Daneben

Kapitel 17

Emily

Für eine Sekunde war sie wieder in diesem Wagen.

Das Kreischen der Räder, die versuchten zum Stehen zu kommen, die zwei großen Lichtkegel, die das kleine Auto ihres Bruders erfassten und etwas seitlich, aber ziemlich frontal in sie hineinfuhren. Der Wagen wurde von der Straße gedrängt. Die Gewalten waren so mächtig, dass er für einen kurzen Moment zu schweben schien. Emily spürte wie die Fliegkräfte an ihren Körper rissen und der Gurt des Wagens in ihre Schulter und Hüfte einschnitten, während der Wagen sich überschlug. Das tosende Geräusch ihrer eigenen Schreie vermengten sich mit den dem Lärm des sich verbiegenden Metalls sich und der Klang vom brechendem Glas. Der Airbag öffneten sich und ließen mit einem Knall ihre Ohren klingeln. Emily konnte nur darauf hoffen, dass das alles endlich vorbei war, das Auto zum Stehen kam und all der Lärm endete.

Als es so weit war und die Stille sie wie ein Schleier umspülte, spürte sie Schmerz. Ihr Kopf dröhnte, ihre Ohren taten weh und irgendetwas drückte so fest gegen ihre Beine, dass sie langsam taub wurden. Wie tausende Ameisen begann ihre Zehen bereits zu prickeln. Doch nichts davon war so entsetzlich wie der Anblick des komplett rot gesprenkelten Innenraums, der sich ihr offenbarte, als sie es endlich schaffte, ihre Lieder zu heben.

Das leise gurgelnde Geräusch neben ihr sorgte dafür, dass sie trotz besseren Wissens zu ihren Bruder hinüber drehte. Er sah sie an. Er sah mit einem Blick an, den sie nie wieder vergessen würde.

Max sah nicht ängstlich aus, nicht als würde er schmerzen leiden, während das Stück Metall in seinem Hals ihn dazu brachte an seinem Blut zu ersticken.

Entsetzt und vollkommen unfähig sich zu bewegen, sah Emily dabei zu, wie ihr Bruder starb. Sie war nicht mal dazu in der Lage ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebte und dass sie ihn vermissen würde. Stattdessen sah sie einfach eingeklemmt da und tat nichts. Sie hatte ihm nicht geholfen, ihm nicht beruhigt und einfach dabei zugesehen, wie er starb.

Während Emily schrie, sah sie wieder die Blutspränkeln auf der zerborstenen Windschutzscheibe, hörte das Gurgeln von Max letzten Atemzügen und wollte alles, nur nicht mehr hier in diesem Wagen sitzen. Rein rational wusste sie natürlich, dass es nicht gut war, Autofahrten zu vermeiden, gerade weil sie ein Trauma davongetragen hatte, den jedes Motorengeräusch wieder in ihr wachzurufen schien. Es war auch nicht besonders clever nach dem Öffnungsmechanismus der Beifahrertür zu reifen und panisch in den Regen hinauszurennen.

"Was...Emily!" schrie Ian Cunningham ihr nach, aber das war auch das Einzige, was sie von ihm hörte. Ansonsten war da nichts weiter als quietschende Reifen und das Röcheln in ihren Ohren. Sie spürte nicht einmal den Regen auf ihrer Haut, zumindest nicht am Anfang.

Als ihre Beine nach wenigen Schritten anfingen zu wackeln und ihre Knie unter ihr nachgaben, weil sie alles andere als dazu bereit waren zu rennen, schlug sie hart auf den gepflasterten Platz des Campus auf. Der Schmerz, der dem von damals, so ähnelte und dennoch tatsächlich ihren Körper erschütterte und sich nicht nur in ihrem Kopf befand, riss sie aus ihrer Panikattacke und verankerte sie im hier und jetzt.

"Emily!" hörte sie Ians Stimme wieder, der ihr scheinbar hinterhergerannt war und dann plötzlich neben ihr auf dem kalten Stein hockte und einen Arm um sie schlang.

"Alle in Ordnung? Hast du dich verletzt?" fragte er und wie in Trance sah Emily zu ihm auf. Seine Haare waren mittlerweile pechschwarz und klebten ihm am Kopf, der Mantel war an seinen Schultern dunkler geworden und als er nach ihren Händen griff, mit denen sie ihren Sturz abgefangen hatte, spürte sie auch in ihnen den Schmerz. Ian griff nach ihren Händen und betrachtete sie, während Emily ihren Blick nicht von Ian nehmen konnte. Er war hier. Warum war er noch hier?

"Nur Abschürfungen. Komm, du musst wieder ins Auto!"

"Nein!" kreischte sie fast hysterisch und begann am ganzen Leib zu zittern. Teils wegen der Kälte, teils weil sie einfach nur Angst hatte. Seit dem Unfall hatte sie sich von Fahrzeugen ferngehalten, sich dabei aber stets eingeredet, dass es eigentlich kein Problem war, wenn es doch mal notwendig sein würde in einem Zu sitzen. Nur deswegen hatte sie auch gestern Abend noch zugestimmt sich von Danny zum See fahren zu lassen, um dabei zu sein, wenn Max ehemalige Freunde in gedachten. Und jetzt? Jetzt trieb nicht mal kalter Regen sie auch nur in die Nähe eines dieser Fahrzeuge.

"Okay. Beruhig dich erstmal", versuchte es Ian sanft und dabei so geduldig, dass sie sofort ein schlechtes Gewissen bekam. Er hatte ja recht. Sie musste aus dem Regen heraus, sie musste...sich zusammenreißen.

"Tut mir leid", brachte sie hervor. Einer von Ians Mundwinkeln zuckte erfreut und brachte ihr Herz für einen kurzen Moment zu stolpern. Was zum...

"Schon gut, aber wir müssen zu Wagen. Kannst du aufstehen?" fragte er und als sie nickte, half er ihr dabei auf die Beine zu kommen. Noch immer waren ihre Knie wackelig und hätte Ian nicht diesen Arm um ihre Hüfte geschlungen, wäre sie sicher sofort wieder in sich zusammen gesunken. Doch er hielt sie.

Instinktiv drückte sich Emily näher an seinen Körper und war überrascht wie viel Hitze er verströmte, obwohl er doch ebenfalls frieren musste. Es war, als würde man sich eine Heizung pressten. Warm, angenehm und fest. Emily spürte die Muskeln unter diesem überteuerten Mantel, als sie sich festhielt und vertrieb den nächsten Gedanken sofort wieder aus ihrem Kopf. Sie hatte eine Panikattacke gehabt, heute war der Todestag ihres Bruders und das letzte, mit dem sie sich beschäftigen sollte, waren die Muskeln unter Ians Haut.

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