5. Kapitel
Obwohl der Wecker um 5:30 Uhr geklingelt hatte, war ich mit einem breiten Grinsen aufgestanden. Die Erinnerung an den gestrigen Abend war noch so präsent, dass ich selbst jetzt noch das Gefühl hatte, dass mein Körper bebte.
Ich schickte Mats ein Herz per WhatsApp. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis er eins zurückschickte.
Wir waren wirklich schlimmer als Pubertierende!
Ich hatte schon fast vergessen gehabt, wie es sich anfühlte, verliebt zu sein. Doch nun war mein Hormonhaushalt der einer Teenagerin. So fügte ich mich vielleicht gleich besser in die Klasse ein. Ich wusste gar nicht, wo mir der Kopf stand. Ich konnte nur noch an ihn denken. Ich hatte sogar in seinem T-Shirt geschlafen, das er mir überlassen hatte, und konnte es kaum erwarten, ihn heute Abend wiederzusehen. Es fühlte sich an, als wäre ich süchtig nach ihm und würde gerade einen kalten Entzug durchlaufen.
Doch zunächst musste ich erst einmal meinen zweiten Schultag überstehen, und der begann auch noch mit Sport. Es war nicht so, dass ich nicht gern Sport trieb. Ganz im Gegen teil. Ich mochte Radfahren, Inlineskaten, Skifahren, Hockey und Schwimmen. Aber mein Körper war definitiv nicht mehr in der Lage, sich um 180 Grad zu drehen und dann auf den Händen stehen zu bleiben.
In der Umkleide war ich zumindest froh, dass ich eine Sache mit den anderen Mädels teilte: den Hass auf den Sportunterricht.
Schon damals hatte ich das System Schneller, höher, weiter nicht verstanden. Ich fand es gut, dass man sportliche Aktivität in den Schulalltag integrierte, aber warum musste das im Konkurrenzkampf geschehen? Warum musste es überhaupt Noten geben? Mit meinen 1,54 Metern hatte ich nie die Chance gehabt, eine gute Note in Hochsprung, Weitsprung oder Sprint zu bekommen. Ich hatte es immer als systematische Diskriminierung von Kleinen empfunden.
»Immerhin ist der Sportlehrer echt heiß«, ließ mich Agatha wissen, die sich meiner angenommen hatte.
Ich konnte mich wirklich nicht beschweren, dass ich von den anderen ausgeschlossen wurde. Zu meiner eigenen Verwunderung waren alle nett und versuchten, mich zu integrieren. Offensichtlich hatte Fack ju Göhte mir ein falsches Bild von unseren Schülern in Deutschland gegeben.
»Er ist noch richtig jung und hat gerade erst sein Referendariat beendet«, fuhr Agatha fort. »Er macht sogar die Übungen vor, und glaube mir: Es ist ein wahrer Genuss, ihm dabei zuzusehen.«
Sie grinste mich schelmisch an. »Man munkelt, dass er noch Single ist.«
Innerlich verdrehte ich die Augen. Als ob ein Lehrer eine Abiturientin als Freundin haben wollte. Die Vorstellung, dass ich mit jemandem zusammen sein könnte, der noch die Schulbank drückte, löste Unbehagen bei mir aus. Das passte einfach nicht. Das war vom Gefühl her so, als würde man Schokolade in Ketchup tunken und zum Frühstück essen. Manche Dinge gehörten sich einfach nicht.
Als wir die Sporthalle betraten, stieg sofort dieser muffige Geruch in meine Nase, und die Dielen knarzten unter meinen Füßen. Die Halle hatte wohl schon ihre besten Jahre hinter sich.
Ich spürte einen Ellenbogen in meinen Rippen.
»Da!«, flüsterte Agatha in mein Ohr. »Das ist er!«
Neugierig sah ich auf und versteinerte augenblicklich. Auch weil der Lehrer mich genauso erschrocken ansah wie ich ihn.
Nein!
Bitte nicht!
Nein!
Nein! Nein! Nein!
Mats.
Das war Mats!
Oh, mein Gott! Ich hatte zwar gewusst, dass er Lehrer war, aber er wohnte am anderen Ende der Stadt. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass er an dieser Schule unterrichtete. Das durfte doch nicht wahr sein. Das Blut gefror mir in den Adern. Ich wünschte, ich hätte Harry Potters Tarnumhang oder noch besser: Hermines Zeitumkehrer. Verdammt, warum hatte ich keinen Hogwarts-Brief erhalten?
Ich sah, wie Mats um Fassung rang. Er fühlte sich betrogen und belogen. Das konnte ich an seinem entsetzten Gesichtsausdruck erkennen. Dabei war das gar nicht so. Meine Existenz als Schülerin war eine Lüge. Alles, was wir erlebt hatten, war echt. Er presste seine Lippen zusammen und schien verkrampft zu versuchen, sich wieder zu fangen.
Nein!
Das, was wir hatten, war so besonders. Das durfte jetzt nicht einfach so kaputtgehen. Ich wollte das nicht verlieren! Nach so vielen Jahren war ich endlich wieder glücklich. Die letzte Nacht war perfekt gewesen. Einfach perfekt. Wir waren perfekt gewesen ...
Mein Herz brach so laut, als würde man eine Abrissbirne in ein Porzellangeschäft donnern lassen. Allein seine Enttäuschung zu sehen schmerzte so sehr, als hätte man mir Gift in mein Herz gespritzt, es dann angezündet und die Asche in die Hölle geschmissen.
Ja, vielleicht war ich theatralisch! Aber ich litt so sehr, dass mir schlecht wurde.
Ich wollte zu ihm rennen und ihm alles erklären, doch das konnte ich nicht. Das hier war mein Job, und nachdem ich gestern gesehen hatte, wie dieser Funke mit den Schülern umgegangen war, konnte ich unmöglich alles auffliegen lassen, bevor es begonnen hatte. Ich wollte die Schüler schützen, und dafür musste ich mein Alibi aufrechterhalten. Zu groß war die Gefahr, dass Mats preisgeben könnte, dass ich hier undercover arbeitete.
Ich ertrug seinen Blick nicht. Er war ganz offensichtlich verwirrt, und gleichzeitig konnte ich in seinem Blick die Scherben sehen, die gerade in seiner Brust Zerstörung an richteten.
»Kennst du den?«, flüsterte Agatha mir zu.
Ich schüttelte abwesend den Kopf. »Nein, noch nie gesehen.«
Schließlich atmete Mats einmal tief ein und löste dann seinen Blick von mir. Er begann, die Anwesenheitsliste durch zugehen. Meinen Namen rief er nicht einmal auf, sondern hakte ihn einfach ab. Dann ließ er uns Runden laufen.
Ich kämpfte derweil gegen meine Tränen an. Ich hatte das Gefühl, meine große Liebe zu verlieren. Es waren die tollsten zwei Dates, die ich je in meinem Leben gehabt hatte. Es war mir egal, was irgendwelche Anti-Romantiker sagten. Ich hatte Liebe auf den ersten Blick erfahren. Ich hatte mir vor stellen können, ihn zu heiraten und mit ihm Kinder zu haben, und plötzlich war das alles in Gefahr.
Er würdigte mich keines weiteren Blickes, während ich ihn nur anstarren konnte.
»Wir spielen heute Badminton! Baut bitte die Netze auf, und holt euch jeder einen Schläger!«, rief er durch die Halle.
»Mann, ist der heute schlecht drauf«, raunte Agatha mir zu. »Eigentlich ist er voll nett und entspannt.«
Die restliche Stunde war eine Qual für mich, und das nicht, weil ich gefühlt keinen Ball traf. Sondern vielmehr, weil mein Kopf gar nicht wusste, was er denken sollte.
Als die Stunde endlich beendet war, ertönte seine strenge Stimme hinter mir. Da war nichts Liebevolles mehr. »Bleibst du bitte noch. Ich würde gern mit dir reden.«
Ich schluckte schwer und blieb stehen. Wir warteten, bis alle aus der Halle waren und nur wir zwei zurückblieben.
Ich schaffte es kaum, ihm in die Augen zu sehen. »Medizinjournalistin, ja?«, stellte er die rein rhetorische Frage. Man konnte die Verletztheit aus seiner Stimme hören. Nun war er wütend. Bei skandinavischen Typen wie ihm konnte man das schnell an der Hautfarbe ablesen. Sein Gesicht war feuerrot.
Ich schwieg. Ich konnte ihn nicht anlügen, aber ich konnte ihm auch nicht die Wahrheit sagen. Er war mir so nahe, dass ich ihn am liebsten küssen wollte. Oder wenigstens eine Umarmung abstauben. Ich wollte nichts mehr als seine Nähe und Zuwendung spüren.
»Willst du mich verarschen?«, zischte er. »Du erzählst mir, dass du 28 Jahre alt bist und schon voll im Berufsleben angekommen bist. Dabei drückst du hier noch die Schulbank! Hast du mich bewusst ausgewählt, weil du wusstest, dass ich dein Lehrer sein würde? Willst du mich erpressen? Ist es das?«
Ich hatte nicht erwartet, dass er so wütend sein konnte. Doch konnte ich ihm das verübeln?
»Nein!«, widersprach ich sofort und war den Tränen nahe.
»Ich wusste nicht, dass du hier arbeitest, und ich will dich schon gar nicht erpressen. Meine Gefühle sind nicht gelogen gewesen. Wirklich nicht!« Ich musste so verzweifelt klingen.
»Und warum lügst du dann? Weil du mit einem älteren Mann angeben willst?«
»NEIN!«, widersprach ich. »Ich kann dir das momentan nicht erklären, aber es ist nicht so, wie du denkst.«
Er schüttelte abwertend den Kopf, was wohl kein gutes Zeichen war.
Ich sah ihm an, dass er genauso überfordert war wie ich. Auch er hatte viele Erwartungen an uns gehabt.
»Merke dir eins! Ich fange nichts mit Schülerinnen an! Die letzten zwei Tage haben nichts bedeutet. Gar nichts.«
Eine Träne kullerte über meine Wange. Mir haben sie sehr viel bedeutet. »Sag das bitte nicht! Ich weiß, dass sie dir etwas bedeutet haben. Uns beiden.«
Er schüttelte den Kopf. »Du hast mich belogen. Und das in jeglicher Hinsicht! Ich möchte, dass du mir nicht mehr schreibst. Lösche meine Nummer aus deinem Handy, und lass mich einfach in Ruhe!«
Mein Herz knackte lauter als die Dielen unter meinen Füßen. Ich konnte ja verstehen, warum er so reagierte. Aus seiner Perspektive sah das alles echt beschissen aus.
»Mats, bitte, ich ...«
»Herr Droste. Ich bin für dich Herr Droste, und ich möchte, dass du mich siezt. Und damit ist dieses Gespräch für mich beendet.«
Er drehte sich um und ließ mich einfach stehen.
Da traf ich einmal im Leben meinen absoluten Traummann, und dann so etwas! Vielleicht war er wirklich der Eine. Und ich Pechvogel hatte ihn einfach verloren.
»Alles okay bei dir?«, erkundigte sich Ole, als ich als Letzte aus der Halle kam.
»Ja«, versuchte ich, fröhlich zu klingen, und scheiterte kläglich.
»Warum wollte er noch mit dir sprechen?«
Ich wünschte, ich müsste nicht jeden anlügen. »Ach, nichts weiter. Ich bin halt die Neue. Er hat mir nur ein bisschen sein Unterrichtskonzept erklärt und welche Leistungen ich er bringen muss.«
Ole guckte mich musternd an. »Du siehst irgendwie ganz schön mitgenommen aus.«
Dafür brauchte man nicht einmal einen aufmerksamen Blick. Jeder konnte sehen, dass mein Endorphinspiegel im Blut gefährlich niedrig war. »So sieht man halt aus, wenn man Sport macht. Tut mir leid, dass das hier nicht die Insta gram-Welt ist, in der ich mir einen Filter über mein Gesicht stülpen kann, in dem nicht nur jede Pore entfernt wird, sondern auch noch Feenstaub und Blütenblätter um meinen Kopf fliegen.« Ich zwinkerte ihm zu, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich es nur spaßig meinte.
Tatsächlich lachte er. »Wie?«, sagte er dann. »Und wenn du deinen Mund aufmachst, kommt keine Hundezunge?«
Ich streckte ihm meine Zunge raus. Dann zuckte ich mit den Schultern. »Sieht wohl nicht danach aus.«
Er lächelte, und das war so ansteckend, dass ich zumindest für eine Sekunde meine Mundwinkel hochgezogen bekam.
»Jedenfalls bist du auch ohne Filter ganz bezaubernd.« Augenblicklich verschluckte ich mich an seinen Worten.
Ganz bezaubernd? So drückte sich vielleicht meine Oma aus, aber doch kein Achtzehnjähriger. Und war das ein Flirt? Ich wollte keinen Flirt mit einem Teenager.
»Danke«, sagte ich höflich und konnte nicht verhindern, dass meine Durchblutung sich spontan im Gesicht konzentrierte. Auch ich war eher blass, und auch meine Gesichtsfarbe offenbarte gern alle Gefühle.
»Ich muss jetzt noch zum Lehrerzimmer und mein Chemiebuch abholen. Sonst steinigt mich Funke morgen früh noch und wirft mich dann auf den Scheiterhaufen. Das Risiko will ich nicht eingehen.«
Und schon ging ich schnellen Schrittes weiter und ließ den etwas geknickten Ole zurück, ehe noch andere Komplimente im Sinne von Shakespeare folgen würden.
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