3. Kapitel

Die Neue zu sein war wirklich eine Sache, auf die ich nie scharf gewesen war. Doch nun stand ich in diesem Klassen­ raum. Ich hatte erwartet, dass mir Papierflieger und Ähnli­ches um die Ohren sausen würden. Ich hatte mit lautem Ge­ schrei gerechnet, doch stattdessen blickte ich auf gesenkte Köpfe. Alle starrten auf ihre Handys. Die besonders sozialen Schüler sahen zu zweit auf ein Display.

Wow, das war also die Zukunft unseres Landes.

Ich blickte mich im Raum um und fand in der ersten Reihe einen freien Platz. Wo auch sonst? Die Front Row war nur bei Konzerten beliebt.

Ich ließ meinen Rucksack auf den Tisch fallen. Nicht mal eine Handtasche war mir vergönnt gewesen.

»Eine Handtasche wirkt viel zu damenhaft, Tilda«, hatte Udo gesagt. »Außerdem wirst du auch nicht jünger. Dein Rü­cken wird es dir danken.«

Ich trug Sneakers, eine Skinny-Jeans und ein einfaches weißes T-Shirt. Das war das, was Erwachsene für cool hiel­ten. Ich kam mir jedoch eher vor, als wäre ich verkleidet. Für gewöhnlich war ich ein absolutes Rock-Girl. Ich liebte jegli­che Form von Kleidern und Röcken. Darin fühlte ich mich nicht eingeengt und wirkte stets weiblich.

»Hier ist doch noch frei, oder?«, fragte ich ein wenig ver­unsichert, als mich mein neuer Banknachbar skeptisch ansah. Entweder war er der Oberstreber der Klasse, der freiwillig in der ersten Reihe saß, oder er war der Ursprung allen Übels und deshalb unter Isolation in die erste Reihe verbannt wor­den. Seinem Aussehen zufolge war es wohl eher die zweite Variante. Für sein Alter wirkte er erstaunlich erwachsen. Manche Männer hatten selbst mit 40 noch nicht so einen Bartwuchs wie er. Sein Dreitagebart ließ ihn zehn Jahre älter aussehen. Außerdem war er groß und für einen Teenager auffällig muskulös.

War ich hier etwa nicht die Einzige, die undercover war? Er wirkte, als würde er im fünfzehnten Semester BWL stu­dieren.

»Klar, ist noch frei«, ließ er mich selbstbewusst wissen und zog den Stuhl neben sich nach hinten, sodass ich mich setzen konnte. Er sah mich musternd an. »Du bist neu!«, stellte er fest.

»Ja, das ist richtig«, stimmte ich ihm zu und ließ mich ne­ben ihm nieder. »Ich bin Tilda.«

Er lächelte erstaunlich freundlich. Das entsprach aber nicht dem Ablauf in all den High-School-Filmen, die ich gesehen hatte. Wurden die Neuen nicht immer gemobbt oder zumin­dest ignoriert? Mein Banknachbar hatte davon offensichtlich noch nichts gehört und sah mich neugierig an.

»Ole«, stellte er sich beiläufig vor, schien aber durchaus Interesse an mir zu haben. Er ließ seinen Blick nicht von mir weichen. »Wieso hast du die Schule gewechselt?«, hakte er nach. »Lohnt sich das überhaupt im letzten Schuljahr?«

»Mir blieb keine Wahl. Ich habe meiner alten Chemieleh­rerin aus Versehen Salzsäure ins Gesicht gekippt. Die ande­ren meinten, es wäre mit Absicht gewesen, und dann bin ich von der Schule geflogen«, gab ich von mir, ohne eine Miene zu verziehen. Ich setzte mein Pokerface auf und genoss es, wie seine Augen immer größer wurden.

»Echt?«, hauchte er und schien mir jedes Wort zu glauben. Es sah fast so aus, als würde ein wenig Angst in seinem Blick aufblitzen.

Ich legte meinen Kopf schief und grinste. »Das war ein Scherz«, ließ ich ihn wissen. »Mein Vater hat hier einen neuen Job, und deshalb sind wir hergezogen.«

Er lachte verlegen, weil er auf mich hereingefallen war.

»Schade«, sagte er. »Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn du hier auch ein paar Lehrer außer Gefecht gesetzt hättest. Wo kommst du denn her?«

Udo hatte mir eingebläut, dass ich mich so interessant wie möglich machen sollte. Die Schüler mussten Vertrauen ge­winnen. »New York«, log ich und versuchte, dabei möglichst cool und beiläufig zu klingen.

Oles Augen weiteten sich beeindruckt, und offensichtlich wurde Udos Theorie gerade bestätigt, dass internationale Metropolen eine große Faszination auf junge Leute ausübten.

»New York?«, fragte er ungläubig nach. »Wow, das ist cool. Das muss doch echt scheiße sein, wenn man da wegziehen muss.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ach, na ja, es war Zeit für etwas Neues.« Meine Masche schien gut zu funktionieren.

»Krass«, sagte er, und ich war über seine Gutgläubigkeit mehr als erleichtert. »Ich würde so gern mal raus aus dieser Stadt.«

»Du bist doch superjung. Du hast noch alle Zeit der Welt, den Erdball zu bereisen.«

Er zog beide Augenbrauen hoch. »Jetzt hörst du dich an wie meine Oma!«, sagte er lachend.

O Gott, er hatte recht! Achte mehr auf deine Wortwahl, Tilda!

Ich hörte einen lauten Knall.

Als ich aufblickte, sah ich den Lehrer, der offensichtlich gerade das Klassenbuch geräuschvoll auf den Tisch hatte fal­len lassen. Das war er: Herr Funke. Der Mann, den man be­schuldigte, Mädchen zu begrapschen.

Sein Blick blieb an mir hängen, und sofort spürte ich, dass dieser Typ nicht einer von den Lehrern war, der zehn Minu­ten früher Schluss machte oder vor Weihnachten ein gemein­sames Frühstück organisierte.

»Du«, sagte er in meine Richtung. »Du bist neu hier.«

Das war definitiv kein freundlicher Tonfall. Allein bei sei­nem Anblick lief es mir kalt den Rücken herunter. Er wirkte ungepflegt. Seine grauen Haare waren fettig wie geölte Spa­ghetti. Er roch widerlich nach Schweiß, und sein Bauch war bespannt mit einem fleckigen Hemd.

»Ich heiße Tilda«, ließ ich ihn wissen.

»Wo sind deine Arbeitsmaterialien?«, brummte er.

Schnell griff ich nach meinem Rucksack und zog meinen Notizblock und einen Stift heraus.

»Und das Lehrbuch?«, schob er hinterher und sah mich herausfordernd an.

Ich spürte, wie die gesamte Klasse mich anstarrte. »Das habe ich noch nicht. Wie gesagt: Ich bin neu.« Ich würde mich von diesem Stinker nicht unterkriegen lassen.

»Da musst du dich drum kümmern. Und zwar vor dem Un­terricht!« Seine Stimme wurde lauter. »Wie willst du es mal durchs Leben schaffen, wenn du dir nicht einmal ein Buch besorgen kannst?«

Fassungslos starrte ich ihn an. Wieso wagte er es, so mit mir zu reden? »Entschuldigen Sie, aber könnten Sie bitte auch vernünftig mit mir kommunizieren?«, sprudelte es aus mir heraus. Ich konnte spüren, wie die gesamte Klasse scharf die Luft einsog.

»Kleines Fräulein!«, zischte er und kam bedrohlich auf mich zu. »Wage es nicht noch einmal, in diesem Ton mit mir zu reden!«

Ich verschränkte provokant die Arme vor meiner Brust.

»HAST DU MICH VERSTANDEN?«, brüllte er plötzlich, sodass ich zusammenzuckte. Spuckespritzer flogen in meine Richtung, erreichten mich glücklicherweise jedoch nicht.

Das war doch ein schlechter Scherz! Kein Schüler sollte so behandelt werden. Ich verweigerte eine Antwort.

»HAST DU MICH VERSTANDEN?«, schrie er nun noch lauter.

In dem Raum war es so leise, dass man den Flügelschlag ei­nes Schmetterlings hören konnte.

»Tilda, du darfst nicht auffallen! Egal was du tust! Fall nicht auf!«, hatte Udo mir eingebläut. Dazu war es jetzt wohl schon zu spät. Ich musste wohl oder übel die Wogen glätten, oder dieser ganze Auftrag würde abgeblasen werden, bevor er überhaupt Fahrt aufgenommen hatte.

»Selbstverständlich«, sagte ich mit kräftiger Stimme. »Sie waren nicht zu überhören.«

»Du kleines Chinamädchen hältst dich wohl für besonders cool. Aber lass dir eins gesagt sein: Bist du noch einmal auf­müpfig, wirst du dir wünschen, dass deine Eltern mit dir auf ihren Reisfeldern geblieben wären. Aber wahrscheinlich wärst du selbst zum Reisernten zu doof!«

Ich atmete tief ein. Fassungslos starrte ich ihn an. Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt! Ich wollte am liebsten

»RASSIST« brüllen, doch ich konnte nicht. Ich durfte nicht jetzt schon auffallen. Ich biss mir auf die Unterlippe und schluckte all meine Wut herunter. Beinahe erstickte ich daran. So groß war der Klumpen.

Dann lächelte er. »Also doch nur heiße Luft und nichts da­

hinter«, hauchte er und ging dann wieder in Richtung Tafel. Entsetzt und mit offenem Mund starrte ich ihm hinterher.

Das hier war noch viel schlimmer, als ich gedacht hatte. Hier ging es nicht nur um sexuelle Belästigung. Es ging auch um Rassismus und vor allem um psychische Misshandlung.

»Tut mir leid, dass ich dich nicht vorgewarnt habe«, ent­schuldigte sich Ole, als die Stunde vorbei war und Herr Funke den Raum verlassen hatte. »Er ist ein Arschloch. Man darf ihm nicht widersprechen. Ich hoffe, du weißt selber, dass das nicht stimmt, was er zu dir gesagt hat!«

Ole war süß. Ich lächelte ihn dankbar an. »Keine Angst, er hat meinem Ego keinen Kratzer verpasst. Aber mal im Ernst: Hat sich noch nie jemand mal beim Direktor beschwert?«

Ole lachte, doch es war ein Lachen mit einer bitteren Note.

»Unsere Direktorin ist seine Ehefrau, und glaube mir: Sie lei­det unter ihm vermutlich noch mehr, als wir es tun. Sie würde ihm nie widersprechen.«

»Krass«, kam es über meine Lippen. »Das ist echt krass!«

»Ja, aber was soll man machen? Bald ist die Schule eh vor­

bei, und dann kann er uns egal sein!«

Nein, dachte ich. Es war nicht egal. Es kamen jedes Jahr neue Schüler an diese Schule. Wenigstens die Neuen sollte man vor diesem Idioten schützen!

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