ich wollte am liebsten zu Mats rennen, mich in seine Arme schmeißen und ihm alles erklären. Ich wollte mit ihm jeden Tag und jede Nacht verbringen. Ihn berühren, riechen, schmecken. Ich wollte sein Lachen sehen und mich an ihn kuscheln. Und das bis ans Lebensende! Verdammt, Amor, was hast du getan? Dein Pfeil hatte eindeutig eine Überdosis.

Ich schob ein Stück Schokolade in meinen Mund und sah gleichzeitig, wie Jack ertrank. Er hatte auch nicht viel mehr Glück in der Liebe.

Kim nickte zustimmend. »Das ist die richtige Entschei­dung! Du tust damit etwas Gutes. Dieser Funke sollte nie wieder unterrichten, und du kannst dafür sorgen!«

»Ja«, sagte ich jammernd, denn ich wollte eigentlich lieber ein Leben mit Mats als ein Leben ohne Funke. Doch manch­ mal musste man zurückstecken und das große Ganze im Blick haben. »Ich tue etwas Gutes für die Gemeinschaft und etwas Schlechtes für mein Liebesleben.«

»Gib ihn nicht so schnell auf! Nur weil es im Moment zwi­schen euch nicht geht, heißt das nicht, dass es in ein paar Monaten nicht schon wieder anders aussehen kann.«

Ein paar Monate? Ich wusste nicht einmal, wie ich ein paar Stunden überstehen sollte.

Eine Träne tropfte erneut auf meinen Pulli und gesellte sich zu den Schokoflecken, die sich dort schon einen Platz gesucht hatten. So, wie ich jetzt gerade aussah, hätte er mich wohl eh nicht genommen. Gestern Abend war alles noch so perfekt gewesen. Wir waren auf rosa Wolken durch den sieb­ten Himmel geschwebt, und alles hatte sich so angefühlt, als wäre es der Beginn einer großen Liebe, die für immer anhal­ten würde. Doch nun endete es, bevor es wirklich begonnen hatte.

Ein neuer Heulkrampf bahnte sich an, und ich drückte mich Halt suchend an Kim, die mir diesen sofort gab. Trös­tend strich sie mir über den Rücken.

»Es wird besser werden«, versuchte sie, mich zu beruhi­gen, und tätschelte meine Schulter. »Es wird alles gut wer­ den.«

Das würde ich erst glauben, wenn es wirklich passierte.

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