Offenheit

Ian

Er schob seine Zunge in ihren Mund und stöhnte, weil es einfach so viel besser war als jemals zuvor. Er hatte sich nie wirklich erklären können, warum Emily so anders für ihn war, aber in dem Moment, als sie seine Wohnung betreten hatte, verstand er es plötzlich.

Sie sah ihn.

Nicht sein Reichtum, sein Vermögen oder seine schicke Wohnung.

Sie war hier hereingekommen und hatte sich nach ihm umgesehen, weil es sie nicht kümmerte, wie viel Geld er wirklich hatte. Nie zuvor war er sich so sicher gewesen, jemanden begegnet zu sein, der sich für ihn als Mensch interessierte.

Ian unterbrach den Kuss und sah dabei zu, wie Emily sich die Lippen leckte, als würde sie seinen Geschmack weiter auf ihrer Zunge haben wollen. Allein diese Geste machte ihn wahnsinnig. War Emily überhaupt wirklich bewusst, wie verführerisch sie wirkte? Mit ihren blonden Locken und diesem Verlangen in den Augen, denn kein Mann jemals widerstehen konnte. Die Männer hatten um sie herumgeschwirrt wie die Fliegen, aber sie war bei ihm. Trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war.

"Mein gesamtes Vermögen steckt in meiner Firma, in diesem Appartment und in den Wertgegenständen, die ich besitze, Emily. Ich habe nicht viele liquide Mittel und die wenigen, die ich habe, brauche ich, um gegen meinen Vater vorzugehen", erklärte er und wie immer überraschte Emily ihn.

Sie blinzelte lediglich, legte den Kopf leicht schräg und sah ihn aus großen katzenhaften Augen an.

"Ich kann den Einkauf bezahlen, du solltest eh nicht dafür aufkommen müssen, das ist schließlich meine Bestellung und..." meinte sie und Ian musste lächeln, während er sie schnell unterbrach. Natürlich bot sie ihm das an. Das hätte er wissen müssen.

"Das meinte ich nicht", sagte er und nun runzelte Emily die Stirn.

"Dann weiß ich nicht, was du meinst. Ich rechne nicht damit, dass du Dinge für mich kaufst, Ian. Ich studiere noch und lebe zu Hause, ich habe kaum Ausgaben und verdiene mir ein wenig Taschengeld damit, dass ich für meinen Vater die Buchhaltung mache. Ich erwarte nichts weiter von dir, als dass du mir einen Platz in deinem Leben einräumst." Natürlich.

Wieder zog Ian sie an sich heran, diesmal aber nicht um sie zu küssen, sondern um seine Stirn an die ihre zu legen und sie anzusehen.

Emily war so anders als die anderen Frauen, die er kannte. Natürlich waren die meisten von denen nicht alle auf sein Geld aus gewesen, weil sie meist selbst genug hatten. Dennoch war es immer ein Thema gewesen.

Was seltsam war.

Warum redeten vermögende Leute so viel über Geld und die, die kaum etwas hatten, räumten diesen Aspekt so wenig Zeit ein? Für Emily war Geld ein Mittel zum Zweck, sie wollte davon Popcorn Cornflakes kaufen. Er selbst brauchte es, um Macht auszuüben.

"Ich wollte dir nichts unterstellen, ich will nur ehrlich sein. Das hier ist neu für mich", gestand er und Emily nickte, während sie an dem Knoten seiner Krawatte herumnestelte. Das machte ihn nervöser als ihre bloße Anwesenheit hier. Wusste sie, was sie damit tat oder war es nur ein Ausdruck ihrer eigenen Nervosität?

Der Gedanke, dass sie begann ihn auszuziehen, ließ seine Fantasy in weniger unschuldigen Gefilden abdriften. Würde sie es zulassen, wenn er versuchte sie heute Nacht in sein Bett zu locken? War es zu früh, es zu versuchen? Wenn er es nicht tat, würde sie dann denken er hätte kein Interesse? Scheiße.

Er fühlte sich wie ein kleiner Junge der Angst hatte, etwas falsch zu machen und damit die Gelegenheit verpasste, den Weihnachtsmann am heiligen Abend zu sehen.

"Warum versuchen wir nicht einfach, uns einen schönen Tag zu machen? Ich würde ja ein Date vorschlagen, aber meine Frisur ist definitiv nicht Fotoreif", lächelte Emily und nun war es Ian der nickte. Das war ein hervorragender Vorschlag.

Emily wollte Zeit von ihm und würde kein Verständnis dafür haben, wenn er hier mit ihr in seinem Apartment saß und arbeitete. Auch das war neu. Er mochte vermögend sein, aber Zeit war für sie wertvoller als Geld.

"Wir setzen uns hin und warten auf das Essen und unterhalten uns einfach. Ich will alles über dich wissen", meinte Ian ehrlich und Emily nickte begeistert. So sehr, dass er fast stolz auf sich war, das richtige gesagt zu haben. Nachdem er sie hier empfangen hatte und ihr nicht mal etwas zu Trinken anbieten konnte, war es gut, die Kontrolle zurückzubekommen.

Es war seltsam, dass ausgerechnet Emily ihm das Gefühl gab, ihr nichts bieten zu können, sich ihr gegenüber ständig beweisen zu müssen. Bis jetzt hatte er ihr nur Probleme bereitet und er kam sich vor, als hätte er sie schlicht nicht verdient.

Und als sie es sich auf der Couch bequem machten, wurde dieses Gefühl in ihm nur noch verstärkt.

Emily erzählte über ihre Familie. Wie sehr ihre Großeltern sie manchmal nervten und von einem Familienurlaub in Paris, als sie klein gewesen war und bei dem sie fast verloren gegangen wäre. Auch über ihren Bruder erzählte sie. Über die Tragik dieses Unfalls und der Klage danach, die ihr das Stipendium eingebracht hatte.

"Der Fahrer des Lastwagens hat mir furchtbar leid getan. Es war nicht seine Schuld gewesen, dass die Technik versagte. Er hat sich furchtbare Vorwürfe gemacht und war bei dem Unfall auch noch arbeitsunfähig gewesen. Er sagte vor Gericht aus, dass er lieber gestorben wäre, dann hätte seine Familie zumindest seine Lebensversicherung erhalten, um sich zu versorgen. So musste er diesen Prozess durchmachen, von dem seine ganze Zukunft abhing. Es ist so seltsam, dass man in diesem Land von dem Tod eines anderen Profit ziehen kann", meinte sie und Ian verstand, dass sie damit nicht nur den Fahrer, sondern auch sich selbst meinte. Emily hätte ohne den Verlust ihres Bruders nie ein Stipendium für diese Uni erhalten, dabei hätte sie es definitiv verdient.

Ian wusste von den Eckpunkten ihres Lebens. Kannte die Fakten. Aber Emily gewährte ihm Einblick, die ein Privatermittler nie herausbekommen hätte. Ihre Gefühlswelt.

"Warst du schon mal in Europa?", fragte sie und wechselte somit von selbst schnell wieder das Thema und Ian würde sie niemals mit ihrem Trauma quälen.

Ian nickte während er es einfach genoss, sie im Arm zu halten. Irgendwann hatte Emily sich beim Erzählen an ihn gelehnt und er konnte das warme Ziehen in seiner Brust nicht beschreiben, dass ihm seither erfüllte.

Er war nie ein Freund von großen Körperkontakt gewesen, aber Emily gehörte definitiv zu der anhänglichen Sorte Mensch und merkwürdigerweise störte ihn das kein bisschen. Ganz im Gegenteil. Er liebte es, mit den Fingern durch ihre Haare zu gleiten und die tausenden Farbnuancen darin zu analysieren.

Sie hatte schöne Haare, ein Mischung aus extrem hellen braun und Gold, die definitiv echt waren, denn er erkannte aus dieser Nähe dass auch ihre Wimpern am Ansatz diesen Ton hatten und lediglich der Mascara sie überhaupt sichtbar machte. Eine Naturblondine.

"Ja. Einige Male, aber nie wie du. Nie zum Vergnügen", gestand er und ließ wieder einen ihrer Strähnen durch seine Finger gleiten.

"Habt ihr als Kinder nie Urlaub gemacht? Mit der Familie, meine ich?" Und wieder schüttelte Ian den Kopf.

"Nie die Ganze. Mein Vater war immer arbeiten und meine Mutter ist zu labil seit Lolas Geburt. Ich war als Kind auf einem Internat, genau wie meine Schwester und habe meine Eltern nur wenig gesehen", meinte er und Emilys Blick wurde traurig.

Aus ihrer Sicht musste er wirklich eine traurige Kindheit gehabt haben, aber das war sie nicht immer. Die Sommerferien Zuhause haben ihm immer Freude bereitet. Lola war da und Nathan hatte die Wochen ebenfalls im Haus seiner Eltern verbracht. An sonnigen Tagen hatte seine Mutter draußen gelegen und so etwas von ihrer Melancholie abgelegt. Er war glücklich gewesen, soweit er sich erinnern konnte.

Doch jetzt, wo er all die Geschichte von Emily gehört hatte, sehnte er sich nachträglich nach einer normalen Kindheit.

"Ich würde meine Kinder nie auf ein Internat schicken, das kann nicht gesund sein.", meinte Emily und Ian senkte sein Gesicht in ihr Haar. Es roch gut, er könnte in diesem Duft ertrinken und es wäre der glücklichste Tod überhaupt.

"Als Junge fand ich es schwer. Ab der Highschool fand ich es gut. Es sorgt für Selbstständigkeit", meinte er und Emily runzelte wieder die Stirn und legte ihren Kopf so weit in ihren Nacken, bis er auf seiner Brust ruhte und sie ihn ansehen konnte.

"Willst du damit sagen, ich sei unselbstständig?" fragte sie provokant und Ian zuckte mit den Schultern.

"Du wohnst noch immer Zuhause, also vielleicht ein bisschen, aber ich finde es schön, dass du dich mit deiner Familie so gut verstehst", meinte er und Emily prustete.

"Pah! Momentan bin ich ziemlich wütend auf meine Mutter. Obwohl sie mir immer in den Ohren gelegen hat, dass ich wieder auf Dates gehen solle, legt sie mir nun Steine in den Weg. Ich verstehe sie einfach nicht", meinte sie und Ian lächelte in sich hinein, ohne darauf etwas zu erwidern.

Was sollte er auch dazu sagen? Dass es wohl doch an ihm lag? Wahrscheinlich. Aber er hoffte, dass sich das legen würde, denn er wollte nicht mehr auf Emily verzichten. Diese Wärme, die sie versprühte, diese Unbefangenheit, wenn es um Geld ging, diese Familie. Einfach alles davon.

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